Übersprungbewegung
Als Übersprunghandlung wird in der Ethologie eine Verhaltensweise bezeichnet, die in Situationen auftritt, in der sie vom Beobachter nicht erwartet wird.
Zitat: „Diese Bewegungen scheinen irrelevant in dem Sinne zu sein, dass sie unabhängig vom Kontext der unmittelbar vorhergehenden oder folgenden Verhaltensweisen auftreten." (Nikolaas Tinbergen 1952)
Gedeutet werden solche „unpassend“ erscheinenden Verhaltensweisen zum Beispiel als Anzeichen einer Konfliktsituation, in der die Fortführung der zuvor beobachtbaren Verhaltensweise – zumindest zeitweise – nicht möglich ist und statt dessen eine Verhaltensweise gezeigt wird, die (der Theorie zufolge) aus einem völlig anderen Funktionskreis des Verhaltensrepertoirs stammt.
Synonyme
Übersprungshandlung, Übersprungverhalten, Übersprungbewegung
Beispiele
Das wohl am häufigsten angeführte Beispiel bezieht sich auf Beobachtungen an gleich starken Hähnen, die miteinander ihre Hackordnung auskämpfen: Plötzlich pickt einer der beiden auf dem Boden umher, als würde er Futter aufnehmen, und häufig folgt der andere umgehend dem Vorbild des Rivalen. Gedeutet wird diese Situation im Rahmen der von Konrad Lorenz entwickelten Triebtheorie als Ausdruck für eine gleich starke Kampf- und Flucht-Motivation (Handlungen A und B), was als Übersprungverhalten „Futterpicken“ (Handlung C) hervorrufe. Nach einem solchen „Zwischenspiel“ wird der Kampf in der Regel fortgesetzt.
Von Lachmöwen-Männchen berichtet Tinbergen, dass sie – vergleichbar den Hähnen – einen Kampf gelegentlich gleichzeitig unterbrechen und die Bewegungsweise des Grasabrupfens zeigen, ohne dabei aber Gras abzurupfen. Grasabrupfen ist - Tinbergen zufolge – eine Bewegungsweise, die dem Funktionskreis des Nestbauens zuzuordnen ist. Es sei keine Verhaltensweise des Kampfes, und wenn sie in diesem Zusammenhang auftritt, dann sei sie ohne jede Funktion ("irrelevant") und somit eine Übersprunghandlung.
Ein weiteres, vielfach zitiertes Beispiel stammt aus dem Fortpflanzungszyklus der Stichlinge: Wenn das Weibchen Eier abgelegt hat, fächelt das Männchen am Nest häufig und intensiv mit seinen Flossen. Als Schlüsselreiz für diese Triebhandlung gelten die im Nest befindlichen Eier. Tritt dieses Fächeln bereits während der Werbung um ein Weibchen auf oder während des Nestbaus (wenn also noch keine Eier vorhanden sind), so wird es als Übersprungverhalten eingeordnet.
weitere Beispiele:
- Seeschwalben führen Putzbewegungen durch, wenn sie in Konflikt zwischen Brutpflege und Flucht oder Flucht und Angriff sind.
- Honigbienen putzen sich am Futterplatz, wenn sie in Konflikt zwischen Bleiben oder Aufsuchen eines neuen Futterplatzes sind.
- Austernfischer vor einem Spiegel führen Schlafbewegungen im Konflikt zwischen Angriff und Flucht aus.
- Gern zitiert wird schließlich auch das Verhalten von Homo sapiens, der sich zum Beispiel gelegentlich im Auto verlegen am Kopf kratzt, wenn er nicht weiß, ob er nach der Ampel rechts oder links abbiegen soll. Ähnlich verhält sich manch ein Redner vor einem größeren Publikum, der einerseits motiviert ist, das Publikum anzusprechen, andererseits (besonders bei Unsicherheit) sich der Situation am liebsten durch Flucht entziehen möchte. Als "irrelevante" Handlungen führt er diverse Putzbewegungen aus: sich über die Haare streichen, Brille auf- und absetzen, Brille putzen, an den Manschetten zupfen, Staub von der Kleidung wischen, Papiere ordnen ...
Modelle zum Übersprungverhalten
Übersprunghypothese
Die von Tinbergen um 1940 entwickelte Übersprunghypothese geht davon aus, dass immer dann, wenn die "Entladung" einer aktionsspezifischen Erregung, also des aktivierten Triebes, nicht möglich ist, ein anderes – aber immer gleiches – Bewegungsmuster hervorgebracht wird. Laut Tinbergens "Instinktlehre" von 1952 zeige ein Tier dann Übersprungverhalten, "wenn bei sehr starkem Trieb ... die Außensituation nicht hinreicht, um die Endhandlung auszulösen". Dies bedeutet in der Konsequenz, dass diesem Modell zufolge eine Verhaltensweise C einerseits (und in der Regel) von ihrer spezifischen Erregung ausgelöst wird, andererseits aber auch (gleichsam durch das Überspringen einer "Fremderregung") durch Verhaltensweise B ausgelöst werden kann: nämlich dann, wenn Verhaltensweise B zum Beispiel aufgrund fehlender Schlüsselreize blockiert ist und daher ein "Erregungsstau" auftritt.
Enthemmungshypothese
Im Unterschied zur Übersprunghypothese wird in diesem Erklärungsmodell die Übersprunghandlung durch eine eigene Energie aktiviert. Die Enthemmungshypothese basiert auf der Annahme, dass ein bestimmter Trieb auf andere Triebe eine hemmende Wirkung ausüben kann; wenn eine bestimmte Instinkthandlung gerade durchgeführt werde, unterbinde sie alle anderen Instinkthandlungen, um ein ständiges Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Verhaltensweisen zu vermeiden. Die weitergehende und für das "Funktionieren" der Enthemmungshypothese entscheidende Annahme besagt, dass sich bestimmte Triebe wechselseitig hemmen können. Ist deren Stärke ungefähr gleich groß, so bedeute dies, dass sie sich gegenseitig vollständig blockieren: Weder die eine noch die andere Handlungsweise könne dann auftreten. Eine solche gegenseitige Hemmung zweier Antriebe habe zur Folge, dass eine gegenüber einem dritten Trieb bestehende Hemmung aufgehoben werde. Die diesem dritten Trieb zugeordneten Bewegungsmuster können dann aufgrund der Enthemmung in Erscheinung treten und werden als Übersprungbewegungen interpretiert.
Allgemeiner formuliert (nach Bernhard Hassenstein 1980): Antrieb A und B hemmen einander gegenseitig; Verhaltensweise B hemmt – wenn sie auftritt (!) - zusätzlich auch den Antrieb für Verhaltensweise C; da Verhaltensweise B aber nicht auftreten kann, so lange sie von A blockiert wird, tritt Verhaltensweise C auf.
Kritische Anmerkungen zu den Modellen des Übersprungverhaltens
Beide Modelle zum Übersprungverhalten können als originelle Fortentwicklung der älteren "psychohydraulischen" Verhaltensmodelle hin zu moderneren, an elektrischen Schaltkreisen orientierten Modellen eingeordnet werden. Der entscheidende Gedanke all dieser Modelle war, dass tierisches Verhalten nicht rein reaktiv ist, wie es in den 1930er Jahren von den Behavioristen behauptet wurde; betont wurde vielmehr die Spontaneität des Verhaltens. Man ging davon aus, dass es spontan aktive Nervenzellen im Gehirn gebe, die Erregung - Energie - produzieren und so ein Tier veranlassen, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen.
Gleichwohl handelt es sich beim Modell des Übersprungverhaltens um eine extrem kuriose Konstruktion:
- alle Beispiele für Übersprungverhalten beruhen auf dem vom Beobachter zu treffenden Werturteil, eine Verhaltensweise sei in einer bestimmten Situation "irrelevant": also nicht zweckdienlich, eine bloße Unterbrechung der "eigentlichen" Handlung und insofern "biologisch nicht sinnvoll" (Lorenz 1935);
- wenn "bei sehr starkem Trieb" die Außensituation des Tieres nicht hinreicht, "um die Endhandlung auszulösen", müsste man bei Zugrundelegung der Lorenzschen Theorie statt einer Übersprunghandlung eigentlich zwingend erwarten, dass eine Leerlaufhandlung auftritt.
Nun liegt jeder Beobachtung bereits ein theoretisches Konzept zugrunde, denn stets kann man sich die Frage stellen: Warum beobachte ich speziell diese Dinge und nicht alle andere Dinge, die dem Objekt auch zu eigen sind. Gegen die Übersprunghypothese aber lässt sich allein schon unter Zugrundelegung der Lorenzschen Instinkttheorie zusätzlich einwenden, dass die Theorie jede Instinkthandlung ja gerade auf aktionsspezifische (!) Energie zurückführt – dieses Grundprinzip der Theorie wird hier jedoch aufgegeben: Wozu taugt aber eine Theorie, wenn sie bereits immanent widersprüchlich ist?
Als gänzlich unbrauchbar erweist sich das Konzept des Übersprungverhaltens auch aus einem eher wissenschaftstheoretischen Blickwinkel: Es gibt nämlich kein Messverfahren, um die von Lorenz und anderen postulierten Schwankungen eines Antriebs fortlaufend zu messen, und schon gar kein Verfahren, um die Intensität von zwei oder gar drei Antrieben zeitgleich zu erfassen. Nur unter dem Gesichtspunkt einer gleichzeitigen Messbarkeit wäre aber beispielsweise eine Überprüfung der Enthemmungshypothese möglich. "Damit sind diese Hypothesen nicht mehr als phantasievolle Überlegungen Einzelner, die unter Anwendung des Lorenzschen Triebkonzeptes eine 'Erklärung' des in Rede stehenden Phänomens nur vortäuschen." (Zippelius 1982)
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur Lorenz und Tinbergen, sondern auch noch Klaus Immelmann in den 1980er Jahren die Auffassung vertraten, eine als Übersprungbewegung klassifizierte Verhaltensweise erfülle "nicht die normale biologische Funktion", für die sie "im Verlauf der Stammesgeschichte entwickelt wurde" (Immelmann 1983, S. 53). Dieses Werturteil kann als eine für Naturwissenschaftler ungewöhnlich anmaßende Behauptung eingeordnet werden, zumal – ähnlich wie beim Konzept der Leerlaufhandlung - nicht nachvollziehbar ist, welchen evolutiven Vorteil Verhaltensweisen haben sollen, die regelmäßig, aber völlig grundlos auftreten und daher eine gewaltige Vergeudung von Energien darstellen würden.
Wie unstimmig das Konzept der Übersprunghandlung ist, erweist sich übrigens schon bei genauer Lektüre der Arbeiten von Konrad Lorenz. Ihm war nämlich durchaus aufgefallen, "dass Übersprungbewegungen so überaus häufig durch Ritualisierung zu Signalen werden, die dem Artgenossen des Tieres seinen inneren Konflikt bekannt geben. Es ist geradezu schwer, Beispiele von Übersprungbewegungen zu finden, die nicht Signalwirkungen entfalten..." (Lorenz 1978, S. 202f). Wenn aber diese sogenannten Übersprunghandlungen soziale Signale sind, dann haben sie durchaus eine Funktion in dem Kontext, in dem sie beobachtet werden. "Unerwartet sind sie dann nur noch für den Beobachter, der sie nicht versteht, d.h. sie nicht interpretieren kann." (Zippelius 1992)
Das oben erwähnte Beispiel der kämpfenden Hähne (von denen einer plötzlich auf dem Boden umher pickt, als würde er Futter aufnehmen), kann beispielsweise sehr plausibel als soziales Signal gedeutet werden, das dem Rivalen möglicherweise anzeigt: schau, ich fühle mich so stark, dass ich selbst in dieser prekären Situation noch Futter aufnehmen kann.
Literatur
- Hassenstein, Bernhard: Instinkt, Spielen, Lernen Einsicht. Einführung in die Verhaltensbiologie. München, 1980.
- Immelmann, Klaus: Einführung in die Verhaltensforschung. Berlin: 3. Aufl. 1983
- Lorenz, Konrad: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Journal für Ornithologie 83 (1935)
- Lorenz, Konrad: Vergleichende Verhaltensforschung. Grundlagen der Ethologie. Wien, New York: 1978
- Tinbergen, Nikolaas: Derived activities: their causation, biological significance, origin and emanzipation during evolution. Quart. Rev. Biol. 27, (1952), 1-32
- Zippelius, Hanna-Maria: Die vermessene Theorie. Braunschweig: 1992, S. 249 ff.
siehe auch: Verhaltensbiologie, Psychologie