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Heliand

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Der Heliand ist ein altsächsisches Großepos. In fast sechstausend stabreimenden Langzeilen erzählt dieses Epos das Leben Jesu Christi. Diese sind in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts entstanden, einige Quellen datieren sie auf etwa das Jahr 830. Das Werk erhielt seinen Titel durch J. A. Schmeller der 1830 die erste wissenschaftliche Textausgabe veröffentlichte.

Diese Evangelienharmonie wurde wahrscheinlich von einem Geistlichen im Umfeld der Fuldaer Schule verfasst. Sie ist neben der altsächsischen Genesis die einzige Großdichtung dieser Zeit und steht in der Traition der Evangelienharmonie des Tatian.

Erhalten ist das Werk in zwei fast vollständigen Handschriften, die eine befindet sich in München, die andere in der British Library in London, sowie in drei kleineren Makulaturblättern in Berlin, in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek und in Straubing. Im Frühjahr 2006 wurde ein weiteres Fragment aus dem 9. Jahrhundert in der Bibliotheca Albertina in Leipzig gefunden.


Verskunst, Stil und Hintergrund

Verskunst und Stil wurden vom Autor aus der angelsächsischen christlichen Epik übernommen. Gemäß dem Germanisten A. Heusler war es das Werk eines „begnadeten Stilisten und größten Sprachmeister unter den schreibenden Stabreimdichtern“. Der Heliand sei nicht der tastende Anfang einer altsächsischen Literatur, sondern der krönende Abschluß und höchste Reife der Kunst.

Der Sprachstil, die Verskunst und die Vorstellungsweise der Charaktere sind germanisch, und entsprechen den Vorstellungen und Ausdrucksformen der Sachsen des 9. Jahrhunderts. Die Prägungen der germanischen Gesellschaft hinsichtlich der Gefolgschaft eines Stammesführers oder Königs gegenüber, ist an der Darstellung von Jesus und seinen Jüngern zu erkennen. Ebenso wirkt die Bergpredigtszene mit Christus auf dem Königsstuhl als Richter sitzend, umringt von seinen Jüngern wie ein germanisches Thing.

Der Heliand ist aber keinesfalls als germanisiertes christliches Lehrstück zu verstehen, sondern durch und durch christlich-biblisch. Der auf dem Esel in Jerusalem einziehende Jesus Christus, dessen Selbstentäußerung, die Tadelung von Ruhmsucht und Anhäufung von Reichtümern, der Verzicht auf das Ausüben von Rache, den Feind zu lieben, die Kampfeslust wird verurteilt und die Friedfertigkeit gepriesen, all das steht genau dem in heidnischer Tradition stehenden Verständnis eines germanischen Gefolgs- und Kriegsherrn gegenüber, der als strahlender Held verehrt wird. Keine christliche Lehre wird der sächsisch-germanischen Klientel aus Anpassungsgründen unterdrückt, allein die Bergpredigt mit seinen zentralen Aussagen nimmt ein Achtel des Gesammttextes ein.

Die Verratsszene im Garten Gethsemane:


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Dennoch wird Christus als strahlender Held dargestellt, als Herrführer und erhabener Fürst, seine Jünger als Gefolgsleute, Krieger die mit ihm eine Genossenschaft[1] bilden. Duktus und Darstellung des Lebens Christi und dessen Ergebenheit in ein obwaltendes Schicksal das nicht abwendbar, allenfals zu gestalten ist, zeigt deutlich den Bezug zum germanischen Schicksalglauben und der daraus folgenden Eingebundenheit des Individums in die Gemeinschaft, der Sippe. Der harte germanische Schicksalsglaube findet sich im Wortschatz des Heliand wieder. Der Name für das unerbitterliche Geschick, die „Wurt“, „wewurt“ „Wehgeschick“, tritt neben dem Heliand nur noch im Hildebrandlied entgegen. Der Zwiespalt zwischen germanischer Lebensauffassung und christlicher Weltanschauung verschiebt sich langsam zum weicheren, sanfteren christlich geprägten Wortschatz des dem Heliand folgenden Jahrhunderts. Im Heliand ist das Schicksal reyanogiskapu, Schöpfung ratender Mächte (Vers 2591 ff. „Das Ende der Welt“), methodogiskapu, Schöpfung der messenden, zumessenden und wurdigiskapu, schöpfung der Wurd. Durch alle germanischen Sprachen geht die Bezeichnung WURD, WURT[2](as. wurd, ahd. wurt, ags. wyrd, an. urðr) durch. Die Bedeutung ist Geschick, Verhängnis, Tod. Häufg ist Wurd persönlich gedacht und dem entsprechend eine Wendung gebraucht „Thiu Wurdh is at handun“. im Angelsächsischen heißt es: Wyrd me þæt gewæf, mir wob das Wyrd. Als ein Gewebe wird das Schlachtgeschick (wig spēda gewiof) bezeichnet. Vieleicht ist Wurd die Spinnerin (die Norne Urd). Von einem Nornenspruch (kviðr) und Urteil (dómr) zeigen die nordischen Sagas, das die Worte der Urd unwiderrufflich sind. Das Schicksal ist g. urlagu (ahd. urlag, as. orlag, ags. orlæg, afr. orloch, an. ørlog) das heißt Urgesetz. In zweifacher Weise dachten sich die Sachsen das Schicksal, als Urgesetz und als Gewebe. Das Schicksal richtet und webt über Götter und Menschen, es ist die geheimnisvolle, hohe macht, der selbst die Himmlischen unterworfen sind, also auch die der neuen christlichen Religion. Damit ist der Wurd eine bedeutungsvolle Stellung eingeräumt. Götter und Helden (Christus) vermögen sie nicht zu bezwingen noch ihr zu entfliehen, ihr sittlicher Wert beruht darin wie sie der Wurd begegnen. Wurd wird oft gleichbedeutend mit Tod verwendet (siehe oben), also das Eingreifen der Schicksalsgöttin im Tode zu erkennen. So heißt es im Heliand: Wurd nahm ihn weg, Wurd ist vorhanden und vergleichend im Beowulf: Wyrd nahm ihn weg, Wyrd war ihm sehr nahe.[3] Der germanische Mensch, und der Sachse als solches, misst der Sitte in der Gemeinschaft höheren Rang ein als den individuellen Glauben, und wird durch dieser in seinem Leben bestimmt. Der Glaube ansich ist für den Germanen in der christlichen Deutung nicht greifbar und bleibt unverständlich, wird der Begriff ersetzt durch den der Sitte ist er erfassbar[4]. Christus handelt nach dem Sitten, und erweist sich so dem germanischen Empfinden hinsichtlich gesellschaftlicher und rechtlicher Ordnung nach, für den sächsischen Betrachter als integer. Seine innere Haltung zum Tod, zu seinen Verfolgern zeichnet ihn gerade als Gefolgs- und Kriegsherrn aus, und entspricht diesem Typus des Führers der auch in den isländischen Sagas anzutreffen ist. Beispielhaft ist die Verleugnung des Petrus auch und gerade nach germanischem Rechtsempfinden eine Schuld. Die germanischen Züge des Heliand sind somit vielmehr Anschauungsformen die das Neue der christlichen Religion für den bisher in heidnisch-religiöser und gesellschaftlicher Tradition stehenden Germanen fassbar und lebbar machte .

Leseprobe

Vers 4537–4549 aus dem Abendmahl (â ê î ô û sind Langvokale, Þ ein 'weiches' th, ƀ wie w, uu wie englisches w):


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Siehe auch

Literatur

  • Johanna Belkin und Jürgen Meier: Bibliographie zu Otfrid von Weißenburg und zur altsächsischen Bibeldichtung (Heliand und Genesis), (= Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Band 7), Berlin 1975 ISBN 3-503-00765-2
  • Klaus Gantert: Akkommodation und eingeschriebener Kommentar. Untersuchungen zur Übertragungsstrategie des Helianddichters, (= ScriptOralia, Band 111), Tübingen 1998 ISBN 3-8233-5421-3
  • Klaus Gantert: Heliand (Fragment P), in: Peter Jörg Becker und Eef Overgaauw (Hgg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S.28-29
  • Andreas Heusler: Der Heliand in Simrocks Übertragung und die Bruchstücke der altsächsischen Genesis, Leipzig 1921
  • Hans Ulrich Schmid, Ein neues 'Heliand'-Fragment aus der Universitätsbibliothek Leipzig, in: ZfdA 135 (2006) 309-323. ISSN 0044-2518
  • Bernhard Sowinski: Darstellungsstil und Sprachstil im Heliand, (= Kölner germanistische Studien, Band 21), Köln 1985 ISBN 3-412-02485-6
  • Burkhard Taeger: Der Heliand: ausgewählte Abbildungen zur Überlieferung, (= Litterae, Band 103), Göppingen 1985 ISBN 3-87452-605-4
  • Roland Zanni: Heliand, Genesis und das Altenglische. Die altsächsische Stabreimdichtung im Spannungsfeld zwischen germanischer Oraltradition und altenglischer Bibelepik, (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N.F. 76 = 200), Berlin 1980 ISBN 3-11-008426-0
  • Giesbert Kranz: Europas Christliche Literatur von 500-1500; Verlag Schöningh, Paderborn 1968, ISBN 3-506-74814-9

Quellen

  1. Tacitus Germ. 13,2-4→comitatus, comites für die Gefolgsleute, und dux comitum, princeps für den Gefolgsherrn.
  2. Kluge: Wurd gehört zur indogerm. Wurzel ŭert (lat. vertere drehen, wenden, woraus ahd. wirt, wirtel, die Spindel.
  3. De Vries: Kapitel 4, „Das Harte Gesetz“ S.84 ff.
  4. J. De Vries: Die geistige Welt der Germanen