Dionysoskult
Dionysoskult
Der antike Gott Dionysos - von den Griechen meist Bakchos, von den Römern Bacchus genannt - hat eine exoterische und eine esoterische Erscheinungsform. Der exoterische Dionysos ist ein lustiger, harmloser Gott des Weines, der esoterische Dionysos dagegen ist ein Gott, wie er ernster gar nicht gedacht werden kann. Er ist der Gott der Unterwelt: Denn wäre es nicht Dionysos, dem sie den Umzug machen und das Lied singen vom Phallos, sonst ist es ganz schamloses Treiben. Ein und derselbe aber sind Hades und Dionysos, dem sie toben und feiern, sagt Heraklit [1].Offenbar weil Dionysos ein Gott der Unterwelt ist, wurde er von den Griechen ständig mit dem ägyptischen Osiris gleichgesetzt [2]. Der unterweltliche Dionysos, auf den sich Heraklit bezieht, ist der Gott eines Mysterienkultes. Es sind verschiedene lokale Formen des Dionysoskultes bekannt, darunter berfindet sich auch die schwer greifbare Orphik, die eine unfangreiche Literatur hinterlassen hat. Übrigens hat auch der Wein neben der exoterischen eine esoterische Bedeutung, nämlich die Bedeutung von "Blut".
Der delphische Dionysoskult
Eine wichtige Kultstätte des griechischen Dionysoskultes war der Tempel in Delphi, wo seltsamerweise Dionysos und Apollon als die beiden Aspekte, - um nicht zu sagen, als die beiden Namen - "des Gottes" schlechthin, verehrt wurden. Apollon, Gott des Efeus, der Bakchant, der Seher, sagt Aischylos; und Euripides spricht von dem Herrn Bakchos, Freund des Lorbeers, Apollon Paian mit der schönen Leier[3]. Im Tempel von Delphi, vermutlich unter dem Omphalos, befand sich auch das "Grab des Dionysos". Es gibt ein Vasenbild, auf dem sich Dionysos und Apollon über dem Omphalos die Hand reichen [4]. Plutarch sagt, Delphi gehöre Dionysos ebenso wie Apollon [5]. Man nahm an, dass der Tempel im Winter von Dionysos und im Sommer von Apollon bewohnt würde.
Eine andere Bemerkung Plutarchs deutet auf einen uralten Zusammenhang Delphis mit der Pubertäts- und Stammesinitiation. Plutarch berichtet von Theseus: Da es damals noch Sitte war, dass die Knaben beim Übertritt ins Mannesalter nach Delphoi gingen und dem Gott ihr Haar darbrachten, so ging auch Theseus nach Delphoi[6] (vgl. Isis- und Osiriskult zum Phänomen der Haarlocke des Knaben). Demnach scheint Delphi in archaischer Zeit so etwas wie das Zentrum der Pubertäts- und Stammesinitiation Griechenlands gewesen zu sein.
Die Feste in Delphi hatten meist einen mehr oder weniger geheimen Charakter und hingen mit dem Dionysoskult zusammen, wie Georges Roux ausführlich darstellt. Eines der wichtigsten Feste war die alle zwei Jahre stattfindende Trieteris, bei der sich die Thyiaden Athens und Delphis zu einer gemeinsamen nächtlichen Feier in den Bergwäldern des Parnaß vereinigten. Dieses (Fest) begann mit Tänzen und mit der Oribasie, dem ausgelassenen Lauf durch das Gebirge, in der Nacht bei Fackelschein... Dann verleibten sich die Thyiaden ihren Gott (Dionysos) durch ... die Omophagie ein, indem sie das rohe Fleisch eines lebendig gevierteilten Oopfers - gewöhnlich einer jungen Ziege - verschlangen [7]. Der Brauch wurde als das Suchen und Finden des Liknites, des "göttlichen Kindes in der Getreideschwinge" bezeichnet.
Das Theater in Delphi
Man hat längst beobachtet, dass alle griechischen Dramen einen Bezug zum esoterischen Dionysoskult haben. Es wird teilweise vermutet, dass sich das griechische Drama aus einem Mysterienspiel bei den dionysischen Mysterienfeiern entwickelt und diesen Charakter des Mysterienspiels mehr oder weniger beibehalten habe. Diese Theorie ist allerdings umstritten. Die Annahme liegt aber doch nahe, dass der alle vier Jahre stattfindende nationale Wettbewerb der griechischen Dichter in Delphi (s. pythische Spiele) mit dem dortigen Dionysoskult zusammenhängt. Im Theater von Delphi wurden wohl alle großen griechischen Dramen zu Ehren des Dionysos uraufgeführt.
Der thebanische Dionysoskult

Am besten bekannt sind die Mythen und Riten des thebanischen Dionysoskultes. Danach verführte Zeus in Stiergestalt die Königstochter Semele. Im Moment der Zeugung des Dionysos verbrannte Semele in den Blitzen des Zeus zu Asche, doch Zeus rettete den Embryo aus der Asche und nähte ihn in seinen eigenen Schnkel ein, sodass Dionysos schließlich "aus dem Schenkel des Zeus geboren" wurde. Er wuchs auf dem Olymp auf, wo er zuweilen auf den Thron des Zeus kletterte und das Blitzbündel seines Vaters in kindlicher Faust schwang, wie Nonnos erzählt [8]. Als aber Dionysos einmal gerade mit seinem Spielzeug beschäftigt war und nicht aufpasste, wurde er von den Titanen zerrissen und verschlungen. Zeus verbrannte daraufhin die Titanen mit seinen Blitzen zu Asche, und aus ihrer Asche, in der ja auch die Asche des Dionysos enthalten war, entstand das Menschengeschlecht [9].Auf Kreta wurde eine leicht abgewandelte Variante dieser heiligen Geschichte gepflegt. Auch auf Kreta verführte Zeus in Stiergestalt eine Jungfrau, hier hieß die Jungfrau aber nicht Semele, sondern Europa.
In seinem Drama "Die Bakchen" - heute das wichtigste Dokument zum Verständnis des Dionysoskultes - stellt Euripides das übliche Treiben der Bakchantinnen dar. Sie singen: O Lust für den, der im Bergwald in rasendem / Lauf stürzt hin auf den Grund, / Gehüllt ins heil'ge Hirschkalbfell, dürstend nach / Blut des getöteten Böckleins, nach rohem Genusse [10]. Aber hier werden nicht nur kleine Rehböcke zerrissen, die Bakchantinnen zerreißen auch Pentheus, den König von Theben. Es ist sogar die Mutter, die zusammen mit ihren beiden Schwestern als Bakchantin ihren eigenen Sohn zerreißt. Pentheus ruft umsonst: Erbarm dich, Mutter, töte ... nicht dein Kind! / Die aber, Schaum vorm Mund, die Augen hin und her wild rollend ... hörte nicht auf ihn. / Und packend mit den Händen ihm den linken Arm, / Gegen die Rippen tretend des Unseligen, / Riss sie heraus die Schulter ... Ino war auf der anderen Seite tätig usw. Als die Mutter endlich aus ihrer dionysischen Raserei erwacht, hält sie schon den abgerissenen Kopf ihres Sohnes in der Hand.
Im Drama erleidet Pentheus das gleiche Schicksal wie Dionysos. Dieses Schicksal wird ihm seltsamerweise von Dionysos zugefügt, aber entweder gilt Pentheus als der Prototyp des Novizen, der ja immmer die Leiden seines Gottes miterleiden muss, oder er ist ein älterer Gott, der mit Dionysos verschmolz, weil beide dasselbe Schicksal erlitten. Jedenfalls wurde die Zerreißung des Pentheus ebenso wie die Zerreißung des Orpheus als eine dramatisierte Form der Zerreißung des Dionysos selbst verstanden.
Dionysos und Kybele

Da es verschiedene lokale Formen des Dionysoskultes gab, so hat auch die Partnerin des Dionysos verschiedene Namen und heißt mal Semele, mal Europa, mal Demeter, mal Rhea usw.; deshalb gibt es auch verschiedene, jeweils nur bruchstückhaft überlieferte, mehr oder weniger widersprüchliche heilige Geschichten. Die Einheit in der Vielfalt der Kulte war aber jedermann klar. In seinem Drama "Die Bakchen" betrachtet Euripides nicht nur den thebanischen und den kretischen Dionysoskult, sondern auch den Dionysoskult insgesamt und den phrygischen Kybele- und Attiskult als vollkommen identisch. Ihm scheint überhaupt die Große Mutter Kybele als die eigentliche Partnerin des Dionysos vorzuschweben, denn Dionysos singt in seinem Einzugslied gleich am Anfang des Dramas: Selig, wer im hohen Glück / Um der Götter Weihen weiß ... / Wer sich haltend an der Großen / Mutter Kybele hohen Festbrauch, / Mit des Thyrsos wildem Schwingen / Sich - das Haupt eppichbekränzt - weiht / Ganz dem Dienst des Dionysos [11].
Orest im Tempel von Delphi

Man könnte fragen, was denn eigentlich den Dionysoskult so eng mit dem Kybele- und Attiskult verbindet. Die heilige Geschichte des Kybele- und Attiskultes dreht sich jedenfalls ganz unmißverständlich um den Geschlechterdualismus im engsten und im weitesten, letzten Endes kosmischen Sinn (vgl. Kybele). Um dieses Thema dreht sich jedenfalls auch das sehr beliebte, unter anderem von Aischylos auf die Bühne gebrachte Drama über Orest. Die "Orestie" gipfelt in einer häufig abgebildeten Szene: Der von den drei Erinnyen gejagte Orest flüchtet in den Tempel von Delphi und sitzt dort, das bloße Schwert in der Hand, auf den Stufen des Omphalos. Rechts neben ihm hocken die schlafenden Erinnyen, links von ihm steht Apollon. Das Bild wird als "Die Entsühnung des Orest" erklärt. Es stellt möglicherweise das Initiationssritual des delphischen Dionysoskultes dar.
Eine enge Beziehung dieser Szene zum Dionysoskult liegt unbestreitbar darin, dass die Erinnyen an ihrer Tracht als Mainaden, Thyiaden, "rasende Bakchantinnen" erkennbar sind. Die drei Erinnyen, Eumeniden, Musen, Moiren, Mütter, oder wie man sie sonst nennen will, sind überhaupt ein Markenzeichen des Dionysoskultes! Dionysisch ist auch der Omphalos, vor dem Orest sitzt, denn der Omphalos gilt als das "Grab des Dionysos". Von den Müttern gejagt, befindet sich Orest offenbar in derselben fatalen Lage wie Pentheus. Wird er von Apollon gerettet? Oder muss er vielleicht sterben, und erlangt er vielleicht mit Hilfe Apollons eine Wiedergeburt? Die "Orestie" wird jedenfalls von den Altphilologen ziemlich einhellig so erklärt, dass sie den Übergang der griechischen Gesellschaft "vom Matriarchat zum Patriarchat" behandele. Damit wird jedenfalls eine fundamentale Beziehung des Dramas zum Problem der beiden Geschlechter festgestellt.
Die Geschichte von Orest ist schnell erzählt: Orest hatte auf Befehl Apollons seine eigene Mutter Klytaimnestra getötet, weil nämlich diese seinen Vater Agamemnon getötet hatte. Nach seinem Muttermord wurde Orest von den drei Erinnyen verfolgt und gequält, sodass er schließlich im Tempel von Delphi bei Apollon Zuflucht suchte. Die Pointe der ganzen Geschichte liegt nun in dem Zusammenstoß der drei Erinnyen mit Apollon. Die Erinnyen sprechen von Mord und dürsten nach Rache. Aber auch Apollon verhält sich auffallend parteiisch, er steht bedingunglos an der Seite von Orest und weicht und wankt nicht in dessen Verteidigung. Man sieht nun gewöhnlich in den Erinnyen die Vertreterinnen einer vergangenen "matriarchalischen" und in Apollon den Anwalt einer neuen "patriarchalischen" Epoche.
Aber die "matriarchalische" Epoche ist durch nichts erwiesen, sie ist immer nur eine Hypothese zur Erklärung von Mythen. John Frazer und seine Schule gehen soweit, aus dem Dionysoskult auf eine Zeit zu schließen, als eine mächtige Königin in jedem Frühling einen Beischläfer zum König ernannte und ihm im Herbst zur Förderung der Fruchtbarkei des Landes opferte - vielleicht bei lebendigem Leibe zerriss und roh verspeiste. Das ist eine extrem zugleich rationalistische und phantastische Art von Geschichtsschreibung! Die Zerreißung und Verschlingung des Dionysos, Orpheus, Pentheus, Orest ist offensichtlich - wie die Verschlingung des Jonas durch den Walfisch oder wie die Verschlingung von "Rotkäppchen" durch den Wolf - nur die ewige Geschichte der Pubertäts- und Stammesinitiation (vgl. Initiation, Pubertäts- und Stammesinitiation, Mysterieninitaition), und dabei muss naturgemäß die Abgrenzung der beiden Geschlechter eine fundamentale Rolle spielen. Pubertäts- und Stammesinitiation heißt Mannwerdung des Novizen, heißt Polarisierung des männlichen und des weiblichen Geschlechts.
In der Geschichte von Orest kommt es schließlich zu einer förmlichen Gerichtsverhandlung vor dem Areopag in Athen mit Athene als Richterin, den Erinnyen als Klägerinnen und Apollon als Verteidiger. Hier liefert nun Apollon das entscheidende Argument zugunsten seines Mandanten: Nicht ist die Mutter des Erzeugten, "Kind" genannt, /Erzeugrin - Pflegrin nur des neugesäten Keims. / Es zeugt der Gatte; sie dem Gast Gastgeberin, / Hütet den Sproß, falls ihm nicht Schaden wirkt ein Gott [12]. Mit anderen Worten: Der Mann hat gar keine Mutter, er hat nur einen Vater, er kann daher auch kein Muttermörder sein! Das erinnert an ein Goldplättchen, mit dem ein Eingeweihter des Dionysoskultes begraben wurde, und das die Inschrift trägt: Ich bin ein Sohn der Erde und des gestirnten Himmels, aber meinem (männlichen) Geschlecht nach gehöre ich zum Himmel allein ...[13]. Dieser Mann sah offenbar das Wesen seiner Einweihung in der Abgrenzung gegen das weibliche Geschlecht. Deshalb musste sein Gott aus dem Schenkel des Zeus geboren und damit so weit wie irgend möglich mutterlos sein! Mit der Asche des Dionysos und der Asche der Titanen in der menschlichen Natur sind wohl auch das männliche und das weibliche Geschlecht gemeint. Aber die Abgrenzung der beiden Geschlechter läuft im Dionysoskult ebensowenig wie in den anderen Mysterienkulten auf Streit, sie läuft im Gegenteil auf die Heilige Hochzeit hinaus. Die "Orestie" schließt mit einem feierlichen, fröhlichen Bund des Staates der Athener mit den in der heimatlichen Erde hausenden Müttern.
Ergebnis
Wie im Kybele und Attiskult - wie auch im Isis- und Osiriskult (vgl. die Theorie Plutarchs) - so muss auch im Dionysoskult der männliche Himmel die weibliche Erde mit seinem Blut befruchten, damit das beseelte Universum entstehen kann. Aber dieser Himmel erfährt eine Auferstehung in dem zum Mann und zum Staatsbürger verwandelten Novizen. So auferstanden, feiert der Himmel schließlich die Heilige Hochzeit mit der Mutter Erde.
Einzelnachweise
- ↑ Heraklit, Fragmente 15
- ↑ z.B. Herodot, Historien II, 42. 48. 61. 132. 144. 170
- ↑ Aischylos, Fr. 341. - Euripides, Fr. 477, Nauck2, zitiert von Georges Roux, Delphi, Orakel und Kultstätten, München 1972, S. 161
- ↑ G. Roux, Delphi, Abb. 52
- ↑ Plutarch, De E apud Delphos 9,388
- ↑ Plutarch, Große Griechen und Römer, Theseus 6
- ↑ Georges Roux,Delphi, S. 163.
- ↑ Nonnos, Dionysiaka, übers. v. Thassilo v. Scheffer, München 1929, VI,167
- ↑ K.C. Guthrie, Orpheus and the Greek Religion, London 1952 S. 162
- ↑ Euripides, Die Bakchen 135
- ↑ Euripides, Die Bakchen 77
- ↑ Aischylos, Eumeniden 657
- ↑ E. Buonaiutti, Erlösung in der orphischen Mysterienreligion, in: Eranos-Jahrbuch 1934, S. 125