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Matriarchat

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Ein Matriarchat (von lat. mater - Mutter und griech. arché - Beginn/Ursprung; auch Herrschaft) ist eine gynozentrische Gesellschaftsstruktur, in der - je nach der verwendeten Definition - die Frauen die Macht innehaben, oder die frauenzentriert ist, d. h. sich die Gesellschaftsordnung um die Frauen herum organisiert. (Vgl. den Kontrastbegriff Patriarchat.) Kriterien und Definitionen, wann eine Gesellschaft als matriarchaisch und wann sie als patriarchaisch eingestuft wird, sind strittig.

Für Vertreter des differentialistischen Zweiges der Frauenbewegung und des phylosophischen Marxismus bedeutet das Matriarchat eine von den meisten Historikern bestrittene Zeit der Ur- und Frühgeschichte, in der die Frauen geherrscht haben sollen ("arché" also im Sinne von "Herrschaft"); sozusagen als theoretischer Gegensatz zum Patriarchat, dem Vaterrecht. Bei den Theorien, die in diesem Bereich anzutreffen sind, vermischen sich oft utopische Elemente mit historischen Fakten. Fakt ist: Gesellschaften mit Frauenherrschaft hat es, nach heutigem Stand der Wissenschaft, wenn, dann nur als temporäre historische Ausnahmeerscheinungen gegeben (siehe Amazonenvölker), jedoch nie als stabile, dauerhafte Gesellschaftsform.

Von dieser Theorie des "Matriarchats" zu unterscheiden sind matrilokale sowie matrilineare Ackerbaukulturen, denen heute weltweit ungefähr 240.000 Menschen angehören. Die Matriarchatsforschung ist ein relativ junger, interdisziplinärer Forschungszweig, der sich mit der Ergründung dieser Völker beschäftigt. Werden diese Völker als "Matriarchat" bezeichnet, dann nicht im Sinne von Frauenherrschaft sondern im älteren Wortsinn des griechischen arché, d. h. im Sinne von "am Ursprung die Mutter".

Die Vorstellung vom Matriarchat

Die Idee einer von Frauen dominierten Gesellschaft hat insbesondere die Menschen in stark patriarchal geprägten Kulturen immer wieder fasziniert und geängstigt. Vorstellungen von Völkern, in denen Frauen herrschen und die Männer ebenso unterdrücken, wie es an einigen Orten umgekehrt der Fall war, kommen in den Legenden und Mythen vieler Völker seit der Antike vor (siehe z.B. Amazonen).

Wissenschaftlich dokumentierte "matriarchale" Gesellschaften: Der Forschungsgegenstand der Matriarchatsforschung

Die von der modernen Matriarchatsforschung untersuchten matrilinearen und matrilokalen (auch: uxorilokalen) Kulturen sind sehr unterschiedlich. Die Wissenschaftlichkeit dieser Forschung und ihrer Ergebnisse ist strittig. Um die Matriarchatsforschung auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, wurden diverse Definitionen statuiert, woran man ein Matriarchat erkennt und was es vom Patriarchat unterscheidet. Die bekanntesten Definitionen stammen von Heide Göttner-Abendroth, die im deutschsprachigen Raum momentan wohl bekannteste Forscherin zum Thema, und Cäcilia Rentmeister. Von anderen Autoren werden andere Definitionen genannt.

existierende Matriarchate

Alle heute als Matriarchat bezeichneten Gesellschaften weisen durch die Interaktionsprozesse mit umliegenden Kulturen und durch koloniale Vereinnahmung nur noch wenige Züge der bisherigen Kultur auf. Die folgende subjektive Bewertung bezieht sich vor allem auf den Idealtypus:

  • Die Garo leben im Nordosten Indiens. Repressives Matriarchat, in dem Männer entführt und einer Zwangsheirat zugeführt werden dürfen.
  • Die Juchitán leben in Mexiko. In dieser Kultur haben Frauen eine dominante ökonomische und soziale Position. Während Männer weniger respektierte Arbeiten in Landwirtschaft, Fischerei oder Handwerk übernehmen, treiben die Frauen Handel und machen Geldgeschäfte. Bei den Festen haben die heterosexuellen Ehemänner der Frauen einen sichtbar unterprivilegierten Status. In Folge der Geringschätzung der Männer hat sich ein drittes Geschlecht von so genannten Muchas herausgebildet; manche davon genießen durch besondere Arbeiten wie Goldschmiederei und Gewandstickerei besonders hohes Ansehen. Sie haben die selben Privilegien wie die Frauen.
  • Die Minangkabau leben auf Sumatra. Sanftes Matriarchat, das stark auf Ausgleich achtet.
  • Die Tharu leben in Süd-Nepal. Sanftes Matriarchat, das unter starker Benachteiligung der Zentralregierung leidet. Sie sind vom Aussterben bedroht.
  • Die Warao leben in Venezuela. Sanftes Matriarchat, das dieser Volksgruppe unter den Indigenas eine Sonderstellung einräumt. Beim täglichen Essen wird der Mann zuletzt bedient - und nicht selten bekommt er auch nichts. Männer sind dazu verpflichtet, weibliche Angehörige, auch die angeheirateten, zu unterstützen. Alte, alleinstehende Männer ohne weibliche Nachkommen werden nicht unterstützt.

Matriarchate der Vergangenheit

Der römische Historiker Gaius Cornelius Tacitus erwähnt in seinem Werk Germania den Volksstamm der Sitonen, die nördlich der Schweden leben und diesen in allem gleichen, außer, dass sie von einer Frau beherrscht werden und zur Knechtschaft degeneriert seien. Ob es sich bei den Sitonen um ein Matriarchat gehandelt hat, ist jedoch aus heutiger Sicht nicht feststellbar. Königinnen gab es als Ausnahmeerscheinungen auch in ansonsten streng patriarchalen Kulturen, und die Herrschaft einer Königin allein sagt nur wenig über die genderbezogene Sozialstruktur der betreffenden Gesellschaft aus.

Auch von anderen antiken Schriftstellern und Historikern wurden Amazonenvölker beschrieben, wobei diese Kriegerinnenvölker nicht mit den in diesem Artikel beschriebenen matrilinearen und matrilokalen Ackerbaugesellschaften gleichzusetzen sind, da es sich bei ihnen - sofern sie überhaupt in der beschriebenen Form existiert haben - aus heutiger wissenschaftlicher Sicht um historische Ausnahmeerscheinungen handelte.

Das große, friedliche "Ur-Matriarchat", das in feministisch-esoterischen Schriften gerne bemüht wird, hat nach heutigem Stand der Forschung nicht existiert. Auch Völker mit Frauenherrschaft konnten bisher nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Frauenzentrierte, insgesamt herrschaftsfreie Kulturen hingegen, wie sie hier beschrieben wurden, kommen noch heute weltweit vor. Einige, wie die Minangkabau auf Sumatra haben sich den modernen Gegebenenheiten gut angepasst, ohne ihre grundlegenden sozialen Strukturen zu verlieren. Viele andere jedoch stehen auf der Liste der bedrohten Völker.

Theorien zur Entstehung des Patriarchats und Verdrängung des "Ur-Matriarchats"

Folgende Theorien zur Entstehung des Patriarchats basieren alle auf der Annahme, dass die Menschheit - zumindest zu Beginn der neolithischen Revolution - mutterrechtlich bzw. matriarchal organisiert war. Diese Hypothese gilt als heftig umstritten.

Klimaveränderung und Migrationen

James DeMeo und Marija Gimbutas glauben beide - unabhängig voneinander - bewiesen zu haben, dass patriarchale Herrschaftsstrukturen erst vor ca. 5000 Jahren entstanden, und zwar auf Grund von Klimaveränderungen, die zu Fluchtbewegungen der Menschen führten. Anhand von archäologischen und paläoklimatischen Studien gehen die Forscher davon aus, dass der Übergang von egalitären, friedlichen Verhältnissen zu gewaltsamen, kriegerischen in spezifischen Regionen der Alten Welt, in Nordafrika, im Nahen Osten und in Zentralasien, stattgefunden hätte: diese relativ feuchten Gebiete trockneten allmählich aus und wurden verlassen mit der Konsequenz, dass durch den Zusammenfall der Umwelt- und Kulturbedingungen die Bindungen zwischen Mutter und Kind sowie zwischen Frau und Mann in traumatischer Weise zerstört worden seien.

Sollte die Hypothese eines "Ur-Matriarchates" zutreffen, gilt diese Theorie zur Ablösung durch das Patriarchat heute als die Wahrscheinlichste.

Sturz des Mutterrechts durch die Entwicklung des Privateigentums

Der Anthropologe Lewis Henry Morgan ging vom Matriarchat als natürlicher Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Zivilisation aus. Seiner Theorie nach ging die matriarchale Kulturstufe einher mit kollektivem Eigentum. Als sich Privateigentum mehr und mehr herausbildete, entstanden parallel dazu patriarchale Gesellschaftsstrukturen. Friedrich Engels übernahm diese Theorie von Morgan und verfeinerte sie in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates.

Der Hauptzweig der aktuellen deutschsprachigen Matriarchatsforschung kritisiert diese Sichtweise und postuliert im Gegenzug, dass erst die Entwicklung hin zu patriarchalen Strukturen die Entstehung von Privateigentum ermöglicht hätte. Begründet wird diese Aussage damit, dass matriarchale Strukturen die Entwicklung und Akkumulation von Privateigentum effektiv verhindern würden. Desweiteren werden sowohl Morgan als auch Engels dafür kritisiert, dass sie Matriarchate als Art "primitive Vorstufe" auf dem Weg zur Zivilisation (alias Patriarchat) betrachten. Es handle sich um gleichwertige, jedoch völlig eigenständige Kulturstufen mit jeweils eigenen Gesetzen und eigenen Entwicklungsgeschichten. Als Beleg für ihre Argumentation ziehen sie die - laut ihnen matriarchal organisierten - Hochkulturen Kleinasiens und des Mittelmeerraumes hinzu, die bei der Eroberung durch patriarchal organisierte Kriegervölker in ihrer Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen worden seien.

Literatur

Existierende und historisch nachweisbare Matriarchate

  • Kurt Derungs u.a.: Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften. Edition Amalia, 1997 ISBN 3905581019
  • Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat, Bd.2/1, Stammesgesellschaften in Ostasien, Indonesien, Ozeanien. Stgt. 1999 ISBN 3170149954
  • Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat, Bd.2/2, Stammesgesellschaften in Amerika, Indien, Afrika. Stgt. 2001 ISBN 317010568X

Historische "Ur-Matriarchate" und "Matriarchatstheorien"

  • Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Suhrkamp, 9.Aufl. 1997 ISBN 3518277359 (Erstauflage 1861) Bachofen hat großen Einfluss auf viele Autoren gehabt. Besonders Ludwig Klages sei hier erwähnt, dessen Lebensphilosophie stark von Bachofen beeinflusst wurde.
  • Carola Meier-Seethaler: Ursprünge und Befreiungen. Fischer, Ffm. 1992 ISBN 3596110386
  • Gerda Weiler: Das Matriarchat im Alten Israel. Kohlhammer, Stgt. 1989 ISBN 3170107739
  • Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat Suhrkamp, 1999 ISBN 3518279335
  • Juliane Hummel et.al.: Göttinnendämmerung - Das Matriarchat aus archäologischer Sicht Königsfurt, 2001

Siehe auch