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Konsenstheorie der Wahrheit

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Als Konsenstheorie der Wahrheit bezeichnet man die erkenntnistheoretische Auffassung, dass die Wahrheit einer Behauptung davon abhängt, ob sich über diese Behauptung allein durch Argumente ein zwangfreier allgemeiner Konsens herstellen lässt.

Geistesgeschichtlicher Hintergrund

Die Konsenstheorie der Wahrheit ist zu verstehen als eine Antwort auf den Positivismus. Für die Positivisten sind die modernen Naturwissenschaften der Maßstab jeder Wissenschaft. Die Naturwissenschaften stützen sich allein auf Beobachtung und Logik – und das mit großem Erfolg. In den Naturwissenschaften wird nur für zwei Arten von Sätzen Wahrheit beansprucht. Zum einen für empirische Sätze, also Sätze über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wie z. B. "Goethe ist 1832 gestorben" oder "Rauchen erhöht das Risiko für Lungenkrebs". Zum andern für analytische Sätze, also Sätze, die per Definition wahr sind wie "Schimmel sind weiß".

Alle andern Sätze sind für Positivisten nicht wahrheitsfähig. Werturteile und ethische Normen werden als Ausdruck von Gefühlen gedeutet. Ein Satz wie "Man soll schuldlos in Not Geratenen helfen!" bedeutete nach radikal-positivistischem Verständnis nichts anderes als: "Schuldlos in Not Geratenen helfen: bravo!"

Für wissenschaftliche Disziplinen, die wertende und/oder normative Fragen behandeln, ist eine solche erkenntnistheoretische Position zwangsläufig tödlich.

Die Konsenstheorie der Wahrheit will diese "szientistische" Verengung des Wahrheitsbegriffs nun überwinden, ohne jedoch hinter die Kritik der Positivisten an der logisch unzulässigen Vermengung von beschreibenden und bewertenden Sätzen zurückzufallen.

Die neue Grundlage

Konsenstheoretiker wie Habermas, Karl-Otto Apel oder P. Lorenzen setzen bei dem Begriff der Wahrheit an. Sie fragen: Was meinen wir eigentlich mit dem Wort "wahr"? Was tun wir, wenn wir sagen, dass eine Theorie oder ein Satz wahr ist? Welche Regeln müssen wir immer schon als gültig voraussetzen, wenn wir uns argumentierend und diskutierend um Wahrheit bemühen? Sie versuchen eine Neubegründung des Wahrheitsbegriffs aus der Reflexion dessen, was argumentative Wahrheitssuche beinhaltet.

Ihre Antwort auf diese Fragen lautet zugespitzt: Wenn wir einen Satz als "wahr" bezeichnen, dann bekräftigen wir diesen Satz nicht nur (Redundanztheorie der Wahrheit), dann sagen wir nicht nur, dass es so ist, wie dieser Satz besagt (semantischer Ansatz), sondern dann erheben wir für diesen Satz auch einen intersubjektiven Geltungsanspruch ("Dieser Satz gilt für jedermann") und einen intertemporalen Geltungsanspruch ("Dieser Satz gilt dauerhaft"). Wer einen Satz als wahr behauptet, erhebt für diese Behauptung einen Anspruch auf dauerhafte allgemeine Geltung.

Von einem Anspruch auf Gehorsam im Denken unterscheidet sich ein Anspruch auf Wahrheit dadurch, dass der Wahrheitsanspruch durch nachvollziehbare Argumente allgemein einsichtig eingelöst werden kann.

Konsensfähigkeit bedeutet nicht "faktischer Konsens"

Konsensfähigkeit als Kriterium für die Wahrheit einer Behauptung bedeutet nicht, dass die Wahrheit dieser Behauptung nun davon abhängt, ob in Bezug auf die Behauptung tatsächlich einstimmige Zustimmung besteht. Über die Wahrheit einer Behauptung kann man nicht abstimmen, und theoretisch kann ein Einzelner gegen alle Anderen recht haben mit seiner Position. Man kann allerdings in dem Maße Wahrheit und Allgemeingültigkeit für eine Behauptung beanspruchen, wie man über allgemein nachvollziehbare, also verständliche und akzeptable Argumente zur Begründung dieser Behauptung verfügt.

Fazit

In Bezug auf die Stellung der Konsenstheorie zu anderen Theorien der Wahrheit sind abschließend folgende Punkte festzuhalten:

  1. Wahrheitsfähig sind gemäß der Konsenstheorie nicht nur logische und empirische Aussagen, sondern alle Arten von Behauptungen, mit denen ein Anspruch auf Geltung erhoben wird.
  2. Die Konsenstheorie der Wahrheit ersetzt nicht die anderen Wahrheitstheorien sondern geht diesen voraus. Wenn man die Konsenstheorie weiter denkt, so gelangt man zu der Frage, wie denn bei den verschiedenen Arten von Behauptungen ein argumentativer Konsens hergestellt werden kann. In Bezug auf Behauptungen über die tatsächliche Beschaffenheit der Welt findet sich die Antwort bereits weitgehend in der Methodologie der Erfahrungswissenschaften: Konsens stiftend in Bezug auf empirische Fragen ist die intersubjektiv übereinstimmende Beobachtung bzw. Wahrnehmung.
  3. Die Konsenstheorie der Wahrheit ersetzt auch nicht die tradierten ethischen Theorien. Wenn man in Bezug auf normative Behauptungen, z. B. moralische Urteile und ethische Normen fragt, wie sich über diese argumentieren lässt, um zu einem Konsens zu kommen, dann führt die Reflexion über die nicht hintergehbaren Regeln der Argumentation oder über die Bedingungen einer idealen Kommunikation noch nicht zu den gesuchten ethischen Antworten, auch wenn die Konsenstheoretiker dies manchmal nahe legen.

Siehe auch

Wahrheit, Wahrheitstheorie, Konsensprinzip, Einstimmigkeit, Diskursethik

Literatur

  • Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung; Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik.
  • Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft.
  • Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M., 1983