Verfassungswidriges Verfassungsrecht
Verfassungswidriges Verfassungsrecht bezeichnet in der Rechtswissenschaft Regeln und Normen, die Bestandteil des geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungsrechts geworden sind, aber gleichwohl gegen die Verfassung verstoßen und damit unwirksam sind. Eine Rolle spielt dies vor allem bei Verfassungsänderungen.
Dogmatisch handelt es sich um ein Instrument zur Lösung von Normenkollisionen. Vorausgeschickt wird dabei, dass obgleich jede Verfassungsnorm in bestimmter Weise die Verfassung gestaltet und verändert, es dennoch Regeln gibt, die den übrigen Regeln vorgehen, weil sie höherrangig oder wichtiger sind.
Sowohl Befund (unter welchen Voraussetzungen) als auch Rechtsfolge (welcher Effekt) von verfassungswidrigem Verfassungsrecht sind umstritten.
Ausschluss der Anwendung des Instituts des verfassungswidrigen Verfassungsrechts
Verfassungswidriges Verfassungsrecht ist als inhaltliches und systematisches Instrument geprägt und kommt von vorne herein nicht zur Anwendung in folgenden Fällen:
- eine Norm ist dem Wortlaut nach verfassungswidrig, kann jedoch durch Auslegung reduziert werden (verfassungskonforme Auslegung) [1]
- Derogation:
- eine Norm verdrängt eine andere als Ausnahmeregel oder eine spezielle Norm geht einer allgemeinen Norm vor: lex specialis derogat legi generali (Spezialität)
- eine jüngere Norm verdrängt eine ältere (lex posterior derogat legi priori)
Hingegen kommt es nicht darauf an, ob und wie eine Regel entstanden ist, also ob sie geschrieben oder ungeschrieben ist oder ob sie durch besonders hohe oder besonders knappe Zustimmung zustande kam. Gleiches gilt für die Bezeichnung von Verfassungsnormen als hochrangig, es kommt nicht allein darauf an.
- Beispiel: In Deutschland ist das Rechtsstaatsprinzip nicht vollständig im Verfassungstext aufgenommen.[2] In der Verfassungspraxis wird es jedoch über den Wortlaut von Art. 20 GG hinaus als höherrangiges Verfassungsrecht angewendet und geht einfachen Verfassungsnormen vor. Etwa hinsichtlich Vorbehalt des Gesetzes und Rückwirkungsverbot.
Befund
Verstoß gegen höherrangiges Recht
Nach allgemeinen dogmatischen Regeln setzt die Rechtswidrigkeit einen Verstoß gegen höherrangiges Recht voraus. Das ist im Verfassungsrecht nur dann denkbar, wenn einzelne Normen des Verfassungsrechtes anderen Normen des Verfassungsrechtes vorgehen. In modernen Verfassungen ist oft und seit frühem die Prämisse anzutreffen, dass es einen Normkern gibt, der unabänderlich ist und dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entzogen ist:
“…a legislative act contrary to the Constitution is not law.”
„...ein Gesetzgebungsakt in Widerspruch zur Verfassung hat keine Gesetzeskraft.“
Zu seinem Umfang werden unter anderem Grundsätze gezählt wie
- der Kern der Menschenrechte
- Gewaltenteilung
- die freiheitliche demokratische Grundordnung
- Rechtsstaatlichkeit
Eine Normhierarchie oder gar Normpyramide innerhalb des Verfassungsrechts gibt es jedoch nicht.
Kollision gleichrangigen Rechts
Nicht anerkannt ist die Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts dagegen für das Verhältnis gleichrangiger Normen des Verfassungsrechts untereinander, erst recht, wenn diese nicht später eingefügt, sondern von Anfang an Bestandteil der Verfassung waren. Nur vereinzelt wird beispielsweise die Regelung des Religionsunterrichts für im Hinblick auf die gleichzeitig normierte Trennung von Staat und Kirche verfassungswidrig gehalten.[4] Es gibt bei der Kollision solch gleichrangiger Normen keinen Prüfungsmaßstab dafür, welche der beiden Normen an welcher zu messen wäre. Im Ergebnis versagt bei solchen Konstellationen das Instrument des verfassungswidrigen Verfassungsrechts als Normenkollisionslösung und es sind daher andere Auslegungsmethoden heranzuziehen. Ein weiterer Lösungsansatz ist das Instrument der Praktischen Konkordanz.
Verfassungswidriges Verfassungsrecht gleichen Rangs spielt zum Beispiel in Deutschland auch eine Rolle bei der Lösung der Fragen:
- ob der Bundespräsident eine Nationalhymne bestimmen darf
- ob und inwiefern dem Bundespräsident ein materielles Prüfungsrecht bei der Gesetzgebung des Bundes zusteht.
Deutschland
Eine besondere Rolle kommt in der deutschen Verfassung der Ewigkeitsklausel des Vorlage:Zitat Art Abs. 3 GG zu. Danach sind bestimmte materielle Verfassungsänderungen unzulässig. Kommt es dennoch – selbst unter Beachtung der Gesetzgebungsverfahrensanforderungen – zu einer solchen Änderung des Wortlautes des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 1 GG), so sind das Änderungsgesetz und der Änderungseffekt verfassungswidrig und nichtig.
- Beispiel: Streichung von Vorlage:Zitat Art GG und Einführung der Todesstrafe für Fälle, die durch Bundesgesetz bestimmt sind. – Dies wäre nach herrschender Meinung unzulässig, weil der verfassungändernde Gesetzgeber gegen Vorlage:Zitat Art Abs. 1 und 3 GG und dem Achtungsanspruch der Menschenwürde verstieße.
Im Übrigen gibt es neben Art. 79 GG die Fälle sonst vorrangigen Verfassungsrechts wie etwa Vorbehalt des Gesetzes und Rückwirkungsverbot (s.o.)
Eine explizite Regelung von verfassungswidrigem Verfassungsrecht findet sich in Vorlage:Zitat Art GG.
Österreich
In Österreich ist das Verfassungsrecht im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) kodifiziert und darüber hinaus in sonstigen sogenannten Bundesverfassungsgesetzen. Normale Bundesgesetze werden zwar auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, die Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofs erstreckt sich grundsätzlich nicht auf diese Gesamtheit von Verfassungsgesetzen. Häufige Praxis ist daher, dass für unwirksam erklärte Regelungen danach vom Parlament als Bundesverfassungsgesetze verabschiedet wurden, um sie durch das qualifizierte parlamentarische Votum der Inhaltskontrolle zu entziehen. Es ist daher eine gewisse Entwicklung zu beobachten, das Instrument des verfassungswidrigen Verfassungsrechts einzusetzen und solche Gesetzgebung einer Sekundärkontrolle zu unterziehen.
→ Hauptartikel Bundesverfassung (Österreich)
USA
In den Vereinigten Staaten von Amerika hat sich frühzeitig die Verfassungsgerichtsbarkeit ausgebildet, was einfache Bundesgesetze angeht. Ein gewisser Anfangspunkt bildet die Entscheidung des Obersten Gerichts im Fall Marbury gegen Madison. Verfassungsänderungen werden dort jedoch traditionell nicht vollzogen als die konsolidierende Änderung eines knappen Verfassungswortlauts, sondern sie werden angefügt als weitere Artikel (Zusatzartikel). Einige davon haben effektiv frühere Verfassungsnormen außer Kraft gesetzt wie etwa die Abschaffung der Sklaverei mit dem XIII., XIV. und XV. Zusatzartikel und dies mag zum Teil auf Entscheidungen des Obersten Gerichts zurückzuführen sein. Jedoch direkte Eingriffe des Gerichts mit dem Instrument des verfassungswidrigen Verfassungsrechts blieben aus.
→ Hauptartikel Verfassung der Vereinigten Staaten
Rechtsfolgen
Dogmatisch umstritten sind die Rechtsfolgen im Falle des Befunds von verfassungswidrigem Verfassungsrecht.
Ausgangspunkt ist die Regel, dass jede verfassungswidrige Norm grundsätzlich unwirksam und nichtig ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind jedoch Fälle, in den die Verfassungswidrigkeit von Normen zwar festgestellt wurde, sie dennoch nicht für nichtig erklärt wurden, da bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber eine nicht hinnehmbare Regelungslücke entstünde, die schädlicher ist als die Verfassungswidrigkeit selbst.
Grundsätzlich wird jedoch gestritten, ob im Falle der Verfassungswidrigkeit die Rechtsfolge ihre eigene Ursache beseitigt, also ob die Unwirksamkeit des verfassungswidrigen Verfassungsrechts dazu führt, dass es von Anfang an (ex tunc) nicht existierte – also ob es so etwas wie verfassungswidriges Verfassungsrecht geben kann oder vielmehr seine Beseitigung durch die Rechtstechnik der nachträglichen Fiktion zu erfolgen habe (ex nunc „als ob von Anfang an“).
Dieses dogmatische Problem stellt sich letztlich bei jeder Rechtsfolge mit Wirkung für die Vergangenheit – vgl. Anfechtung von Rechtsgeschäften.
Siehe auch
Weblinks
- Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolf zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 2004, Rz: 151 ff.
- "Schäuble ist besessen" - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kritisiert den Vorstoß des Innenministers und wirft ihm vor, Friedens- und Kriegsrecht gezielt zu verwischen, Interview vom 2.1.2007 mit der Süddeutschen Zeitung
Quellen
- ↑ vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Änderungen des Vorlage:Zitat Art Grundgesetz (GG) (Großer Lauschangriff) im Hinblick auf die Menschenwürde, BVerfGE 109, 279
- ↑ Hinweis: Gegenwärtig entspricht der Wikipedia Artikel Rechtsstaat nicht dieser Differenzierungsdarstellung.
- ↑ Begründung im Fall Marbury gegen Madison
- ↑ vgl. etwa Vorlage:Zitat Art GG, 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV