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Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996/Pro und Kontra

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Die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 und die mit ihr eingefühte "Neue deutsche Rechtschreibung" war und ist Teilen der deutschsprachigen (und speziell deutschen) Bevölkerung umstritten. Diese Kritik bezieht sich teilweise auf die konkrete Umsetzung der Reform, teilweise aber auch auf eine Reform als solche.

Ziel und Zweck der Reform

Vereinfachung des Schreibenlernens

Erklärtes Ziel der Rechtschreibreform war, das Schreiben und das Schreibenlernen zu erleichtern.[1] Einige Regeln der traditionellen Rechtschreibung seien nach Ansicht der Befürworter der Reform so kompliziert gewesen, dass sie selbst von gut ausgebildeten Schreibern nicht sicher beherrscht würden.

Von Seiten der Kritiker wiederum wird gesagt, dass die die allermeisten Bürger erheblich mehr lesen als schreiben und Texte im Übrigen sehr viel häufiger gelesen als geschrieben werden und somit ein Text in der neue Schreibweise - auch Aufgrund von Gewohnheit - schwerer zu lesen sei.

Ebenso wird eingewandt, dass insbesondere Kinder, die viel lesen, zwangsläufig auch auf Texte in traditioneller Rechtschreibung stoßen. Dadurch würden diese zunehmend Schwierigkeiten beim Schreiben haben, da sie nicht mehr intuitiv die gelesene Schreibweise verwenden können, sondern jeweils über die einzelnen Worte nachdenken müssen. Nicht unerheblich sind zudem die Unterschiede in den Schreibweisen von Wörtern, die durch die unterschiedlichen Interpretationen und die fortlaufenden Änderungen der reformierten Regeln entstehen.

Aufbrechen des Dudenprivilegs

Der damalige Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, Karl Blüml, zugleich Mitarbeiter des „Österreichischen Wörterbuchs“, äußerte im Jahr 1998: „Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlags in die staatliche Kompetenz zurückzuholen und das Erlernen der Schreibung zu erleichtern.“[2]

Zustandekommen der Reform

Kritiker werfen der Kultusministerkonferenz vor, dass die Zusammensetzung der Kommission der Sache nicht dienlich gewesen sei, indem ihr zahlreiche Fachleute angehörten, die in ihrem Fach für isolierte und ungewöhnliche Meinungen bekannt seien. Günther Drosdowski, der ehemalige Leiter der Dudenredaktion, kritisierte 1996 in einem Brief an Theodor Ickler, in der Rechtschreibkommission herrschten „mafiaähnliche Zustände“, „ein Rüpelstück schon allein die Besetzung“.[3] Drosdowski jedoch war für den Duden verantwortlich, dessen Monopol durch die Reform durchbrochen wurde, der andererseits aber von der Rechtschreibreform und den mehrfachen Änderungen daran am meisten profitiert haben dürfte. Anfang 2003 wurde in der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass einige Mitglieder der Kommission ein wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform hätten. Zudem habe sich die Politik zu eilig dazu hinreißen lassen, weil der Bertelsmann-Verlag bereits dadurch Tatsachen geschaffen hatte, dass er bereits vor der Unterzeichnung des Wiener Abkommens die Auflage fertig gedruckt hatte.

Außerdem habe die Politik die Zusage gebrochen, dass die Reform zurückgenommen werde, sobald in einem Bundesland die Rechtschreibreform per Volksentscheid gekippt würde.


Grundsatzentscheidung für die Freigabe alternativer Schreibweisen

Zwar gab es schon immer Rechtschreibfragen, die auf Grundlage der amtlichen Regeln nicht eindeutig beantwortet werden konnten (z.B. »auf Grund, (jetzt häufig:) aufgrund«[4]), bei denen dem Schreiber frei stand, sich nach seinem Gutdünken für eine der möglichen Schreibungen zu entscheiden. In der reformierten Schreibung gibt es jedoch explizit viele Fälle, in denen Alternativschreibungen zur Auswahl stehen (insbesondere bei der Schreibung von Fremdwörtern, bei der Groß- und Kleinschreibung, bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, bei der Schreibung mit Bindestrich, bei der Interpunktion und bei der Trennung am Wortende). Durch die Revision der reformierten Schreibung ist die Zahl zulässiger Alternativen weiter gestiegen.

Manche Kritiker sehen darin einen Verlust an Einheitlichkeit der geschriebenen Sprache. Andererseits wird unter allen Einzelregelungen der Rechtschreibreform am heftigsten die Vereinheitlichung der Getrennt- und Zusammenschreibung beanstandet, die nach Meinung der Kritiker einen Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten bedeutet.

Allerdings geben Alternativen Schreibern auch demokratische Mittel in die Hand, innerhalb eines Übergangszeitraums über die sinnvollste Schreibweise zu entscheiden, indem sie sich mit der Zeit einbürgert. Der Schreiber erhält durch die Alternativen also die Chance, weniger gute Schreibweisen durch bessere zu ersetzen. Ob er sie annimmt, ist ihm selbst überlassen. Zudem ist fraglich, ob eine exakte Festschreibung überhaupt erforderlich ist, solange alle Varianten eindeutig und für jeden verständlich sind.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass einer der profiliertesten Kritiker der Rechtschreibreform, Prof. Theodor Ickler, darauf hinweist, dass die alte Rechtschreibung wesentlich mehr Alternativschreibungen zuließ, als den meisten Schreibern bewusst war:

Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten.[5] Das ist der Kernsatz einer richtigen Dudenexegese. [...] Einmal aufmerksam geworden, entdeckt man, daß fast alle Dudenregeln Kann-Bestimmungen sind, Spielräume eröffnen. [...] Fast alle Bedenken, die man gegen Widersprüche und Haarspaltereien des Duden vorgebracht hat, lassen sich nach dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation beseitigen.[6]

Das gilt auch nach der Rechtschreibreform. Die Rechtschreibreform enthält Regeln und Wortlisten. Die Wortlisten können nicht vollständig sein. Im Zweifelsfall werden sie durch Regeln ergänzt. Beispielsweise enthielten die ersten Duden-Auflagen nach der Reform den Eintrag „Sciencefiction“. Nach den Regeln kann man aber auch richtig schreiben: „Science-Fiction“, obwohl es nicht im angegebenen Wörterverzeichnis stand. Inzwischen geben die Wortlisten „Science-Fiction“ als Hauptvariante vor (Nach Änderungen der Regeln zur Schreibweise von Fremdwörtern ist auch die Schreibweise „Science Fiction“ zulässig). Ähnliches ist der Fall bei den Kommaregeln. Sie geben an, wo ein Komma stehen soll und wo keines zu stehen braucht. Bei wohlwollender Auslegung kann man weiterhin Kommas setzen, um die Satzstruktur leichter verständlich zu machen, also auch dort, wo es nach den reformierten Regeln nicht mehr vorgeschrieben ist.

Zu einzelnen Regelungen

Laute und Buchstaben

Die Änderung von Laut-Buchstaben-Zuordnungen führte zahlreiche Änderungen oder Alternativen ein. Diese wurden teils mehr, teils weniger akzeptiert.

ss-ß-Schreibung und Dreifachbuchstaben

Rechtschreibreformiertes Straßenschild in Aachen

Die Umstellung der Schreibung von ß und ss gemäß der heyseschen s-Schreibung hat von allen Teilen der Rechtschreibreform die augenfälligste Änderung des Schriftbildes mit sich gebracht; allerdings ist es auch die einzige Regel, die Lehrer konsequent korrigieren und die von Befürwortern der Rechtschreibreform konsequent angewandt wird. Zur heftigen technischen Kritik an der Neuregelung gesellt sich Protest gegen die Umstellung des gewohnten Schriftbildes an sich.

Die Neuregelung der ss-ß-Schreibung ist ein Kompromiss der Reformer, von denen einige ursprünglich das ß ganz abschaffen wollten, und soll laut diesen die Schreibung vereinfachen: Der alte Merkspruch: „ss am Schluß bringt nur Verdruß“ wird abgeschafft. Der Neuregelung zufolge steht ss immer da, wo bisher nach kurzem Vokal ß stand, ß selber steht nur noch nach langem Vokal. ss wird also nun überall dort gebraucht, wo auch andere doppelt dargestellte Konsonanten gebraucht werden (essen, isst wie treffen, trifft). Allerdings wird der Lernaufwand nicht wesentlich geringer, denn die Neuregelung greift nur dort, wo früher ß (oder bereits ss) stand. Der Schreiber muss weiterhin wissen, wann er für den scharfen /s/-Laut anstelle von ß oder ss am Wortende oder vor Konsonanten s zu schreiben hat: So schreibt sich weiterhin Verständnis, Bus, die Last, aber Kompromiss, muss, lasst!. Die neue Regel führt zu neuartigen Fehlern, die ein Ergebnis der Übergeneralisierung sind. Die neue Regel führt dazu, dass Fehler gemacht werden, indem nach langem Vokal anstelle eines „s“ ein „ß“ geschrieben wird, oder nach kurzem Vokal anstelle eines „s“ ein „ss“. Das Problem hier besteht sowohl in alter wie in neuer Rechtschreibung darin, dass es keine einfache Regel zur Entscheidung zwischen „s“ einerseits und „ss“ oder „ß“ andererseits gibt.

Die ss-ß-Schreibung sei zu einer der Hauptfehlerquellen von Anwendern der rechtschreibreformierten Regeln geworden (siehe Prof. Harald Marx: Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: was ändert sich bei Grundschulkindern?): die neue Erklärung setze nur noch phonologisch an und leite so zu Fehlschreibungen wie „Verständniss“. Man habe zusätzlich die Wahlmöglichkeit - und damit die Unsicherheit - der Schreibenden vergrößert. Wo früher am Wortende Auswahl zwischen zwei Schreibweisen (s oder ß: Bus – Kuß) war, gelte es jetzt, zwischen drei Schreibweisen unterscheiden zu müssen (s, ss oder ß: Las – Bass – Maß). Die Zufallstrefferquote werde von 50% auf 33% vermindert, zumal je nach Dialekt, Soziolekt oder Idiolekt lange und kurze Vokale nicht treffsicher unterschieden werden könnten (ist das kurz oder lang?). Dabei blieben die Hauptprobleme, die durch die Regel beseitigt werden sollen, bestehen: man müsse weiterhin zwischen das und dass unterscheiden, ebenso wie bei ist und isst. Im Gegenteil, hier verschärfe sich das Problem, denn die Verwechslungsgefahr sei wegen der nun noch ähnlicheren Wortbilder größer.

Auch wird eine der wichtigsten Funktionen des ß verkannt und zerstört: die Markierung der Silbenfuge und besonders der Wortfuge. Wörter wie Missstand sind nicht nur kritisiert worden, weil einige meinen, ihnen fehle Ästhetik, sie sind auch schwerer zu lesen. Die Schreibung von Messergebnis statt Meßergebnis zwinge den Leser, das Wort zweimal zu lesen, denn die erste Lesung sei automatisch Messer-gebnis. Ein ähnliches Beispiel ist Prozessorganisation. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Wörter niemals einzeln gelesen werden, sondern immer in Gruppen, vgl. auch Großer-zeuger/Groß-erzeuger. Dieses Beispiel zeigt auch, dass ß auch nach traditioneller Schreibung (vor allem vor Vokalen) keineswegs eindeutig die Silbenfuge markiert. Es ist jedoch häufig ein hilfreicher Anhaltspunkt. Außerdem ist auch in traditioneller Rechtschreibung bei vielen Wörtern die Bedeutung nur aus dem Zusammenhang zu erschließen (so bei „Schloß“/„Schloss“). Jedenfalls wird aber mit der Adelungschen s-Schreibung das in Heysescher s-Schreibung häufig auftretende und schlecht lesbare dreifache „s“ an Wortfugen (siehe z.B. Messschieber) vermieden.

Gegner der Reform meinen, dass das ß als Verhinderung der Trennung als s-s entfällt und dadurch Computerprogramme nun Mes-sergebnis statt Meß-ergebnis trennen. Befürworter meinen, dass dies nur zeige, dass die Programme verbessert werden müssen - auch, weil bei versaler Schreibweise (also unter ausschließlicher Verwendung von Großbuchstaben) sowie bei in der Schweiz üblicher Schreibung generell kein ß verwendet werde und somit das Problem reformübergreifend existiere. Außerdem bleibt auch nach traditioneller Schreibung die Frage, ob vor oder hinter dem ß getrennt werden soll (z.B. Groß-erzeuger, nicht Gro-ßerzeuger, Schloß-engel, nicht Schloßen-gel).

Seit die Verwendung von ss und ß nach der neuen Regelung festgelegt ist, haben mehr Wörter bzw. Wortformen (aufgrund hochsprachlich anerkannter Phonemvariation) keine eindeutige Schreibweise mehr. Die Wortform Geschoss (Nominativ, Singular) zum Beispiel darf in reformierter Schreibweise in Süddeutschland und Österreich wegen anderer Aussprache auch „Geschoß“ geschrieben werden. Allerdings gibt es auch in traditioneller Schreibweise die Varianten anderer Wortformen dieses Wortes: z.B. „Geschosse“ und „Geschoße“. Neu hinzugekommen ist die (nun anerkannte Aussprache-) Variation „die Mass“ (mögl. Pluralform „Masse“) neben „die Maß“ (mögl. Pluralform „Maße“).

Umlautschreibung zur Stärkung des Stammprinzips

Die Änderung von e in ä in einzelnen Wörtern soll das Stammprinzip verstärken und damit Schreibweisen ableitbar machen. Dies wurde auch vor der Reform in vielen Fällen beachtet, die Reformer waren aber um eine weitere Vereinheitlichung bemüht, um Ausnahmefälle abzubauen.

Gegen die Änderung von e in ä wird argumentiert, dass in einigen besonderen Fällen die Unterscheidbarkeit eines Wortpaars aufgehoben wird: aufwendig von aufwenden gegenüber aufwändig für auf der Wand (vergleiche wendig, notwendig, inwendig, auswendig), greulich von grausam zur Unterscheidung von gräulich von grau.[7] Reformbefürworter weisen darauf hin, dass diese Fälle in ihrer Zahl gering sind und oft konstruiert wirken: So ist aufwändig so selten in der Bedeutung auf der Wand, dass der Duden dieses Wort nicht kennt, und gräulich (von grau) ist nur eine akzeptierte Nebenform zu graulich. Dagegen wurde das häufige Wort Eltern, das auf alt zurückgeführt werden kann, inkonsequenterweise nicht in Ältern geändert.[7] Kritisiert wird weiterhin, dass nicht für alle Wortarten das Stammprinzip angewandt wird: So schreibt man nach wie vor „aufwenden“ statt des zu erwartenden „aufwänden“.

Weitere Kritik richtet sich insbesondere gegen Fälle, in denen eine Volksetymologie legitimiert (oder durch die Reform erst suggeriert) wird (belämmert zu Lamm, einbläuen von blau usw.).

Befürworter entgegnen, dass es für die Erlernbarkeit irrelevant sei, ob die Schreibweise auf historisch korrekter Etymologie beruhe (dazu oben: zur Grundsatzentscheidung gegen eine durchgehend etymologisch begründete Rechtschreibung). Sie sehen darin eine Anpassung an den Sprachgebrauch und somit eine Vereinfachung.

Fremdwörter

Begrüßt wurde von einigen die Möglichkeit, Endungen wie -graphie fortan als -grafie zu schreiben. Hierdurch wird nach Meinung der Reformbefürworter der Lesefluss erleichtert. Beanstandet werden aber Mischformen aus etymologischer und eingedeutschter Schreibung: Orthografie mit th, aber ohne ph.

Ein weiterer Einwand der Gegner ist, dass durch die weitgehend phonetische Schreibung von Fremdwörtern und damit die Vergrößerung der Distanz zwischen ursprünglichem und deutschem Wort das Bildungsniveau noch weiter gesenkt werde. Reformbefürworter unterstellen da, dass solche Kritiken in ihrem Wesen als Gesellschaftspessimismus zu bezeichnen seien, der sich nur an sprachlichen Einzelheiten manifestiere, aber mit der Sprache und deren Verschriftung eigentlich nichts zu tun habe.

Zu begrüßen sei im Prinzip, dass es nicht Sache der deutschen Sprache sein kann, alle Fremdwörter immer so wie in der Gebersprache zu schreiben. Überdies gibt es seit längerer Zeit Beispiele von erfolgreicher orthografischer Eindeutschung, vgl. Keks aus engl. cakes, Streik aus engl. strike, Plüsch aus französ. peluche, Schock aus frz. choc u.ä. Die Reform führt also diese Linie bei vielverwendeten Wörtern weiter.

Dagegen kann man argumentieren, dass die deutsche Sprache sich durch diese Eindeutschungen aus dem Verband anderer westeuropäischer Sprachen wie Französisch und Englisch verabschiedet, die beide ebenfalls das Prinzip der etymologischen Schreibung von Fremdwörtern kennen. Andere europäische Sprachen passen Fremdwörter jedoch wesentlich stärker orthografisch an - beispielsweise Italienisch (vgl. dittongo „Diphthong“, ritmo „Rhythmus“ usw.) oder Spanisch (vgl. quiosco „Kiosk“, dólar „Dollar“ usw.), und selbst auf französisch heißt es fantôme im Gegensatz zum deutschen Phantom.

Groß- und Kleinschreibung

Die Rechtschreibreform fördert die Großschreibung vieler Wörter:

  • mit Bezug auf, in Bezug auf (früher: mit Bezug auf, in bezug auf)
  • im Nu, im Nachhinein (früher: im Nu, im nachhinein)
  • heute Abend, aber: heute früh (auch: heute Früh; früher: heute abend, heute früh)
  • alles Weitere, alles Übrige (früher: alles Weitere, alles übrige)

Nach Meinung der Reformgegener entstanden in vielen Fällen schwere Grammatikfehler, oder es gingen Bedeutungsunterscheidungen verloren:

  • Bei Abend in heute Abend handle es sich um kein Substantiv, das eine Großschreibung legitimieren würde. Befürworter argumentieren, dass es sich um eine verkürzte Schreibweise von heute am Abend handelt.
  • Leid tun (Leid zufügen), so die Reformgegner, sei etwas anderes als (alt:) leid tun (Mitleid erregen). Die Reformer meinten im Jahr 2004, dieses Problem in einer Revision der Reform dadurch beseitigt zu haben, indem sie beide Formen und zusätzlich noch leidtun erlaubten. Allerdings verschlimmere dies laut Gegnern der Reform das Problem, denn Leid tun kann immer noch für Mitleid empfinden geschrieben werden, und die Uneindeutigkeit bleibe erhalten. Dies und das zusätzliche leidtun von 2004 (das die Regeln noch beliebiger mache) würden das Sprachgefühl des Schreibenden untergraben. Durch eine Änderung der Reform im Jahr 2006 ist jetzt die Schreibweise „So leid es mir tut“ wieder erlaubt bzw. sogar die empfohlene Variante. Vergleiche dazu auch das englische "I am sorry" (es tut mir leid), nicht etwa "I have sorry", also ist das "leid" rein adjektivisch. Dies lässt sich auch an der Steigerung "Es tut mir sehr leid" sehen, denn niemand würde ernstlich schreiben "Es tut mir sehr Leid", was analog wäre zu "Ich fahre sehr Auto".
  • Recht haben (eine richtige Meinung vortragen), das Wort „recht“ werde zu Unrecht als verblasstes Substantiv angesehen, da das Wort „recht“ als Adverb fungiere, wie man z.B. daran erkenne, dass die Verneinung lautet: „nicht recht haben“ statt „kein Recht haben“; ebenso lautet ein Satz wie "völlig recht haben" nicht "völliges Recht haben" (analog zu "völlig Auto fahren"). Vergleiche auch Englisch "I am right" − „Ich habe recht“, also rein adjektivischer Gebrauch von „recht“ im Sinne von „richtig“. Nach der letzten Änderung von 2006 ist die Schreibweise „Sie hat recht“ wieder die empfohlene.
  • Not sein: Der Spruch von Gorch Fock, „Seefahrt ist not“, sei adverbialer Gebrauch von „not“ im Sinn von „notwendig“. „Seefahrt ist Not“ hat einen anderen Sinn.
  • Des Weiteren/Im Übrigen/Im Allgemeinen/Im wesentlichen: Diese Floskeln sind nur andere Schreibweisen für „weiterhin“ bzw. „übrigens“ oder „allgemein“. Die Großschreibung derartiger Füllwörter lenkt von den eigentlichen Substantiven des Satzes ab, außerdem erwartet man eher In der Allgemeinen, wobei eine Zeitung, etwa die Frankfurter Allgemeine, gemeint wäre.
  • beim Alten: Hier wird suggeriert, dass entweder Siegfried Lowitz aus der ZDF-Krimiserie „Der Alte“ gemeint ist oder gar Jürgen Prochnow als der Kapitän eines U-Boots. Es könnte auch eine Ehefrau von ihrem Mann sprechen. Gemeint ist aber schlicht: „alt“, also eine rein adjektivische Bedeutung.

Getrennt- und Zusammenschreibung

Die Getrennt- und Zusammenschreibung war bisher nicht amtlich geregelt, sondern beruhte auf Einzelentscheidungen und Wörterbucheinträgen der Dudenredaktion, die diese erst später zu systematisieren versucht hat. Tendenziell sollte bei „wörtlichem“ Gebrauch getrennt, bei „übertragenem“ Gebrauch zusammengeschrieben werden: Die Besucher sind stehen geblieben (= standen weiterhin), aber Die Besucher sind stehengeblieben (= haben einen Halt gemacht).

Nach Meinung der Reformer war diese Regelung unübersichtlich, kompliziert und unsystematisch, da beispielshalber im Gegensatz zum „regelkonformen“ sitzen bleiben (= auf einem Stuhl) / sitzenbleiben (= nicht versetzt werden) Wörter existierten, die immer getrennt oder zusammengeschrieben werden mussten - so schrieb man zum Beispiel liegenbleiben immer zusammen (egal, ob man auf einer Liege liegen bleibt oder ob eine Sache liegen bleibt [= vergessen wird]), während baden gehen immer getrennt geschrieben wurde (egal, ob man in einem See baden geht oder mit einer Sache baden geht [= scheitert]).

Als Beispiel für die Willkür der bisherigen Regelung wird auch häufig das Beispiel Auto fahren in Konkurrenz zu radfahren genannt. Reformgegner antworten, dieses Beispiel beruhe auf einem Missverständnis: Bei „richtiger Dudenexegese“ [Ickler] habe man daraus, dass nur radfahren, nicht aber autofahren einen eigenen Wörterbucheintrag gehabt habe, keineswegs darauf schließen müssen, dass man je nach Kontext nicht auch autofahren und Rad fahren habe schreiben dürfen; tatsächlich schreibt der Duden unter dem Stichwort Auto explizit vor: "(↑R 207:) Auto fahren; ich bin Auto gefahren; (↑R 32:) Auto und radfahren, aber: rad- und Auto fahren" (zitiert nach der 19. Aufl., 1986). (Siehe dazu oben: zur Grundsatzentscheidung für die Freigabe alternativer Schreibweisen.)

In der Neuschreibung kann ein Bedeutungsunterschied mit Hilfe der Getrennt- und Zusammenschreibung oft nicht mehr getroffen werden; alleine der Kontext gibt in diesen Fällen Auskunft, wie die Wortgruppe zu verstehen ist. Von allen Entscheidungen der Rechtschreibreform hat diese wohl die meiste Kritik auf sich gezogen.

Kritiker nennen zahlreiche Fälle, in denen nach alter Rechtschreibung die getrennt und die zusammengeschriebene Variante unterschiedliche Bedeutungen hatten: sitzenbleiben (nicht versetzt werden), aber: sitzen bleiben (nicht aufstehen); schwerbeschädigt, aber: schwer beschädigt; weiter entwickeln (andauernde Entwicklung) oder weiterentwickeln (Fortschritt). (In neuer Rechtschreibung gibt es nur noch das getrennt geschriebene sitzen bleiben, während die Unterscheidungen schwerbeschädigt und schwer beschädigt sowie weiter entwickeln und weiterentwickeln weiterhin getroffen werden können. Andererseits führt die Förderung der Getrenntschreibung häufig zu Abstrusitäten wie wieder herstellen für reparieren, wiederherstellen oder auch fertig stellen, wodurch das Textverständnis stark leidet.)

Es wird kritisiert, dass die Abschaffung der unterschiedlichen Schreibweisen beim Lesen zu Missverständnissen und beim Schreiben zum Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten führe.

Reformbefürworter argumentieren, die Bedeutung ergebe sich aus dem Kontext. In Präsens und Präteritum komme man ja auch ohne Unterscheidung von Getrennt- und Zusammenschreibung aus: Er bleibt / blieb sitzen.

Reformbefürworter argumentieren weiterhin, auch in der gesprochenen Sprache gebe es keinen Unterschied zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung. Dieses Argument ist jedoch nicht immer für alle Muttersprachler nachvollziehbar, da manche von ihnen kleine Sprechpausen bei Getrenntschreibung machen. Außerdem gibt es in einigen Fällen sehr wohl einen Unterschied in der Betonung, z.B. er hat die Arbeit schlecht geMACHT (schlecht gemacht) vs. er hat die Arbeit SCHLECHT gemacht (schlechtgemacht); dieses Problem ist wohl beKANNT (wohl bekannt) vs. dieses Problem ist WOHL bekannt (wohlbekannt). Auch das obige Beispiel SCHWERbeschädigt (körperbehinderter Mensch) vs. schwer beSCHÄdigt (Fahrzeug beim Aufprall auf ein Hindernis) zeigt einen klaren Unterschied in der Aussprache.

Soweit Reformgegner anerkennen, dass die reformierten Regeln vom phonetischen Standpunkt her vertretbar sind, bleibt ihnen die Argumentationslinie, die geschriebene Sprache sei nicht einfach nur ein Abbild der gesprochenen Sprache, sondern ein System eigenen Rechts: Unterscheidungen, die man in der gesprochenen Sprache nicht höre, könnten doch in der Schriftsprache sinnvoll sein, da sie zum besseren und schnelleren Textverständnis beitragen und die Lesegeschwindigkeit erhöhen können.

Diese Regeln sind vom Rat für deutsche Rechtschreibung 2006 wesentlich überarbeitet worden, und entsprechende Änderungen werden empfohlen. Dabei wird die Schreibweise zum Beispiel von der Akzentführung abhängig gemacht.

Theodor Ickler vergleicht das neue Wörterbuch des Wahrig-Verlags und den Duden (Erscheinungstermin 2.2.2006), findet, dass „die beiden wichtigsten Wörterbücher eklatant voneinander abweichen“ und „vollends absurd (… z. B. ein im) Duden zusammengeschriebenes halbautomatisch (und siebzehn weitere Beispiele) mit Betonung auf der ersten Silbe und die getrennt geschriebene Wortgruppe halb automatisch mit der Betonung auf (der zweiten …). Im Infokasten wird hochanständig als ‚Partizip‘ bezeichnet. (…) Insgesamt dokumentiert der Wahrig (…) recht zuverlässig die von den Kultusministern jüngst verordnete Schulorthographie. Sie stellt der deutschen Sprachwissenschaft kein gutes Zeugnis aus (…). Neue Skurrilitäten trüben das Bild gleich wieder ein.“

Schreibung mit Bindestrich

In diesem Punkt ist der Anspruch der Reform, die "Regelung der deutschen Rechtschreibung den heutigen Erfordernissen anzupassen", vergleichsweise leicht nachvollziehbar: die zunehmende Komplexität der heutigen Lebensverhältnisse bringt immer neue, oft mehrgliedrig zusammengesetzte Wörter mit sich. Die Möglichkeit, zusammengesetzte Wörter mit einem Bindestrich in Sinn-Einheiten (oder: Sinneinheiten) gliedern zu können, kann bei vernünftigem Gebrauch das Lesen erleichtern. Jedoch konnte zum Teil (z. B. bei missverständlichen Wörtern) schon in der alten Rechtschreibung ein Bindestrich gesetzt werden (Druck-Erzeugnis, aber Drucker-Zeugnis).

Reformgegner sind der Meinung, dass es unverständlich ist, dass ein Bindestrich nicht mehr gesetzt werden muss, wenn drei Vokale bei einem Kompositum auftreten. So hieß es vor der Reform ausschließlich „Kaffee-Ersatz“. Nach der Reform darf dieses Wort auch „Kaffeeersatz“ geschrieben werden. Die Silbentrennung bzw. Sprechpause inmitten der „e“ könne so nicht sofort erkannt werden. Reformbefürworter entgegnen, dass dies nur eine Erweiterung der Möglichkeiten sei.

Reformgegner kritisieren auch, dass in der Praxis paradoxerweise gerade seit der Rechtschreibreform der Gebrauch des Bindestrichs eher ab- als zugenommen habe: viele aus zwei Teilen bestehende Substantive (z.B. Tomatensuppe), welche nach alter Rechtschreibung zusammen geschrieben wurden, würden nunmehr getrennt, aber fälschlicherweise ohne Bindestrich geschrieben (z.B. Tomaten Suppe statt Tomaten-Suppe). Im Allgemeinen wird diese Entwicklung aber schon länger beobachtet und eher der Anglisierung (im englischen werden zusammengesetzte Begriffe durch Leerzeichen getrennt) als den neuen Bindestrich-Regeln zugeschrieben.

Zeichensetzung

Die gelockerte Kommasetzung der rechtschreibreformierten Schreibweise vereinfacht laut Befürwortern das Schreiben und erschwert laut Gegnern das Lesen. Sie wird von vielen Lesern als ermüdend empfunden, da die Unterteilung längerer Sätze in logische Einheiten nicht mehr durchgehend durch Kommata erfolgt und aus dem Zusammenhang, d.h. erst nach Lesen des gesamten Satzes, rekonstruiert werden muss. Nicht nur die für die deutsche Sprache typischen Schachtelsätze sind oft schwerer zu verstehen, sondern viele Verkettungen von Hauptsätzen mit „und" bzw. „oder“. Zwar ist das Setzen von Kommata in den meisten Fällen nicht explizit verboten, sondern wird dem Schreiber überlassen, jedoch haben viele Verlage dem Komma gewissermaßen den Krieg erklärt und - um Progressivität zu demonstrieren - unverständliche Texte zurückgelassen. Zur Verdeutlichung der Satzstruktur hätten aber auch nach der Reform Kommata gesetzt werden dürfen.

Wenn man Kommata weglässt, ergeben sich Mehrdeutigkeiten oder (durch falschen Zwischensinn) Probleme im Lesefluss:

  • Der Lehrer empfahl dem Schüler nicht zu widersprechen.
  • Zu dritt saßen sie am Tisch und aßen ein Huhn und die Mutter kam später dazu.

In derartigen Fällen wird die Kommasetzung empfohlen (z.B. von der Dudenredaktion).

Ferner treten nach der Reform in der Praxis folgende – allerdings falsche – Schreibweisen deutlich vermehrt auf, die der Satzstruktur widersprechen:

  • Der Lehrer empfahl dem Schüler, nicht zu widersprechen und dann verließ er das Schulgebäude.
  • Das Haus lag in einem großen Garten, der jedoch völlig verwildert war und an einer belebten Straßenecke.

Worttrennung

Bei den Worttrennungen hat es recht wenige Änderungen gegeben. Am auffälligsten sind der Wegfall des s-t-Trennungsverbots („Trenne nie s-t, denn es tut ihm weh!“) und die Neuerung bei ck. Ersteres hat mit dem Setzen der Bleilettern in der Druckerei zu tun gehabt, bei dem es für „st“ eine einzelne Letter gab. Neu schreibt man also etwa „Ins-tanz“, „Ins-truktion“, „Des-tillation“. Weiterhin erlaubt bleibt die Worttrennung nach Wortbestandteilen, also „In-stanz“. Das bedeutet aber nicht, das st nunmehr an jeder Stelle getrennt werden muss, an der es auftritt. „Mauerstein“ wird weiterhin „Mauer-stein“ getrennt und nicht „Mauers-tein“. Solche Trennungen traten nach der Rechtschreibreform gehäuft auf, sind aber falsch. Ein neues Phänomen ist, dass zulässige, aber etymologisch falsche Trennungen wie „Diag-nose“ und „Kons-truktion“ statt etymologisch „Dia-gnose“ und „Kon-struktion“ deutlich erkennen lassen, ob der Schreiber Griechisch- bzw. Lateinkenntnisse hatte.

Bei der Neuregelung für die Trennung von Wörtern mit „ck“ sollte eine Ausnahmeregelung abgeschafft werden. Wurde früher ein Wort mit ck geschrieben (wie beispielsweise „Hacke“), dann wurde bei der Silbentrennung dieses durch „k-k“ ersetzt: Hak-ke. Nach neuer Schreibung ist jetzt „Ha-cke“ richtig. Dies geschah in Angleichung an die Trennung bei „ch“. Beispielsweise wird „Sa-che“ nach alter wie nach neuer Schreibung vor dem „ch“ getrennt.

Kritiker hingegen meinen, damit sei eine neue Ausnahme geschaffen worden, denn „ck“ sei im Gegensatz zu „ch“ ein Doppelkonsonant und nicht ein Digraph. „Ck“ sei jetzt der einzige Doppelkonsonant im Deutschen, der nicht getrennt wird, und das schaffe ein Lesehindernis. Dadurch, dass das ck komplett zur Folgesilbe zugeschlagen wird, entstehe eine offene Silbe (eine Silbe, die auf einen Vokal endet). Vokale in solchen Silben werden nach deutschen Ausspracheregeln lang ausgesprochen. Vokale vor ck werden aber kurz ausgesprochen (wie alle Vokale vor Doppelkonsonanten). Beispiele wie „Sa-che“ zeigen allerdings, dass Vokale in solchen Silben sehr wohl kurz ausgesprochen werden. Die Einführung eines Konzeptes wie Digraph zur Erklärung der Trennungsregeln würde das Regelwerk zudem verkomplizieren und nicht vereinfachen.

Die neuen Regeln erlauben generell, nach Sprechsilben zu trennen. So ist nun neben der alten Trennung „Heliko-pter“ auch die Trennung „Helikop-ter“ zulässig, neben „Chir-urg“ nun auch „Chi-rurg“. Das gilt auch für deutsche Wörter: „Her-aus“ darf nun zusätzlich „he-raus“ getrennt werden, „vor-aus“ zusätzlich „vo-raus“. Kritiker führen das vermehrte Auftreten der falschen Schreibweise „vorraus“ auf die Neuregelung der Trennung zurück. Auch eine rein mechanische Trennungsmöglichkeit wurde nach der Rechtschreibreform 1996 angewendet: Der letzte Konsonant kam auf die neue Zeile („Konst-ruktion“, „zent-ral“). Diese Regel wurde 2006 revidiert. Sinnentstellende Trennungen sind nicht mehr zulässig, wie bei Trennung von Wortfugen, Beispiel: Walduhu wird „Wald-uhu“ getrennt, nicht aber „Wal-duhu“. Auch Trennungen wie „Wunsc-herfüllung“ oder „wünsc-hen“ die bei einer ein mechanischen Trennung möglich wären, sind nicht zulässig.

Neu zulässig war das Abtrennen einzelner Buchstaben, etwa „ü-ber“. Kritiker argumentieren, dass diese Trennungen zum einen unnötig seien, zum anderen diese Regel in Zusammensetzungen zu unverständlichen Gebilden wie etwa „Ruma-roma“ führe. Diese Regelung wurde auf Vorschlag des Rates für deutsche Rechtschreibung 2006 wieder zurückgenommen.

Argumente gegen eine Reform als solche

Deskription contra Präskription: Die Reformkritiker wenden sich gegen die Sprachnormung bzw. Präskription, d.h. gegen die willkürlichen und undemokratischen Eingriffe der Reformer in die Rechtschreibung und damit in die natürliche Sprachentwicklung. Sie fordern die Beibehaltung der bisherigen Methode der Deskription, d.h. eine differenzierte Beschreibung des Sprach- bzw. Schreibgebrauchs (Usus). Andererseits gibt die Reform viele Schreibungen frei, indem sie bisherige Muss-Vorschriften in Kann-Vorschriften verwandelt hat, was jedoch auch Nachteile hat für Lexikographie, Recherche und Lernaufwand für Lehrer. Reformbefürworter argumentieren oft dagegen, dass es eine solche natürliche Sprachentwicklung durch die staatliche Festlegung kaum noch gab.

Kulturelle Kontinuität: jede Rechtschreibreform schafft - zusätzlich zum Zahn der Zeit und nicht in derselben Weise - Distanz zwischen uns und unserem kulturellen Erbe: alte Bücher werden der mit der Rechtschreibreform aufgewachsenen Generation noch älter erscheinen, als sie es aus stilistischen und inhaltlichen Gründen tun, weil auch die Schreibweise antiquiert erscheinen wird. Neuauflagen in neuer Rechtschreibung lösen zwar dieses Problem, schaffen dabei aber ein neues, größeres, wenn Ausdrucksnuancen verändert oder eliminiert werden (z.B. gräulichgreulich). Reformbefürworter entgegnen, dass schon heute viele Klassiker nicht mehr im Original gelesen werden, da diese nach Einführung der Regeln 1902 schon einmal angepasst wurden. Die damaligen Änderungen waren weitaus einschneidender (thun - tun, seyn - sein) und haben trotzdem klassische Werke nicht entstellt.

Biographische Kontinuität: eine Rechtschreibreform bedeutet einen Eingriff in die Beziehung eines Lesers zu seiner Sprache. Der Schriftsteller Reiner Kunze spricht von der Aura der Wörter:

Das Wort besitzt eine Aura, die aus seinem Schriftbild, seinem Klang und den Assoziationen besteht, die es in uns hervorruft, und je wichtiger und gebräuchlicher ein Wort ist, desto intensiver und prägender ist diese Aura. Wer sie zerstört, zerstört etwas in uns, er tastet den Fundus unseres Unbewußten an. Wird man also ständig mit Wörtern konfrontiert, deren Aura zerstört ist, weil sie zerschnitten sind (»weit gehend« statt »weitgehend«), weil sie so, wie sie jetzt geschrieben werden, anders klingen (»anders Denkende« statt »Andersdenkende«) oder weil man ihnen eine Packung von drei »s« verpaßt und ihnen dann eine Spreizstange eingezogen hat (»Fluss-Senke«), dann ist die Wahrnehmung dieser Zerstörung jedesmal ein Mikrotrauma, eine winzige psychische Läsion, was auf die Dauer entweder zu Sprachdesensibilisierung, Abstumpfung und Resignation oder zu zunehmend unfreundlicheren Gefühlen denen gegenüber führt, die das alles ohne Not verursacht haben.

In ähnlichem Sinne äußerten sich schon Wittgenstein und Grillparzer zu früheren Rechtschreibreformen.

Ästhetische Argumente: Eine alte Schreibweise sei schlicht und einfach schöner gewesen als eine neue. Dieses Argument wurde 1901 gegen den Wegfall des h in Wörtern, wie z. B. Athem, Heimath, thöricht, angeführt; 1996 richtete es sich vor allem gegen die ss-ß-Neuregelung, die Konsonantenverdreifachung vor Vokalen, z. B. in Schifffahrt (obwohl auch vor der Reform Dreifachkonsonanten die Regel waren, z. B. in farbstofffrei), die nun häufiger gegebene Möglichkeit, ph durch f zu ersetzen und gegen einzelne Änderungen von e in ä (z. B. Stängel und Bändel).

Viele ausländische Universitäten, vor allem im osteuropäischen und asiatischen Raum, können sich ein Umstellen des Lehrmaterial-/Buchbestandes auf die neue Rechtschreibung finanziell nicht leisten und sind daher gezwungen, mit Lehrwerken in der hergebrachten Rechtschreibung zu arbeiten. Umgekehrt sehen sich die ausländischen Studierenden mit dem neuen Regelwerk konfrontiert, so werden Zugangstests in der neuen Rechtschreibung abgehalten (Test Deutsch als Fremdsprache, TestDaF). Die Schaffung einer Vielzahl von Kann-Regeln, die sowohl die hergebrachte als auch eine neue Schreibung erlauben, erhöht den Lernaufwand für Nicht-Muttersprachler.

Das Interesse, Deutsch als Fremdsprache zu wählen, hat darunter jedoch nachweislich nicht gelitten. Im europäischen Ausland gab es kaum Probleme bei der Einführung der neuen Rechtschreibung in den Sprachenunterricht.
Dem Argument, die Rechtschreibreform sei nicht demokratisch legitimiert, halten Reform-Befürworter entgegen, im Jahre 1901 sei die so genannte alte Rechtschreibung per Erlass verordnet worden und somit nicht demokratischer eingeführt worden als die neue. Kritiker entgegnen darauf, dass das Demokratieverständnis heute sicher ein anderes ist als zur Kaiserzeit.

Mangelnder Empirismus: Ideologisch bestimmend für die Rechtschreibung ist die Definition von Regeln für die Schreibung von Worten. Dabei ist zu beobachten, dass vielfach eine Kluft zwischen regelgerechter Schreibung und empirischer Schreibung besteht. Vertreter einer empirisch vorgehenden Sprachwissenschaft verfahren nach dem Motto „Die Mehrheitsschreibung bestimmt die Regeln“. Rechtschreibregelwerke, die von Fachgremien bestimmt werden, sind aus dieser Sicht demokratisch mangelhaft legitimiert, weil sie den lebendigen kulturellen Entwicklungsfluss einer Sprache künstlich kanalisieren. Kasuistisch hat die Rechtschreibreform von 1996 die Kluft zwischen Regelwerk und Mehrheitsschreibung durch Vereinfachung der Regeln in den einschlägigen Zweifelsfällen verringert. Das bedeutet aber nicht, dass der regelbasierte Ansatz grundlegend hinterfragt wurde. Anzumerken ist, dass die Empirismuskritik sich von der traditionalistischen Kritik der Rechtschreibreform deutlich abgrenzt, denn ihre Kritik trifft auch und besonders die Verfechter der Traditionsschreibung. Strenge Vertreter des Empirismus lassen Reformen nur aus der Änderung des öffentlichen Sprachgebrauches zu. So sehen sie keine sachlichen Gründe, gegen eine Schreibung wie „Renate’s Imbiss“ zu argumentieren, wenn sie sich im praktischen Gebrauch durchgesetzt habe. Eine kontinuierliche Anpassung der Regelwerke an den allgemeinen Sprachgebrauch ist aus dieser Sicht die Rolle einer Rechtschreibreform, nicht jedoch das Einwirken auf den Sprachgebrauch durch Etablieren von Reformen. Zugrunde (Zu Grunde?) legen Empiristen also das Prinzip des Normativen Individualismus.

Rücknahme sprachökonomisch begründeter Formen: Ein von Seiten der Linguistik bemängelter Punkt ist die Aufgabe von Formen, die während jahrzehntelangen Schreibgebrauchs aus Gründen der Schreib- und Leseökonomie gebildet wurden, also etwa die Vermeidung von Konsonantenhäufungen in (herkömmlich): Schiffahrt oder Bettuch, der Gebrauch des ß als ökonomische ss-Ligatur. Hierin wird ein Rückschritt hinter Entwicklungen gesehen, die sich aus der Bewährung im Sprachgebrauch ergeben haben. Befürworter der Reform entgegnen, dass eine logische Wortbildung schreibökonomisch vorteilhaft ist und die klare Erkennbarkeit der Aussprache von ss und ß die Leseökonomie steigert (Beispiel: Strass (kurzes a) aber Straße (langes a)).

Vorschreibung etymologisch falscher Schreibweisen: Bei einigen Wörtern wurde unter Bezug auf eine volksetymologische Herleitung eine veränderte Schreibweise neu eingeführt (Beispiel „Tollpatsch“) und gleichzeitig die etymologisch richtige Schreibweise als falsch deklariert.[8]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Peter Gallmann, Horst Sitta: Handbuch Rechtschreiben (PDF, 169 kB), 1996, S. 16.
  2. Der Standard, Wien, 31. Januar / 1. Februar 1998, S. 13.
  3. Brief von Günther Drosdowski an Thedor Ickler, Mannheim, 10. November 1996, [1].
  4. Duden, 19. Auflage, 1986.
  5. Theodor Ickler: Ablenkungsmanöver.
  6. Fetisch der Norm. In: FAZ, 14. November 1997, S. 41.
  7. a b Theodor Ickler: Die sogenannte Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich. (PDF, 750 kB) Leibniz-Verlag, St. Goar, 1997, ISBN 3931155099, S. 19.
  8. Theodor Ickler: Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform. (PDF, 1,9 MB) Leibniz-Verlag, St. Goar, 2004, ISBN 3-93115-518-8, S. 108 ff., 227 ff.