Bindungstheorie

Die Bindungstheorie wurde von dem britischen Psychiater John Bowlby und der Kanadierin Mary Ainsworth entwickelt. Sie beschreibt die Neigung des Menschen, eine enge, von intensiven Gefühlen getragene Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen. Gegenstand der Bindungsforschung ist der Aufbau und die Veränderung enger Beziehungen im Laufe des Lebens. Dabei fokussiert sie vor allem auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung. Die Bindungstheorie verbindet ethologisches, entwicklungspsychologisches, psychoanalytisches und systemisches Denken. Eines der großen Anliegen Bowlbys war es, mit der Bindungstheorie eine wissenschaftliche Basis für den psychoanalytischen Ansatz der Objektbeziehungstheorien zu schaffen und psychoanalytische Annahmen empirisch überprüfbar zu machen. Der britische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker entfernte sich im Laufe seiner Forschungsarbeit von der Psychoanalyse, und die Bindungstheorie wurde zu einer eigenständigen Disziplin. Die Theorie weist sowohl Verbindungen zur Systemtheorie wie auch zur kognitiven Psychologie auf und hat einen ebenso großen Beitrag zur Familientherapie und kognitiven Therapie geleistet. In der zeitgemäßen Psychoanalyse findet die Bindungstheorie großen Anklang.
Entwicklung und Grundlagen
Entwicklung der Bindungstheorie
Bowlby war der Ansicht, dass jeder Mensch mit mehreren Verhaltenssystemen ausgestattet ist, welche das Überleben der Spezies sichern und aus der Evolution hervorgegangen sind. Dazu gehört beim menschlichen Kind das sog. Bindungsverhalten. Bowlbys Position, die er explizit auf Charles Darwin bezog, fasste Slade folgendermaßen zusammen:
- (a) Das Kind hat eine angeborene Prädisposition, sich an seine Bezugsperson zu binden. (b) Das Kind wird sein Verhalten und Denken so organisieren, dass diese Bindungsbeziehung, die den Schlüssel zu seinem psychologischen und physischen Überleben bilden, aufrechterhalten bleiben. (c) Häufig wird das Kind solche Beziehungen um den hohen Preis eigener Funktionsstörungen aufrechterhalten. (d) Die Verzerrungen im Fühlen und Denken, die einer frühen Bindungsstörung entstammen, entstehen meistens als Antworten des Kindes auf die Unfähigkeit der Eltern, seinen Bedürfnisse nach Wohlbefinden, Sicherheit und emotionaler Beruhigung Rechnung zu tragen.[1]
Bowlby bezog sich in den Grundzügen seiner Theorie besonders auf die Ethologie, die von Charles Darwin begründet wurde, also die vergleichende Verhaltensforschung. Bowlby bezog sich ab der Mitte der 1950er Jahre vor allem auf Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen, die mit Hilfe von Experimenten mit Tieren angeborenes Verhalten von Tieren untersuchten. Bowlby stellte die Vermutung an, dass Menschen ebenso mit angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet sind wie andere Säugetiere und Vögel auch. Er knüpfte auch an Forschungen an, die mit Rhesusaffenkindern gemacht wurden. Lerntheoretische Forscher hatten herausgefunden, dass Affenjunge die körperliche Nähe zu Mutterattrappen suchten, die mit Fell bedeckt waren, sie aber nicht fütterten, aber keine Nähe zu Drahtattrappen suchten, die sie zwar fütterten, aber nicht mit Fell bedeckt waren. Damit war für Bowlby sowohl die klassisch psychoanalytische als auch die lerntheoretische These widerlegt, dass die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind hauptsächlich durch das Füttern bestimmt war, wie beide Theorien damals annahmen.
Bowlby stellte verschiedene Spekulationen an, welchen evolutionsbedingten Nutzen die körperliche Nähe zu einem Muttertier oder einer Gruppe für das Individuum haben und welche Auswirkungen eine Trennung für die Individuen haben könnte. Er kam zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Verhalten wahrscheinlich um einen evolutionsbedingten Schutz vor Raubtieren handelt, sich auch im Erwachsenenalter in der Gruppe sicherer zu fühlen, und allein eher Angst zu verspüren. Dies hat vor allem für Jungtiere und Kinder eine Bedeutung, da sie bei der Trennung von der Mutter besonders gefährdet wären.
Spätere Forschungen bestätigten indirekt seine Theorie. Allerdings brachten erst die Experimente von Mary Ainsworth einen zuverlässigeren Beweis für die Bindungstheorie. Ainsworth entwickelte eine experimentelle Situation, in der sich unterschiedliche Qualitäten des Bindungsverhaltens bei Menschenkindern nachweisen ließen.
Die Bindungstheorie gehört heute zu den etablierten Theorien innerhalb der Psychologie. Viele Forscher untersuchen, Bindung und Interaktion von Eltern und Kindern und ziehen Rückschlüsse auf normale und pathologische Entwicklungen. [2]
Grundlagen der Bindungstheorie
Bindung (englisch: attachment) ist die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen Menschen. Das Neugeborene entwickelt eine spezielle Beziehung zu seinen Eltern (insbesondere der Mutter) oder anderen dauerhaften Bezugspersonen. Dieses „Bindungssystem“ soll das Neugeborene dazu veranlassen, im Falle einer objektiv vorhandenen oder subjektiv erlebten Gefahr oder Bedrohung, Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen zu suchen und einzufordern. Bezugspersonen oder Bindungspersonen sind die Erwachsenen oder älteren Personen mit welchen das Kind den intensivsten Kontakt in seinen ersten Lebensmonaten hatte.
Das Bindungverhalten besteht aus verschiedenen beobachtbaren Verhaltensweisen wie Lächeln, Schreien, Festklammern, Zur-Mutter-Krabbeln, Suchen der Bezugsperson usw. Diese Verhaltensweisen werden als ein Verhaltenssystem beschrieben. Es ist genetisch vorgeprägt und ist bei allen Primatenkindern aber besonders beim Menschen zu finden.

Konkretes Bindungsverhalten wird nur in Alarmsituationen aktiviert, beispielsweise wenn eine Bezugsperson fortgeht oder zu weit entfernt ist. Auch kann man Bindungsverhaltensweisen beobachten, wenn eine Bezugsperson zurückkehrt oder Bittsignale um Schutz und Sicherheit abweist, eine Situation nicht vertraut ist oder das Kind sich aus irgend einem Grund (Angst, Schmerz, Krankheit) unwohl fühlt.
Nähe zur Bindungsperson oder körperlicher Kontakt über eine kurze Zeit beenden i. d. R. das Bindungsverhalten. Andere Verhaltensweisen können nun beobachtet werden wie das Erkundungs- oder exploratives Verhalten.
Exploratives Verhalten ist dem Bindungsverhalten komplementär zugeordnet. Fühlt das Kind sich bindungssicher, wagt es sich von der Bezugsperson weg, und erkundet Gegenstände und Personen in der Umgebung. Allerdings rückversichert es sich häufig durch Blicke zu der sicheren Ausgangsbasis, der Bezugsperson. Das explorative Verhalten spielt einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Autonomie des Kindes.
Das menschliche Bindungsverhalten ist aber auch einer Entwicklung unterworfen. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist das „ursprüngliche“ Bindungs- und explorative Verhalten aus Annäherung und Entfernung von Bindungspersonen nicht mehr offensichtlich beobachtbar. Dennoch konnte die Bindungstheorie verschiedene Zusammenhänge zwischen frühem Bindungsverhalten und dem Verhalten von ältern Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen finden. Der in der frühen Kindheit erworbene Bindungstyp findet einen Niederschlag in der Psyche, d. h. das es sich bei der Bindung nicht nur um ein Verhaltenssystem handelt, sondern auch psychologische Auswirkungen zu finden sind. Bowlby sprach hier von „inner working models“. Dies sind Erwartungen, die ein Mensch an die Verlässlichkeit von Bezugspersonen entwickelt hat, und auch auf andere, aktuelle Beziehungen überträgt. Psychoanalytische Forscher, die sich später mit der Bindungstheorie auseinander gesetzt haben sprechen von psychischen Repräsentanzen (Bindungsrepräsentanzen). Kognitionspsychologen würden eher von Schemata also Bindungsschemata sprechen.
Wichtig erscheint, dass Bindung nicht eine Eigenschaft des Kindes (oder der Bindungsperson) allein darstellt: Die sich entwickelnden Bindungstyp sind vielmehr ein Merkmal der Eltern-Kind-Beziehung, also eine zwischenmenschliche Qualität, die von beiden Beteiligten getragen wird. Welches Bindungsverhalten das Kind entwickelt, ist also nicht überwiegend ein Spiegelbild seines Temperaments oder Charakters.
Der Begriff Interaktion (synonym: Wechselwirkung) ist eine Bezeichnung dieses zwischenmenschlichen, wechselseitigen Verhaltens. In der Sozialpsychologie bezeichnet der Begriff heute jede Art der Wechselwirkung oder wechselseitiger Bedingtheit im sozialen Verhalten. Er wurde zuerst von John Bowlby in seinem Aufsatz „Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung“ [3] im Zusammenhang mit dem sozial Verhalten verwendet. Die Bindungstheorie konzentriert sich darauf, dieses spezielle Interaktionsverhalten empirisch fassbar zu machen und versucht einen Zusammenhang zwischen der Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson und der Entwicklung individueller Merkmale des Kindes zu finden. Auch werden die individuellen Merkmale der Bezugsperson untersucht, die einen Beitrag zu der Etablierung bestimmter, zu unterscheidender, Bindungstypen beim Kind haben.
Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zum dritten Lebensmonat, kann hierbei die Bindungsperson beinahe beliebig wechseln. Später entsteht eine feste Bindung zu einer oder mehreren Personen (bspw. Mutter, Vater, Geschwister oder Amme). Sobald das Kind die motorischen Fertigkeiten Lokomotion entwickelt hat, ist es ab dem 7 bis 8 Monat fähig, sich aktiv in die Nähe der Bezugsperson zu bewegen bezw. die Umgebung selbstständig zu explorieren, zu erkunden. Es beginnt ein eigenes Individuum zu werden (Individuationsphase). Auch setzt in dieser Zeit die Objektpermanenz ein, welche es dem Kind ermöglicht, eine Vorstellung von einem Objekt zu haben, ohne das dieses direkt anwesend ist. Ab etwa dem dritten Lebensjahr ist es dem Kind möglich, das Verhalten des anderen je nach Situation zu beeinflussen. [4]

Das individuelle Bindungsverhalten/der Bindungstyp eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Mit seiner Bindungsperson/ seinen Bindungspersonen entwickelt das Kind ein Bindungsverhalten oder eine Bindungsstrategie welche, nachdem sie sich gefestigt hat, weitgehend konstant erhalten bleibt. Die stärkste Prägung findet dabei innerhalb der ersten sechs Lebensmonate statt. Allerdings ist eine gewisse Plastizität des Bindungsverhaltens zu beobachten in dem Sinne, dass dieses Verhalten sich im Verlauf der Kindheit und Jugend mitunter ändert. Später im Erwachsenenalter wird das bis dahin erworbene Bindungsverhalten normalerweise beibehalten und verfestigt sich im ständigen Gebrauch zu einem scheinbaren Wesensmerkmal.
Durch die Bindungstheorie kann die frühe Mutter-Kind-Beziehung untersucht werden, und es konnte nachgewiesen werden, dass sie eine Bedeutung für die spätere Entwicklung besitzt. Positive und negative Bindungserfahrungen unterliegen einer Verallgemeinerung. Sie werden im weiteren Lebensverlauf auf andere Menschen „übertragen“ („carry over“ Effekt). Für die Psychopathologie konnten beispielsweise signifikante Zusammenhänge zwischen Bindungsqualität mit einem und Psychopathologie mit sechs Jahren gefunden werden [5].
Bindungsverhalten lässt sich in den ersten drei Lebensjahren meist direkt beobachten und ab dem Vorschulalter und im Erwachsenenalter mit spezifischen psychologischen Tests nachweisen. Die Bindungstheorie besitzt eine hohe Aussagekraft für die Entwicklung von spezifischen Bindungstypen. So kann beispielsweise mit hoher Wahrscheinlichkeit durch spezifische Testverfahren von Aussagen werdender Mütter über ihr ungeborenes Kind auf die spätere Entwicklung von bestimmten Bindungstypen der Kinder geschlossen werden. [6] [2]
Die „Fremde Situation“

Siehe hierzu den Hauptartikel: Die fremde Situation
Mary Ainsworth und ihre Kollegen entwickelten Ende der 1960er Jahre mit der sogenannten „Fremden Situation“ ein Setting zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster. Marry Ainsworth gelang es, Bowlbys Bindungsmodell in einer standardisierten Situation beobachtbar zu machen. Dafür erdachte sie eine qualitative Testsituation. In dieser Situation finden 12 bis 18 Monate alte Kinder die typischen Gegebenheiten vor, die nach Bowlbys Theorie sowohl Bindungs- als auch Exploratives Verhalten aktivieren, in einer annähernd natürlichen Situation vor. Dadurch können Unterschiede in dem Bindungs- und Explorationsverhalten beobachtet werden [4][6].
Der Vorgang wird videotechnisch aufgezeichnet und bewertet. Untersuchungsgegenstand ist in erster Linie die kindliche Reaktion in den Trennungs- und Wiedervereinigungsmomenten, um die individuellen Unterschiede in der Bewältigung von Trennungsstress festzustellen [4].
Zunächst wurden lediglich drei Ausprägungen von Bindungstypen, welche sich innerhalb der Interaktion mit der Bindungsperson entwickeln können, wurden festgestellt: sicher, unsicher- vermeidend und unsicher- ambivalent. Erst später wurden Kinder zusätzlich als desorganisiert/ desorientiert gebunden, klassifiziert.
Die Beziehungsqualitäten/Bindungstypen des Kindes
Es werden heute meist vier Bindungstypen bei Kindern unterschieden:
Die sichere Bindung B-Bindung
Sicher gebundene Kinder entwickeln aufgrund von elterlicher „Feinfühligkeit“, welche durch vorwiegend positive Interaktionen und beständiges, nachvollziehbares Verhalten gekennzeichnet ist eine große Zuversichtlichkeit in Bezug auf die Verfügbarkeit der Bindungsperson, zumeist also der Mutter. Diese Kinder weinen durchaus innerhalb der „fremden Situation“. Sie zeigen diese Gefühle deutlich, akzeptieren den Trost der fremden Frau (einer zum Test gehörenden Untersucherin) im Raum jedoch sogar zum Teil. Obwohl die Trennung bei diesen Kindern also mit negativen Gefühlen verbunden ist, vertrauen sie darauf, dass die Bindungsperson sie im Bedarfsfall nicht im Stich lassen oder in irgendeiner Weise falsch reagieren wird. Die Bindungsperson erfüllt in einer derartigen Bindung die Rolle eines „sicheren Hafens“, der immer Schutz bieten wird, wenn man dessen bedarf. Diese Kinder sind traurig darüber, dass die Bindungsperson nicht bei ihnen ist, gehen aber davon aus, dass sie wieder kommen wird. Kehrt die Bindungsperson in den Raum zurück, freuen sich die Kinder demnach und suchen Nähe und Kontakt, wenden sich aber kurz danach wieder der Exploration des Raumes zu. In den USA sind ca. 60 % der Kinder sicher gebunden [7].
Die unsicher-ambivalente (ängstlich-widerstrebende; resistente, ambivalente) C-Bindung
Kinder die hier beschrieben werden, zeigen sich ängstlich und abhängig von ihrer Bindungsperson. Geht die Bindungsperson, reagieren die Kinder extrem belastet. Die fremde Frau wird ebenso gefürchtet wie der Raum selbst. Schon bevor die Bindungsperson hinausgeht, zeigen diese Kinder Stress, da sie die fremde Situation fürchten, was ihr Bindungssystem schon von Beginn an aktiviert. Die Kinder reagieren so auf das korrelierende Bindungspersonverhalten: Die Bindungsperson reagiert für das Kind nicht zuverlässig, nachvollziehbar und vorhersagbar. Der ständige Wechsel von einmal feinfühligem, dann wieder abweisendem Verhalten führt dazu, dass das Bindungssystem des Kindes ständig aktiviert sein muss. Es kann schwer einschätzen, wie die Bindungsperson in einer bestimmten Situation handeln oder reagieren wird. Das Kind ist somit permanent damit beschäftigt, herauszufinden, in welcher Stimmung sich die Bindungsperson gerade befindet, was sie will und was sie braucht, damit es sich entsprechend anpassen kann. Dies führt zu einer Einschränkung des Neugier- und Erkundungsverhaltens des Kindes, welches sich nicht auf die Exploration des Raumes konzentrieren kann. Diese Kinder können keine positive Erwartungshaltung aufbauen, weil die Bindungsperson häufig nicht verfügbar ist (eben auch nicht dann, wenn sie de facto in der Nähe ist). Dementsprechend erwarten sie keinen positiven Ausgang der Situation und reagieren extrem gestresst und ängstlich innerhalb der „fremden Situation“ (30% der Kinder in den USA [7]).
Die unsicher-vermeidende Bindung (A-Bindung)
Die hier beschriebenen Kinder reagieren scheinbar unbeeindruckt, wenn ihre Bindungsperson hinausgeht, spielen, erkunden den Raum und sind auf den ersten Blick weder ängstlich noch ärgerlich über das Fortgehen der Bindungsperson. Durch zusätzliche Untersuchung der physiologischen Reaktionen der Kinder während der Situation, wurde jedoch festgestellt, dass ihr Cortisolspiegel bei Fortgehen der Bindungsperson höher ansteigt, als der sicher gebundenen Kinder, welche ihrem Kummer Ausdruck verleihen. Kommt die Bindungsperson zurück, wird sie ignoriert. Die Kinder suchen die Nähe der fremden Person und meiden die ihrer Bindungsperson. Unsicher-vermeidenden Kindern fehlt die Zuversicht bezüglich der Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson. Sie entwickeln die Erwartungshaltung, dass ihre Wünsche grundsätzlich auf Ablehnung stoßen und ihnen kein Anspruch auf Liebe und Unterstützung zusteht. Dieses Bindungsmuster ist bei Kindern zu beobachten, die häufig Zurückweisung erfahren haben. Diese Kinder finden einen Ausweg aus der belastenden bedrohlichen Situation des immer wieder Zurückgewiesen-Seins nur durch Beziehungsvermeidung. Sie wenden ihre Aufmerksamkeit von der Bindungsperson ab, was sie in die Lage versetzt, das Risiko von Zurückweisung zu minimieren (10% der Kinder in den USA [7]).
Die desorganisiert/desorientierte erscheinende D-Bindung
Auch: Bindungambivalent-vermeidende (A/C-Bindung) bzw. unstabil-vermeidende Bindung [6]. Der desorganisierte Bindungstyp wurde erst wesentlich später festgestellt. M. Main, die auch Erwachsene mit dem AAI (Adult Attachement Interview) untersuchte, führte diese Klassifikation ein. Es gab immer auch Kinder, deren Verhalten sich nicht eindeutig in eine der drei Hauptreaktionsschemata einordnen ließen. Martin Dornes verdeutlicht dies in seinem 1997 erschienenen Buch Die frühe Kindheit. folgendermaßen: „Manche näherten sich der Bindungsperson (wie Sichere), drehten dabei aber den Kopf zur Seite (wie Unsichere); andere zeigten extreme Vermeidung (wie A-Kinder), aber untypischerweise zugleich viel offenen, unberuhigbaren Kummer (wie ambivalente C-Kinder) oder benahmen sich in Episode 5 wie Sichere, in Episode 8 aber wie Vermeidende“ [6]. Ainsworth und auch nachfolgende Kollegen stuften diese Kinder meist innerhalb der sicheren Kategorie, und einige wenige als vermeidend, ein. Nach Einführung des 4. Bindungstyps (der D-Bindung) wurden die „bisher forciert klassifizierten Fälle. .. erneut gesichtet“ (Dornes). Ein großer Anteil dieser Kinder wurde schließlich als desorganisiert/desorientierter Bindungstyp klassifiziert. Kinder deren Verhalten diesem Bindungsmuster zugeordnet wird, zeigen äußerst unerwartete, nicht „klassifizierbare“ Verhaltensweisen. Dazu gehören Stereotypien und unvollendete oder unvollständige Bewegungsmuster. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass ein Kind auf jeden Fall eine Bindung zu seiner Bindungsperson aufbauen muss. Die Bindungsverhaltensweisen werden aktiviert, sobald es Schutz und Unterstützung bedarf. Allerdings konnte das Kind keine einheitliche Bindungsstrategie entwickeln um Schutz und Trost zu bekommen: Wenn die Bindungsperson – also der Mensch der Schutz bieten soll – zugleich der Auslöser für das Bindungsverhalten ist, also selbst die Bedrohung darstellt, dann gerät das Kind in eine sogenannte Double Bind-Situation, aus der es für das Kind keinen Ausweg gibt. Die Bindungsperson ist in diesem Falle häufig eine, die auf das Kind selbst beängstigend wirkt, weil sie zu gewalttätigem Handeln neigt und/oder das Kind seelisch und verbal misshandelt.
Eine andere Ursache für dieses Bindungsverhalten zeigt sich bei Kindern, deren Bindungspersonen unter den Folgen eigener Traumata leiden. Die traumatischen Erfahrungen zeigen sich den Kindern im verängstigten Verhalten ihrer Bindungspersonen. Die Angst, die sich im Gesicht einer Bindungsperson spiegelt, welche unter Intrusionen (hartnäckiges Eindringen von traumagebundenen Bildern und Gefühlen in die Gedanken) leidet, ist für ein Kind erschreckend und aktiviert sein Bindungssystem. Die Quelle der Angst ist aber für das Kind nicht nachvollziehbar. Die Bindungsperson kann in einer solchen Situation zumeist nicht adäquat auf die Versorgungsbedürfnisse ihres Kindes eingehen. So zeigten manche Mütter bespw. auch das beinahe eine Minute lange einfrieren aller Bewegungen, oder zeigten sich durch neutrale Verhaltensweisen ihren Kindern in Angst versetzt. Das Kind erlebt schließlich die Welt ständig als einen bedrohlichen Ort, dessen Schrecken sich in der Bezugsperson widerspiegelt. Desorganisiert gebundene Kinder erschrecken wenn ihre Eltern den Raum nach kurzer Trennung wieder betreten, und zeigen eine Mischung von Strategien, wie unsicher-vermeidend und unsicher widersetzendem Verhalten. Einige dieser desorganisiert eingestuften Kinder schreien nach ihren Bindungsfiguren nach der Trennung, entfernen sich aber bei der Wiedervereinigung. Andere reagieren wie gelähmt mit einem benommenen Gesichtsausdruck für 30 Sekunden, und/oder drehen sich im Kreis und/oder lassen sich auf den Boden fallen, wenn sie sich an den jeweiligen Elternteil wenden. Wieder andere desorganisierte Kleinkinder erscheinen ängstlich in der „Fremden Situation“ mit geängstigtem Gesichtsausdruck, hochgezogenen Schultern und/oder einem Einfrieren aller Bewegungen. [8] [6] Untersuchungen von Ainsworth und Crittenden legen eine ähnliche Klassifizierung nahe, die sie als ambivalent-vermeidend (A/C-Bindung) bzw. unstabil-vermeidend bezeichneten [6].
Auswirkungen von Bindungstyps auf die weitere Entwicklung des Kindes
Durch die Bindungstheorie konnten langfristige Effekte der frühen Bindungsperson-Kind-Beziehung nachgewiesen werden. Aus der Qualität die beim Fremde-Situations-Test bei den 18 - 24 Mon. alten Kindern festgestellt wurde, können einige zutreffende Vorhersagen abgeleitet werden:
Sicher gebundene Kinder zeigen später adäquateres Sozialverhalten im Kindergarten und in der Schule, mehr Phantasie und positive Affekte beim freien Spiel, größere und längere Aufmerksamkeit, höheres Selbstwertgefühl und weniger depressive Symptome. In anderen Studien zeigten sie sich offener und aufgeschlossener für neue Sozialkontakte mit Erwachsenen und Gleichaltrigen, als vermeidende und oder ambivalent gebundene Kinder. Sicher gebundene Jungen zeigten mit sechs Jahren weniger Psychopathologie als die unsicher gebundenen. [5].
Entsprechende Bindungseinstellung der Erwachsenen Bezugsperson
Dem Muster des Bindungsverhaltens liegen verschiedene Strategien des Kindes zugrunde, mit denen es versucht, seine emotionalen Bedürfnisreaktionen zu regulieren. Dieses Regulieren erreicht das Kind mit Unterstützung der Person, zu der es die Bindung eingegangen ist. Es ist demnach plausibel, dass der Bindungstyp, welchen das Kind ausbildet, das Verhalten des Erwachsenen widerspiegelt. Es lässt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem „Bindungstyp“ des Kindes und der „Bindungseinstellung“ der Bezugsperson nachweisen. Es wurde weiterhin aufgezeigt, dass diese Bindungsrepräsentanzen eine generationenübergreifende Kontinuität aufweisen können. So gibt es Untersuchungen, wie das Adult Attachemnt Interview (AAI) über die Befragung schwangerer Erstgebärender, die Vorhersagen von bis zu 80%iger Übereinstimmung zwischen den Aussagen werdender Mütter und dem sich entwickelnden Bindungsmuster des – damals noch ungeborene – Kindes zulassen.
Das Adult Attachment Interview (AAI) wurde von Mary Main und ihren MitarbeiterInnen zur Erforschung von Bindungseinstellungen bzw. Bindungsqualitäten Jugendlicher und insbesondere Erwachsener entworfen.
Beim AAI handelt es sich um ein sogenanntes halbstrukturiertes beziehungsweise halbstandardisiertes Interview. Es liegt demnach ein fixierter Fragenkatalog vor, jedoch haben die InterviewerInnen die Möglichkeit, durch Nachfragen auf etwaige Besonderheiten oder Ungenauigkeiten einzugehen.
Die gestellten Fragen umreißen das Erleben der frühen Kindheit, zum Beispiel durch Fragen nach
- einer kurzen Darstellung der äußeren Lebensumstände
- der Beziehung zu den Eltern
- der Beziehung zur Mutter, wobei 5 ihrer Eigenschaften mit konkreten Erläuterungen genannt werden sollen
- der Beziehung zum Vater, wobei ebenfalls 5 seiner Eigenschaften erläutert werden sollen
- dem Vergleich der Beziehungen zu Mutter und Vater.
Gefragt wird weiterhin
- bei wem Zuwendung und Unterstützung gesucht wurde in Belastungssituationen, bei Traurigkeit und Krankheit
- welche Trennungserfahrungen vorliegen
- ob es Erfahrungen von Zurückweisungen gibt
- ob Erfahrungen von Bedrohung oder Misshandlung vorliegen
- wie die heutige Beziehung zu den Eltern aussieht und wie sie bewertet wird.
Wichtig sind den InterviewerInnen weiterhin Fragen nach dem Einfluss der Kindheitserfahrungen auf die heutige Persönlichkeit und inwiefern die Befragten heute Verständnis für das elterliche Verhalten zeigen. Gefragt wird außerdem nach zusätzlichen wichtigen Bindungspersonen in der (frühen) Kindheit und ob es Verluste von Eltern und/oder anderer Bindungspersonen innerhalb der Kindheit zu beklagen gab. Interessant ist zudem, ob und wie eine Veränderung in der Beziehung zu den Eltern im Vergleich zu früher aussieht.
Schließlich stellen die InterviewerInnen Fragen zum eigenen Kind. Hierbei wird zum Beispiel nach der Reaktion auf eine Trennung vom eigenen Kind gefragt und welche Sorgen sich Eltern um das Kind machen. Die Erwachsenen sollen im AAI drei Wünsche für die Zukunft ihres Kindes formulieren. Abschließend sollen die Befragten ein Resümee zum Erleben ihrer eigenen Kindheit und zur Kindheit ihres eigenen Kindes liefern.
Vom Interview wird eine Abschrift (Transkript) gefertigt, welches nach einer bestimmten Methode ausgewertet wird. Eingeschätzt werden soll die generelle Einstellung gegenüber Bindungen. Das wesentliche Merkmal für die Kategorisierungen in die im Folgenden aufgeführten Bindungsrepräsentanzen ist die Kohärenz in den Äußerungen der Befragten. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Befragten Trennung oder Traumatisierung in ihrer Vergangenheit erlebt haben, sondern vielmehr ob sie in der Interviewsituation in der Lage sind kohärent von ihrer damaligen und heutigen Situation berichten. Als inkoherent gelten bespw. unvollständige Berichte oder Unstimmigkeiten. Manche befragte berichteten von dem Tod eines Elternteils und ihrer Beziehung zu ihr, brechen die Erzählung aber plötzlich ab, und berichten von unzusammenhängenden Ereignissen. Oder berichten von der besonderen Liebenswürdigkeit einer Bezugsperson, als Beispiel können sie aber nur eine Misshandlungssituation erinnern. [8]
Bindung Erwachsener und die Auswirkungen auf die Bindungsqualität ihrer Kinder
Die Bindungsrepräsentanzen oder Bindungschemata der Erwachsenen konnten bestimmten Bindungstypen Ihrer Kinder zugeordnet werden, die ebenfalls in der „fremde Situation“ untersucht wurden:
1. Die autonome Bindungseinstellung (F; free-autonomous): Kinder, welche sicher gebunden sind, reagieren auf Erfahrungen von vorwiegend positiv und hinreichend koordinierten, nachvollziehbaren Interaktionen mit ihrer Bindungsperson. Diese Bindungspersonen werden als solche mit Selbstvertrauen, Frustrationstoleranz, Respekt und Empathiefähigkeit beschrieben. Sie sind sich der negativen wie positiven Affekte und Einstellungen gegenüber ihren eigenen Bindungspersonen bewusst und reflektieren diese in angemessener Weise und Distanz. Eine unbewusste Identifikation mit ihren Eltern zeigt sich kaum – die eigene Eltern-Kind-Beziehung wird realistisch betrachtet und nicht idealisiert. Diese Mütter hatten zumeist selbst Mütter mit einer autonomen Bindungseinstellung oder haben ihre sichere Bindung im Laufe ihrer Biographie durch die Möglichkeit zu alternativen Beziehungserfahrungen mit anderen, nicht primären Bindungspersonen, durch einen Partner oder zum Beispiel mit Hilfe einer psychotherapeutischen Unterstützung erhalten. In der Regel reagieren diese Eltern vorhersehbar und angemessen auf ihre Kinder. Bindungsbedürfnisse werden nicht zurückgewiesen oder ignoriert. Ihre Kinder entwickeln sich zu einem Großteil sicher gebunden. Sie können sich vertrauensvoll an ihre Eltern wenden, wenn das Bindungssystem aktiviert wird. Im Gegenzug können sie diese sichere Basis als Ausgangspunkt für exploratives Verhalten nutzen.
Im AAI fallen diese Erwachsenen durch relativ genaue Erinnerungen auf und stellen ihre Kindheit und das Beziehungsgeschehen in ihrem Leben ausgewogen, sachlich und kohärent dar. Auch negative Erfahrungen werden zugelassen und können mit einer gesunden Distanz geschildert werden. Im Erzählten wird eine Integration von kognitiven und affektiven Aspekten deutlich.
2. Die distanziert-beziehungsabweisende Bindungseinstellung (D; dismissing): Erwachsene mit dieser Bindungsrepräsentanz können sich kaum an ihre eigene Kindheit erinnern, was bedeutet, dass sie viel verdrängt haben. Tendenziell idealisieren sie ihre Eltern und deren Erziehungsmethoden, wenngleich keine konkreten Situationen aufgezählt werden können, welche diese Idealisierung rechtfertigen. Berichtet wird hingegen von mangelnder elterlicher Unterstützung sowie von Zurückweisung (offen oder verdeckt) der kindlichen Bedürfnisse. Die Erwachsenen mit einer distanziert-beziehungsabweisenden Bindungseinstellung verleugnen die Bedeutung ihrer eigenen Erfahrungen mit den Eltern und deren Folgen für die Färbung ihres affektiven Kerns. Sie zeigen ein sehr großes Unabhängigkeitsbestreben und verlassen sich lieber auf die eigene Stärke. Sie formulieren, die fehlende Hilfe nicht vermisst zu haben und diesbezüglich auch keine Wut oder Trauer zu verspüren. Kinder dieser Erwachsenen können eher mit affektiver Unterstützung und Einstellung auf ihre Bedürfnisse rechnen, wenn sie versuchen, eine Aufgabe zu bewältigen. Die Kinder werden früh unter Leistungsdruck gesetzt. Den Ergebnissen von George, Kaplan und Main (1985) zufolge, welche diese Bindungsrepräsentanzen der Eltern durch das „Adult Attachment Interview zur Erfassung von elterlichen Bindungsrepräsentanzen“ systematisch erforschten, gefällt es diesen Müttern, wenn die Kinder Anhänglichkeit zeigen. Allerdings neigen sie dann dazu, das Kind zu ignorieren, wenn es Beruhigung und Unterstützung braucht.
Im AAI fallen diese Erwachsenen durch geringes Erinnerungsvermögen auf. Es kommt zu einer Idealisierung der Eltern, oder zu einer Abwertung von Bindungspersonen und Bindung im Allgemeinen. Die Aussagen sind inkohärent und getragen von überwiegend kognitiven Aspekten.
3. Die präokkupierte, verstrickte Bindungseinstellung (E; entangeld-enmeshed): Diese Einstellung haben häufig Menschen, welche von den Erinnerungen an die eigene Kindheit flutartig überschüttet und permanent belastet sind. Die Probleme und Schwierigkeiten innerhalb der Beziehung zur eigenen Bindungsperson konnten sie nicht verarbeiten; sie überbewerten sie und pendeln zwischen Gefühlen wie Wut und Idealisierung hin und her. Letztlich stehen sie noch immer in einer Abhängigkeitsbeziehung zu den eigenen Bindungspersonen und sehnen sich nach deren Zuwendung und Wiedergutmachung. Die Mütter von Menschen mit dieser Bindungsrepräsentanz waren in den häufigsten Fällen „schwach“ und „inkompetent“ und konnten dementsprechend in Bedrohungssituationen, in denen ihre Kinder das Bindungssystem aktivierten, weder Schutz noch Beruhigung bieten. Kann die Mutter (oder entsprechende Bindungsperson) die Angst ihres Kindes nicht beseitigen, kommt es zu vermehrtem Anklammern. Die Ablöseprozesse beim Kind werden auch deshalb als besonders erschwert gesehen, weil die „schwache“ Mutter das Kind häufig parentifiziert und es daher schließlich das Gefühl hat, die Mutter versorgen zu müssen. Kindern solcher Eltern wird durch Verwöhnung und/oder durch das Hervorrufen von Schuldgefühlen verwehrt, sich explorativ zu verhalten und Wut, Aggressionen, Trotz und Unabhängigkeitsbestreben zu zeigen. Geraten sie in Konfliktsituationen mit der Bindungsperson, werden solche aufkommenden Gefühle weggeschaltet oder das Kind lenkt sich ab. Die Entwicklung einer eigenständigen Identität ist erschwert, weil das Kind sich nicht an der eigenen Gefühls- und Motivationslage orientieren kann, sondern permanent die Gefühlslage der Bindungsperson erfassen muss. Diese Kinder gehören oft zum unsicher-ambivalent gebundenen Typ. Sie werden häufig wiederum die beziehungsüberbewertenden, aber unsicheren Bindungspersonen für ihre eigenen Kinder, welche dann mangelnder Aufmerksamkeit und wenig Einfühlungsvermögen begegnen. Auf die Initiativen des Babys gehen Eltern mit beziehungsüberbewertender Bindungseinstellung nicht angemessen ein und reagieren häufig erst dann einfühlsam, wenn das Kind große Furcht und Schrecken zeigt. Das Kind kann daraufhin mit einer Verstärkung eben dieses Verhaltens reagieren, um die Aufmerksamkeit der Bindungsperson zu bekommen. Es besteht die Gefahr einer masochistischen Unterwerfung.
Im AAI fallen Erwachsene dieser Kategorie durch unausgewogene Darstellung und Beurteilung der Beziehung zu den Eltern auf. Die Aussagen sind inkohärent und getragen von affektiven Aspekten wie Hilflosigkeit und Wut.
4. Die von unverarbeitetem Objektverlust beeinflusste Bindungseinstellung (U; unresolved): Bindungspersonen, die unter einem unverarbeiteten Trauerprozess leiden oder nichtverarbeitete Erfahrungen von Misshandlung oder sexuellem Missbrauch überlebten, haben sehr häufig Kinder des desorganisiert/desorientierten Bindungstyps. Als Erklärung dient die Annahme, dass Bindungspersonen, welche unter Traumatisierungen leiden, keinen Schutz bieten können, bei ihren Kindern jedoch verhältnismäßig oft das Bindungsverhalten aktivieren, da sie ausgeprägte Furcht vor einem Grauen zeigen, welches für das Kind nicht greifbar ist. Wenn die traumatisierte Bindungsperson das Kind unter Umständen misshandelt, missbraucht, permanent beschämt etc., wird sie nicht zu einer vor Gefahren schützenden Instanz für das Kind, sondern selbst zu einer Quelle der Angst und Gefahr. Auch hier kommt es häufig zu einer Parentifizierung der Kinder durch ihre Eltern. Mütter mit Bindungsrepräsentanz dieses Typs überlassen ihren Kindern die Führung in der Beziehung in ungewöhnlichem Ausmaß. Generationsgrenzen werden überschritten und die Kinder fühlen sich in der Pflicht, ihre Eltern zu versorgen und ihr psychisches wie auch physisches Wohl zu sichern.
Im AAI reagieren die befragten Erwachsenen dieser Einordnung verwirrt und beschreiben ihre häufig traumatischen Erfahrungen und deren Auswirkungen in desorientierter, inkohärenter Weise. Sie pendeln zwischen positiven und negativen Sichtweisen hin und her und ihre Antworten sind irrational. Generell können sie sich nur schwer auf das Interview und dessen Themen einlassen. [6]
Nicht klassifizierbarer Bindungstyp (CC)
Innerhalb der Untersuchungen zum AAI wird diskutiert, eine weitere Kategorie für nicht zuzuordnende Erwachsene zu schaffen. Diese sind gekennzeichnet durch:
- Person wechselt im AAI zwischen distanziertem und präokkupiertem Bindungstyp, ohne dass eine klare Strategie zu erkennen ist
- Meist Darstellung von schwerwiegenden traumatischen Erfahrungen
- Zutiefst negative Einstellung gegenüber Bindung
- Verfügt über unvereinbare Denk- und Verarbeitungsstrategien.[6]
Zusammenhänge zwischen der Bindung Erwachsener und kindlichen Bindungstypen
Wie zu erwarten zeigten sich bei der Untersuchung sowohl der Eltern als auch der Kinder statistische Zusammenhänge, welche die Bedeutung der Bindungsrepräsentanzen bei den Eltern für die Entwicklung von bestimmten Bindungstypen bei den Kindern haben.
- Autonom klassifizierte Mütter hatten häufiger sicher gebundene Kinder (F→B).
- Beziehungsabweisende (Distanzierte) eher vermeidend gebundene Kinder (D→A)
- Verstrickte Mütter eher ambivalente Kinder (E→C).
- Eltern, die unter einem unbewältigten Trauma leiden haben vermehrt desorganisierte gebundene Kinder (U→D).[6]
Hierbei liegt die Übereinstimmung der Ergebnisse besonders hoch bei der sicheren Gruppe (F→B). Autonome Eltern haben mit 75 bis 82% sicher gebundene Kinder. Die anderen Gruppen liegen etwas darunter.[7]
Modifikation des Konzepts Bowlbys in der neueren Forschung
Während John Bowlby auf der Grundlage seiner empirischen Befunde strikt die These vertrat, dass für den Aufbau einer stabilen Bindung die Beziehung des Kindes zu einer zentralen Bindungsperson (normalerweise die Mutter) konstitutiv sei, haben neuere Forschungen zu der Auffassung geführt, dass Kindern ein solcher Bindungsaufbau auch dann gelingt, wenn gleichzeitig Beziehungen zu mehreren Bindungspersonen bestehen.
Dies betrifft in erster Linie eine Aufwertung der Bedeutung des Vaters, ist aber auch in solchen Konstellationen von Bedeutung, wo im Falle berufstätiger Mütter neben die leibliche noch eine Pflegemutter tritt, zu der Kinder oft intensive Beziehungen aufbauen. Hierbei wird jedoch beobachtet, dass das Kind eine deutliche Unterscheidung zwischen den verschiedenen Bindungspersonen vornimmt, indem es ihnen unterschiedliche Funktionen zuordnet (z.B. bleibt die leibliche Mutter häufig die zentrale Bindungsperson, an die das Kind sich vorrangig wendet, wenn es sich schlecht fühlt).
Interessanterweise scheinen selbst sehr kleine Kinder in der Lage zu sein, die Bindung zu einer Tagesmutter in einer Kindertagesstätte auf einen funktionalen Aspekt zu reduzieren, sofern sie zu ihren primären Bindungspersonen eine sichere Bindung aufgebaut haben. Als Indiz für diese Annahme dient die Beobachtung, dass sicher gebundene Kinder ihr Verhalten in der Kindertagesstätte nicht oder nur geringfügig ändern, wenn sie es mit einer anderen als der gewohnten Betreuungsperson zu tun haben. Gerade bei der Eingewöhnung der Kinder in die anfangs ungewohnte Situation in einer Kindertagesstätte zeigt sich aber zugleich die Richtigkeit von Bowlbys Konzept einer primären Bindungsperson: Die Eingewöhnung gelingt nachweislich besser, wenn das Kind in der Anfangsphase von der Mutter begleitet und somit schonend in die neue Situation eingeführt wird.
Auch zeigte sich, dass nicht die Quantität der Beziehung zu einer oder mehreren Bezugspersonen ausschlaggebend für die Entwicklung einer bestimmten Bindung ist, sondern die Qualität. Bowlby nahm an, dass die ständige Verfügbarkeit in den ersten Lebensjahren unabdingbar ist, damit das Kind eine sichere Bindung entwickeln kann. Die Entwicklung der Bindung hängt aber nicht von der ständigen Anwesenheit der Bezugsperson ab, sondern von der entwickelten Qualität der Bindung. Dies hätte auch Auswirkungen auf die Diskussion um die Kinderkrippen nach dem ersten Lebensjahr berufstätige Mütter.
Bindungsdiagnostik und Methoden
Obwohl man bei 12 - 36 Monate alten Kindern das Bindungsverhalten leicht beobachten kann, ist dies bei älteren Kindern und Erwachsenen schwieriger. Bei älteren Kindern und Erwachsenen findet man aber zumeist Einstellungen gegenüber Bindungen oder es ist möglich, die Einbeziehung von vergangenen Bindungserfahrungen in die persönliche Lebensgeschichte zu erfragen.
Neben der „Fremdesituation“ die M. Ainsworth zur Untersuchung der Bindungstypen eingeführt hat (siehe: Die „Fremde Situation“), wurden von weiteren Forschern Interviewverfahren und spezifische Testverfahren für Kinder und Erwachsene Eltern entwickelt.
Dazu gehören vor allem das „Adult Attachement Interview“ (AAI) (Erwachsenen – Bindungs – Interview) von M. Main im deutschen herausgegeben von G. Gloger-Tippelt [9]. Der AAI ist ein halbstandartisiertes Interviewverfahren (siehe Absatz: Entsprechende Bindungseinstellung der Erwachsenen Bezugsperson).
Für ältere Kinder zwischen dem achten und dreizehnten Lebensjahr wurde das „Child Attachment Interview“ (CAI) konzipiert. Da es besonders schwierig ist, für Kinder mittleren Alters ein reliables Messinstrument zu erarbeiten, werden beim CAI wiederum halbstandardisierte Interviews von mindestens zwei erfahrenen Untersuchern durchgeführt, die später als Videoaufzeichnung von mind. drei erfahrenen Untersuchern ausgewertet werden. Durch dieses aufwendige Verfahren konnte eine relativ hohe Test-retest-Reliabilität erreicht werden.
Für Kinder im Vorschulalter und frühen Schulalter steht ein Test zur Verfügung, der mit Hilfe von vorgegebenen Geschichten, die im Spiel ergänzt werden, auf den Bindungstyp des Kindes zu schließen versucht. Der Test wurde von I. Bretherton, G. J. Sueess, B. Golby und D. Oppenheim entwickelt.[10]
Psychopathologie und Interaktionsverhalten
Bowlby ging schon früh davon aus, dass längerdauernde Trennungen von einer Bindungsperson einen Trauerprozess auslösen, im Zuge dessen die Trennung mehr oder weniger gut verwunden wird und der in mehreren Phasen verläuft. Ziel des Trauerprozesses ist es, die Abwesenheit der Bindungsperson zu akzeptieren. So erklärte er sich, dass beispielsweise Kinder, die längere Zeit von der Bezugsperson getrennt waren, keinen Ausdruck der Freude beim Wiedersehen zeigten.
Einer oder mehrere Beziehungsabbrüche können bei Kindern dazu führen, generell keine engere Beziehung mehr aufzunehmen oder eine ambivalentes Verhältnis zu nahen Beziehungen zu entwickeln. Bowlbys therapeutischer Ansatz für Erwachsene, den er deutlich von der klassischen Psychoanalyse abhob, bestand darin, diesen Trauerprozess mit den auftauchenden ambivalenten Gefühlen im Beisein eines verständnisvollen Psychotherapeuten zu durchleben. Bowlby sah auch den Therapeuten dabei als Bindungsperson. Bei Kindern sah er es als bedeutende präventive Maßnahme an, sie in der frühen bis mittleren Kindheit möglichst nicht lange von den Eltern zu trennen. Sollte eine solche Trennung unvermeidlich sein, sollte den Kindern ein möglichst stabiles Umfeld geboten werden.
Auf Bowlbys Bindungstheorie geht u. a. auch das heute in westlich orientierten Ländern zum Standard der Kindermedizin gehörende Rooming in zurück.
Nachdem Bowlby und Ainsworth zunächst nur das Bindungsverhalten von „normalen“ Kindern untersuchten, konzentrierte sich die Forschung seit Mitte der 1980er Jahre auch auf die Untersuchung von Risikogruppen. Dazu gehörten z.B. die Kinder von schizophrenen oder depressiven Müttern. Auch wurden Eltern-Kind-Paare untersucht, in denen es nachweislich zu Misshandlungen oder Vernachlässigungen gekommen war [6].
Sämtliche Arbeiten stimmen dahingehend überein, dass misshandelte Kinder wesentlich häufiger unsicher gebunden sind als Kinder einer vergleichbaren Kontrollgruppe [6].
Nachdem die desorganisierte „D“- (nach Main) oder ambivalent-vermeidende „A/C“-Bindung (nach Ainsworth) als Klassifizierung eingeführt wurde, konnten noch deutlichere und genauere Vorhersagen über das Bindungsverhalten gemacht werden. Vor der Einführung der neuen Bindungsklassifizierung waren viel mehr Kinder, die merkwürdige Bindungsreaktionen zeigten als sicher gebunden Klassifiziert worden.
Daraufhin konnte beispielsweise festgestellt werden, dass Jungen bei gleich schwerer Misshandlung häufiger in die stärker gestörte ambivalent-vermeidende (A/C)-Gruppe klassifiziert werden mussten als Mädchen.
Bindungsforscher fanden außerhalb der Fremde-Situation in der Beobachtung alltäglicher Pflege- und Spielinteraktionen heraus, dass vernachlässigende Mütter ihre Kinder wenig stimulierten und wenig auf ihre Signale reagierten, d. h. sie traten nicht in eine „normale“ Beziehungsinteraktion mit ihnen. Misshandelnde Mütter hingegen gaben sich meist große Mühe, während sie zugleich die frustriertesten Kinder hatten. Das Interaktionsverhalten wirkte kontrollierend und gelegentlich irritierend auf die Kinder. Mütter die ihre Kinder adäquat versorgten und auch nicht wegen Vernachlässigung oder Misshandlung aufgefallen waren, wurden als überwiegend sensitiv und flexibel eingeschätzt.
Eine Forschungsgruppe fand heraus, dass als vernachlässigend eingeschätzte Mütter weniger variabel und weniger „echt“ interagierten als normale. Auch sprachen sie weniger in der Babysprache. Mütter die als ablehnend eingeschätzt wurden, interagierten restriktiver und weniger zärtlich.
Dass die Säuglinge in den ersten drei Monaten noch als normal in ihrer Interaktion eingeschätzt wurden, widerspricht der Ansicht, dass insbesondere schwierige Säuglinge Opfer von Misshandlungen würden. Spätere Verhaltensauffälligkeiten müssten so als Folge und nicht als Ursache der Misshandlung betrachtet werden. Misshandelte Kinder werden so überwiegend zu schwierigen, vernachlässigte Kinder werden überwiegend zu schwierigen oder passiven Interaktionspartnern.
Die nachträglich geschaffene, besondere Klassifizierung der desorganisierten Bindung („D“- bzw. „A/C“-Bindung) bildet also häufig traumatisierende und/oder hochgradig inkonsistente Beziehungserfahrungen ab. In Normalpopulationen sind etwa 15% desorganisiert gebunden, in misshandelten etwa 82% oder mehr. Aber auch Kinder aus Multi-Problem-Familien oder von depressiven Müttern können einen dieser Bindungtypen entwickeln. Deshalb kann nicht regelhaft von einer desorganisierten „D“-Bindung auf das Vorkommen von Misshandlungen geschlossen werden.
Das Entwickeln einer nicht sichere Bindung ist an sich allerdings noch keine Psychopathologie. Auch die vorhersehbaren Folgen einer unsicheren Bindung, wie weniger Phantasie im Spiel oder eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne gelten natürlich nicht als Psychopathologie. Allerdings gilt die unsichere Bindung als disponierender Faktor. Stammen unsicher gebundene Kinder aus Hoch-Risiko-Gruppen, zeigen sie sehr häufig große Schwierigkeiten in Sozialverhalten und Impulskontrolle.
Eine Ausnahme bildet hierbei die Gruppe der desorganisiert gebundenen Kinder (D). Die ICD-10 und DSM-IV Diagnose: Bindungsstörung, beschreibt genau diese Bindung von Kindern als pathologisch. Auch andere Diagnosen beziehen sich auf die Bindungtheorie:
- Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)
- Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0)
- Störungen mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F91.2) [11].
Die Bindungsforschung hat sich auch mit der Gruppe misshandelter und vernachlässigter Kinder genau auseinandergesetzt. Hieraus resultierte, dass es mittlerweile als einer der empirische am besten gesicherten Befunde der Entwicklungspsychologie gelten [kann], dass misshandelte Kinder ein gestörteres, insbesondere aggressiveres Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen zeigen als nicht misshandelte[6]. Diese Befunde sind für die gesamte Kindheit gesichert. Vernachlässigte Kinder sind hingegen weniger aggressiv. Sie sind vielmehr passiv und zurückgezogen. Auch kann gesagt werden, dass die Folgen schlimmer sind, je früher die Misshandlung beginnt und je länger sie dauert.
Fortwährend misshandelte oder vernachlässigte Kinder zeigen neben der unsicheren Bindung mehr Aggression, mehr Probleme mit gleichaltrigen und dem Lehrpersonal. Mit zwei bis sechs Jahren u. a. weniger Einfühlsamkeit, reagieren auf den Kummer anderer mit Aggression, sind hypermotorisch, können sich nicht konzentrieren und sind unaufmerksam und geben schnell auf, sind distanzlos oder misstrauisch und zeigen weniger Neugier- und Explorationsverhalten und sind darum weniger intelligent. Am stärksten sind die vernachlässigten Kinder betroffen. Sie zeigen die wenigsten positiven Affekte und die geringste Impulskontrolle sowie die niedrigsten IQ-Werte.
Im Erwachsenenalter zeigen sich ähnliche Ergebnisse. Erwachsene mit unsicher/gestörten Bindungsbeziehungen fühlen sich weniger sozial akzeptiert und sind erheblich depressiver. Auch zeigen sich die Folgen von Misshandlung im Erwachsenenalter durch Gewalttätigkeit, Drogenmissbrauch, Alkoholismus, Suizidalität, Angst, Depression und die Neigung zur Somatisierung.
Bei der Befragung von Frauen beispielsweise, die in ihrer Kindheit Opfer von Inzest waren, schätzten sich nur 14% als sicher gebunden ein, wohingegen 49% der Frauen in einer Kontrollgruppe sich als sicher gebunden einschätzten.
Aus den Ergebnissen der Bindungsforschung kann also gesagt werden, das bestimmte Formen der Interaktion einen positiven wie negativen Einfluss auf die spätere Entwicklung haben kann. Bestimmte Formen wie Missbrauch oder Vernachlässigung haben einen besonders negativen Einfluss, der sehr häufig eine psychischen Störung auslösen kann.
Als Schutzfaktor gelten aus Sicht der vorhandenen Forschungsergebnissen der Bindungstheorie, das stabile Bindungen in der Vergangenheit ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung einer psychischen Störung ist.
Der Bindungsbegriff innerhalb der Kindeswohl-Kriterien
Der Begriff des Kindeswohls ist ein nicht völlig eindeutig bestimmter Rechtsbegriff aus dem Familienrecht, d.h. er ist nicht abschließend und vollständig definiert. Es gibt viele Kennzeichnungen und Definitionsmerkmale sowohl positiver (was zum Kindeswohl gehört) als auch negativer Art (was Kindeswohl eher ausschließt). Sowohl die rechtlichen als auch die psychologischen Definitionen von Kindeswohl nehmen Bezug auf die Bindung des Kindes. Die rechtlichen Kennzeichnungen und Definitionsmerkmale des Kindeswohls sind nach Coester (1982/83) folgende:
- Die Kontinuität und Stabilität des Erziehungsverhältnisses.
- Die Bindungen des Kindes an seine Eltern und Geschwister – hier wird nach der Bindungsqualität und -intensität gefragt.
- Die Haltung der Eltern und des Kindes zur Gestaltung der Beziehungen nach der elterlichen Trennung.
- Der Wille des Kindes als Ausdruck seiner Selbstbestimmung und Ausdruck seiner Verbundenheit zum Elternteil oder beiden Eltern.
Der psychologischen Definition zufolge ist das Kindeswohl insoweit gewährleistet, insofern das Kind in Beziehungen und einem Lebensraum aufwachsen kann, die eine körperliche, emotionale und kognitive Entwicklung ermöglichen, welche das Kind dazu befähigt, schließlich in Einklang mit den gegebenen Rechtsnormen und gesellschaftlichen Grundwerten für sein eigenes Wohlergehen zu sorgen.
Die sichere Bindung wird vor der unsicher-ambivalenten/unsicher-vermeidenden und der desorientiert/desorganisierten Bindung als für das Kindeswohl am günstigsten betrachtet und kann somit als Entscheidungskriterium für die Sorgerechtvergabe bzw. für oder gegen einen Sorgerechtsentzug gewertet werden. Eine Trennung des Kindes von seiner Bindungsperson bzw. seinen Bindungspersonen kann sowohl akute als auch langfristige psychische Folgen für das Kind haben. Eine gerichtliche Entscheidung, welche sich am Kindeswohl orientiert, soll dies berücksichtigen.
In der Praxis ist die Orientierung der Rechtsprechung an der bindungstheoretischen Forschung jedoch durchaus nicht einfach. Festzustellen ist nämlich in diesem Fall, wer die primäre Bindungsperson ist, und es stellt sich die Frage, woran die Hierarchie der Bindungspersonen zu erkennen sei. Nach der Modifizierung der ursprünglichen Bowlby´schen Annahme von lediglich einer primären Bindungsperson ist davon auszugehen, dass sich ein Kind vielmehr an mehrere Personen – im Sinne der Kriterien für Bindung – binden kann. Die Frage, an wie viele erwachsene oder ältere Personen sich ein Kind binden kann, ist hingegen nicht beantwortet.
Handelt es sich gar um einen Sorgerechtsentzug, ist auf dem bindungstheoretischen Hintergrund zu fragen, wie sich das Herausnehmen des Kindes aus seiner Ursprungsfamilie auf seine psychische Entwicklung auswirkt. Bowlby geht davon aus, dass sich der Bindungstyp innerhalb der ersten Lebensjahre eines Kindes manifestiert und eine große Stabilität bis ins Erwachsenenalter aufweist. Demnach werden frühe Bindungen zu Mitgliedern der Ursprungsfamilie als stärker und einflussreicher erachtet.
Es kann keineswegs prinzipiell davon ausgegangen werden, dass unsicher oder desorganisiert gebundene Kinder sich leichter und bereitwilliger von ihren Bezugspersonen trennen. Die Intensität der Bindung ist wiederum kein Indiz für eine gute Qualität der Bindung.
Die gute Qualität einer Bindung (sichere Bindung) kann ggf. auch bedeuten, dass das stabil gebundene, mit positiven Grundannahmen bezüglich seiner sozialen Umwelt ausgestattete Kind mit einer Trennung von der Ursprungsfamilie besser zurecht kommt. Dies bedeutet andererseits, dass Trennungen von den Bindungspersonen für unsicher gebundene und desorganisiert gebundene Kinder schwerer zu verkraften sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass neue Bindungen mit guter Qualität schwerer aufgebaut werden können.
Siehe auch
Quellen
- ↑ Slade, A. (1998): Attachement theory and Reserch: Implications for the theory and practice of individual psychotherapie with adults. In: Cassidy, J. & Shaver, P. (Hg.) The Hndbook of Theory and Reserch. New York: Guilford Press
- ↑ a b Bowlby, J. (1980): Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. Stuttgart: Klett-Cotta.
- ↑ Bowlby, J. (1959): Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung, in: Psyche 13, S. 415-456.
- ↑ a b c R. Oerter, L. Montada (Hg.): Entwicklungspsychologie -Ein Lehrbuch- (4.Aufl. 1998) PVU, Weinheim S. 239 - 240
- ↑ a b M. Dornes (1993): Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M., Fischer
- ↑ a b c d e f g h i j k l M. Dornes (1997): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre.Frankfurt a. M., Fischer.
- ↑ a b c d http://userpage.fu-berlin.de/~balloff/altesemester/BegutachtungSS2004/Referate/interview_mit_kindern_erwachsenen.doc
- ↑ a b G. J. Suess, H. Scheurer-Englisch u. W-K P. Pfeifer (Hg.) (2001): Bindungstheorie und Familiendynamik - Anwendung der Bindungstheorie in Beratung und Therapie. Gießen, Psychosozial Verlag
- ↑ In G. Gloger-Tippelt (Hrsg.) (2001), Bindung im Erwachsenenalter. Bern: Huber.
- ↑ I. Bretherton, G. J. Sueess, B. Golby und D. Oppenheim (2001): „Attachement Story Completition Task“ (ASCT) - Methode zur Erfassung der Bindungsqualität im Kindergartenalter durch Geschichtenergänzungen. In: G. J. Suess, H. Scheurer-Englisch u. W-K P. Pfeifer (Hg.): Bindungstheorie und Familiendynamik - Anwendung der Bindungstheorie in Beratung und Therapie. Gießen, Psychosozial Verlag
- ↑ http://www.uni-salzburg.at/pls/portal/docs/1/359491.DOC.
Literatur zur Bindung und Bindungstheorie
- Ahnert, L. (Hrsg. 2004): Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. Ernst Reinhardt: München. ISBN 3-497-01723-X
- Ainsworth, M. /Blehar, M./Waters, E./Wall, S. (1978): Patterns of Attachment. A psychological Study from the Strange Situation. Erlbaum: Hillsdale, New Jersey. ISBN 0898594618
- Brisch, K.H./ Hellbrügge, T. (Hrsg. 2003): Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Klett-Cotta: 2003. S. 105 – 135. ISBN 3608940618
- Endres/Hauser (Hrsg. 2002): Bindungstheorie in der Psychotherapie. Ernst Reinhardt: München. ISBN 3-497-01543-1
- Fonagy, P. (2006): Bindungstheorie und Psychoanalyse. Klett-Cotta [1]
- Gloger-Tippelt, G./Hoffman V. (1997): Das Adult Attachment Interview: Konzeption, Methode und Erfahrungen im deutschen Sprachraum. In: Kindheit und Entwicklung – Zeitschrift für Klinische Kinderpsychologie. 1997, Band 3. Hogrefe-Verlag
- Grossmann, K. E./ Grossmann, K. (2003): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Klett-Cotta: Stuttgart. ISBN 3608943218 (ein umfangreicher, kommentierter Reader zentraler Texte von Bowlby und Ainsworth, zum Teil erstmals ins Deutsche übersetzt)
- Grossmann, K. E./ Grossmann, K.(2004): Bindung – das Gefüge psychischer Sicherheit. Klett-Cotta: Stuttgart. ISBN 3608940979
- Hédervári-Heller, E. (2000): Klinische Relevanz der Bindungstheorie in der therapeutischen Arbeit mit Kleinkindern und deren Eltern. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. Band 49, 580–595. ISSN 0032-7034
- Holmes, J. (2002): John Bowlby und die Bindungstheorie. Reinhardt: München. ISBN 3497015989
- Tyson/Tyson (1997): Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungs-Psychologie: Kohlhammer ISBN 3-17-013881-2 (Kap.6: Entwicklung der Objektbeziehungen)
- Urban, M./ Hartmann, H.-P. (Hg.): Bindungstheorie in der Psychiatrie. Vandenhoek&Ruprecht: Göttingen 2005.
- Zimmermann, P./ Becker-Stoll, F./ Fremmer-Bombik, E. (1997): Erfassung der Bindungsrepräsentation mit dem Adult Attachment Interview: Ein Methodenvergleich. In: Kindheit und Entwicklung – Zeitschrift für Klinische Kinderpsychologie. 1997, Band 3. Hogrefe-Verlag
Literatur zu Bindung und Familienrecht
- Kindler, H. / Schwabe-Höllein, M.(2002): Eltern-Kind-Bindung und geäußerter Kindeswille in hochstrittigen Trennungsfamilien; In: Kindschaftsrechtliche Praxis, 01/2002
- Spangler, G. (2003): Beiträge der Bindungsforschung zur Situation von Kindern aus Trennungs- und Scheidungsfamilien, In: Praxis der Rechtspsychologie, Sonderheft 1, S. 76-90
- Suess, G. J./ Scheuerer-Englisch, H./ Grossmann, K.E. (1999): Das geteilte Kind – Anmerkungen zum gemeinsamen Sorgerecht aus Sicht der Bindungstheorie und -forschung; In: Familie, Partnerschaft, Recht, Heft 3
- Teuteberg, F. (1998): Die Bedeutung „emotionaler Bindung“ für die gesunde Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Bd. 18. Hamburg. ISBN 3-86064-813-6
- Hopf, Christel/:Frühe Bindungen und Sozialisation, eine Einführung, Grundlagentexte Pädagogik, Juventa Verlag ISBN 3-7799-1529-4