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Neue Musik

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Als Neue Musik werden unterschiedliche Musik- und Kompositionsrichtungen des 20. und 21. Jahrhunderts bezeichnet. Sie ist als Gegenbewegung zur romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts, als Streben einerseits nach klaren Formen, andererseits gegen übermäßigen Gefühlsausdruck, aber auch als konsequente Umsetzung der in der Spätromantik bereits fortgeschrittenen Auflösung der traditionellen Funktionsharmonik innerhalb der europäischen Konzertmusik entstanden. Paul Bekker zeigte 1919 in einem Vortrag mit dem Titel Neue Musik Tendenzen des damals aktuellen Musikschaffens auf und prägte im deutschsprachigen Raum den Terminus. In der Folge festigte sich der Begriff durch seinen Gebrauch im Journalismus, in der (musik-)wissenschaftlichen Diskussion sowie durch die Akzeptanz auf Seiten der Komponisten und Interpreten und nicht zuletzt der Rezipienten. Synonyme, wenngleich semantisch problematische - Bezeichnungen dieser Musikrichtung, die zuweilen bestimmte Aspekte oder Erscheinungsformen akzentuieren, sind unter anderem zeitgenössische Musik und Gegenwartsmusik, problematisch insofern, als das Zeitgenossentum nun droht, eine menschliche Lebensspanne zu überschreiten.

Wege der Entwicklung in der sinfonischen Form

Nachdem sich in einigen späten Klavierkonzerten Mozarts schon expansivere Tendenzen bemerkbar machten, ist spätestens mit Beethovens dritter Sinfonie (Eroica) eine immer weitere Dehnung der Form (rein zeitlich, als auch in Hinsicht auf die diese Form erst fundierenden tonalen Konzepte) festzustellen. [1] Die Deutung einer Bruckner-Sinfonie mithilfe der für eine Haydn-Sinfonie gedachten Begrifflichkeit erscheint so mitunter fragwürdig. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts eskaliert diese Problematik, die zum einen als Formproblem zum anderen als sogenannter „endgültiger Zusammenbruch der Tonalität“ beschrieben wird. Die Komponisten wählen nun (mit Ausnahme der Neo-Klassizisten) teilweise freie (Rhapsodie, Phantasie), neutrale (Konzert, Orchesterstück), oder selbst gewählte, mitunter extrem kurze, aphoristische Formen (Webern, Schönberg). Andere halten vehement an überkommenen Formkonzepten fest, obwohl ihre Werke selbst dieses Konzept ad absurdum führen (einsätzige Klaviersonaten von Skrjabin, Sonatenhauptsatzform unter Aufgabe der diese erst begründenden Tonalität bei Schönberg). Selbst der fundamentale Grundgedanke einer kontinuierlichen, zielgerichteten Verarbeitung musikalischer Gedanken innerhalb eines Werkes verliert, parallel zum Verlust des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts, sein Primat. [2] Neue Möglichkeiten der Formgestaltung, über bisher eher stiefmütterlich behandelte Parameter der Musik, wie die Klangfarbe, den Rhythmus, die Dynamik, systematische bzw. freie Montagetechniken bei Strawinski [3] oder Charles Ives, die Ablehnung der Zeitgerichtetheit von Musik, sowie ein zunehmender Individualismus beanspruchen ihren Platz. Selbst innerhalb der romantischen Stilepoche beginnen sich die Grenzen zu verwischen: Richard Strauss notiert größere Passagen seiner Oper Elektra (1909 uraufgeführt) im Prinzip schon ohne tonale Bezüge, Gustav Mahler lässt im ersten Satz seiner Torso gebliebenen (er starb 1911) 10. Sinfonie einen Akkord aus allen 12 chromatischen Tonstufen der Oktav erklingen.

Entstehung einer „Neuen Musik“

Den wichtigsten Ausgangspunkt der Neuen Musik im deutschsprachigen Raum und außerhalb bilden die einflussreichen Werke der Zweiten Wiener Schule. Ihre bedeutendsten Vertreter sind Arnold Schönberg und seine Schüler Alban Berg, Hanns Eisler und Anton von Webern.

Wichtigstes Kompositionsprinzip der Zweiten Wiener Schule ist die Zwölftontechnik (Dodekaphonie), die als Weg zur Beherrschung der ansonsten quasi unendlichen Möglichkeiten atonaler Musik angesehen werden kann. Besonders Webern hat dieses abstrakte Kompositionsprinzip (abgesehen von einigen Frühwerken) besonders konsequent angewandt, während sowohl Schönberg als auch Berg immer wieder tonale Bezüge in ihre Zwölftonkompositionen eingearbeitet haben (berühmtestes Beispiel: das Violinkonzert von Berg mit seiner auf Terzenschichtung beruhenden Reihe und einem Bach-Choral-Zitat im Schlussteil). Nach der - im wesentlichen der Naziherrschaft über weite Teile Europas im zweiten Weltkrieg geschuldeten - kulturellen „Zwangspause“ bis Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts haben sich also nicht umsonst die Vertreter einer neuen Hauptströmung Neuer Musik (Serialismus) immer wieder auf Webern als ihren musikalischen Ahnen berufen.

Weitere Fundamente der Neuen Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren u. a.:

Allgemein kann festgestellt werden, dass die Zeit ab ca. 1920 eine des allgemeinen „Aufbruchs zu neuen Ufern“ war - mit vielen sehr verschiedenen Ansätzen. Im wesentlichen hat sich dieser Pluralismus an Stilarten bis heute bewahrt, bzw. nach einer kurzen Zeit einer Art „musikalischen Diktatur“ des Serialismus (ab etwa Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts) wieder eingestellt.

Musik unter dem Nationalsozialismus

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden die meisten Formen der Neuen Musik, ebenso wie beispielsweise die Jazzmusik, als „entartet“ eingestuft und verboten oder unterdrückt. Die Ausstellung „Entartete Musik“ anlässlich der Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf prangerte das Schaffen von Komponisten wie Paul Hindemith, Arnold Schönberg, Alban Berg und Kurt Weill an, die darauf ins Exil gingen. Gefördert wurde stattdessen im Sinne der NS-Kulturpolitik die harmlose Unterhaltungs- und Gebrauchsmusik wie Operette, Tanz- und Marschmusik, die in die Propaganda einbezogen wurden. Von den Nazis wurden zahlreiche Komponisten, häufig wegen ihrer jüdischen Herkunft, verfolgt oder ermordet.

Siehe auch: In der Zeit des Nationalsozialismus verfolgte Komponisten

Eine wichtige Quelle über die Rolle der Musik in der Nazizeit bildete die Rekonstruktion der o.g. Ausstellung „Entartete Musik“, die ab 1988 zunächst in Frankfurt in einer kommentierten Version gezeigt wurde, womit eine - längst überfällige - Aufarbeitung dieses Themas beginnen konnte.

Die Nazizeit war also - mindestens für den deutschsprachigen Raum - ein großer Einschnitt, was die Entwicklung der Musik anbelangt, weil viele der kreativsten Komponisten und Musiker ins Exil gehen mussten. In anderen Ländern gab es völlig andere Entwicklungen - so etwa in England, wo es eine ganz andere Kontinuität in der musikgeschichtlichen Entwicklung gibt. Ein Komponist wie Benjamin Britten war gleichzeitig Traditionsbewahrer und Erneuerer.

Musik in der Sowjetunion

In der Sowjetunion gab es nach der Revolution in allen kulturellen Gebieten zahlreiche Experimente. Mit Aufkommen des Stalinismus wurde eine Richtung, die ab 1932 Sozialistischer Realismus genannt wurde, in allen künstlerischen Bereichen zur Doktrin. Nach 1956 setzte eine Liberalisierung ein, eine Avantgarde wie in anderen europäischen Ländern konnte aber kaum entstehen. Der wichtigste Komponist dieser Zeit, Dmitri Schostakowitsch musste sich immer wieder existenzbedrohender Kritik durch die allmächtige Partei bis hinauf zu Stalin persönlich erwehren. In der Folgezeit gelang es aber einigen Komponisten nach Stalins Tod entstehende kulturelle Freiräume zunehmend zu nutzen, besonders zu nennen sind hier Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina (die Schostakowitsch insgeheim auf ihrem kompositorischen Weg unterstützte).

Musikalischer „Wiederaufbau“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, die alle zwei Jahre vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt veranstaltet werden, zu der in Deutschland einflussreichsten internationalen Veranstaltung Neuer Musik. Herrschend waren dort Kompositionstechniken der seriellen Musik. Leitfigur wird Anton von Webern. Olivier Messiaen, der in seinen Werken u. a. musikalische Techniken außereuropäischer Musikkulturen aber auch Methoden der seriellen Musik verwendet, ist Lehrer einiger der Komponisten, die dort am meisten Aufsehen erregen. Unter ihnen sind:

(Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch das Institut für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) Darmstadt mit seiner jährlichen Frühjahrstagung (-> www.neue-musik.org) und das Darmstädter Internationale Musikinstitut (IMD), das über ein umfangreiches Archiv seltener Aufnahmen verfügt, besonders auch von früheren Veranstaltungen der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik. Die Aufnahmen stehen auf diversen Medien zur Verfügung; seit mindestens 1986 auch auf digitalen Medien.)

Während in der Vorkriegszeit die Hauptimpulse zur Entwicklung Neuer Musik aus Mitteleuropa, vornehmlich dem deutschsprachigen Raum, kamen und andere Avantgardisten, z. B. in den USA Charles Ives, wenig Beachtung fanden, wurde nun die Entwicklung zunehmend internationaler. Traditionell starke Musikländer, wie Frankreich (mit Olivier Messiaen, Pierre Boulez und Iannis Xenakis), Italien (Luciano Berio, Luigi Nono) lieferten wichtige Beiträge, andere, wie Polen (Witold Lutoslawski, Krzysztof Penderecki), kamen hinzu. In den USA war der Kreis um John Cage (z. B. Morton Feldman) bedeutend. Nicht untypisch für die Nachkriegsentwicklung in Deutschland war, dass die emigrierten Musiker insgesamt nur wenig beitragen konnten, sondern eher der „Nachwuchs“ (besonders Karlheinz Stockhausen) prägend wurde - mit erheblicher Unterstützung z. B. aus Frankreich: Messiaen war Lehrer von Stockhausen und Boulez ein Stammgast der Internationalen Ferienkurse in Darmstadt. In diesem Sinne mag die Musik sogar mitgeholfen haben beim Friedensprozess der Nachkriegszeit. Schließlich sei auch angemerkt, dass einige wichtige Vertreter der Neuen Musik in Deutschland den Weg von anderswo an ihre Wirkungsstätte fanden, so aus Ungarn György Ligeti und aus Argentinien Mauricio Kagel.

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Theodor Adorno (rechts) mit Max Horkheimer

Als bedeutendster (wenngleich nicht unumstrittener) Theoretiker der Neuen Musik im deutschsprachigen Raum gilt Theodor W. Adorno (1903–1969), ein Schüler von Alban Berg. In seiner 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik plädiert Adorno für Schönbergs atonale Kompositionsweise und setzt diese dem als Rückfall in bereits veraltete Kompositionstechnik betrachteten neoklassizistischen Stil Strawinskys entgegen. Die atonale Revolution um 1910 durch Schönberg bedeutet für Adorno die Befreiung der Musik vom Zwang der Tonalität und damit die ungehinderte Entfaltung des musikalischen Ausdrucks qua freier Atonalität mit dem vollen Triebleben der Klänge. Bekannter Theoretiker der Neuen Musik im deutschen Sprachraum ist heutzutage Heinz-Klaus Metzger, der wesentlich an Adornos Philosophie anknüpft.

Einen weiteren Einschnitt bildet die Zeit um 1950; der Kritiker Karl Schumann resummiert, das Wirtschaftswunder habe auch zu einem Kulturwunder geführt. Ab den 50er Jahren treten verschiedene Entwicklungen ein, u. a.:

Eine weitere Dimension ist bei einigen Komponisten die Hinzunahme einer weltanschaulichen bzw. politischen (in aller Regel „links“ orientierten) Grundorientierung, besonders erkennbar natürlich bei Vokalkompositionen. Zu nennen sind hier als quasi Vater der Idee Hanns Eisler, später etwa Luigi Nono, Yitzhak Yedid, Hans Werner Henze und Nicolaus A. Huber.

Vor allem ab den 70er Jahren setzt ein Trend zur Individualisierung, insbesondere eine endgültige Ablösung vom „Diktat“ des Serialismus, ein. In der Musik unserer Zeit kann man daher von einem Stilpluralismus sprechen. In Ligetis Musik z. B. sind musikalische Einflüsse aus verschiedenen Kulturen und Zeiten zu beobachten.

Allgemein ist zu bemerken, dass eine feste Einteilung der Komponisten in Strömungen und „Schulen“ nicht zwingend sein kann, da sich viele zeitgenössischen Komponisten in ihrem Leben mit mehreren Stilistiken befasst haben (bestes Beispiel: Igor Stravinsky, der obwohl jahrzehntelang als Antipode Schönbergs gehandelt, im Alter zur seriellen Technik überging). Außerdem existiert neben der jeweiligen Avantgarde eine große Zahl von Komponisten, die neue Techniken mehr oder weniger partiell und selektiv in ihre von der Tradition bestimmte Kompositionsweise integrieren bzw. eine Synthese zwischen beiden Welten versuchen, was mit dem Stichwort Gemäßigte Moderne nicht ganz ausreichend, weil zu einseitig, beschrieben ist.

Theoretiker der Neuen Musik in Deutschland

Foren der Neuen Musik

Ensembles

Organisationen und Institutionen

  • Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) bzw. (ISCM), - organisiert die von Mitgliedsland zu Mitgliedsland jährlich wechselnden Weltmusiktage.
  • Gesellschaft für Neue Musik e.V. (GNM),
  • Institut für kulturelle Innovationsforschung - new classical e.V. (IKI),
  • Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt
  • Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik (DEGEM), - Vereinigung zur Verbreitung und Förderung elektroakustischer Musik.
  • Verband für aktuelle Musik Hamburg.
  • Fondazione Atopos :: zeitgenössische klassische Musiko5 o6

Zeitschriften für Neue Musik

Literatur

  • Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. Tübingen 1949; Frankfurt a.M. 2003, Suhrkamp ISBN 3518293125
  • Paul Bekker: Das deutsche Musikleben (1916)
  • Christoph von Blumröder: Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg: Musikverlag Emil Katzbichler, 1981 (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12) (ISBN 3-87397-059-7).
  • Paul Griffiths: Modern Music and after. Oxford University Press, 1995, ISBN 0198165110
  • Ulrich Dibelius: Moderne Musik nach 1945. erweiterte Neuauflage, Piper Verlag, München 1998, ISBN 3492040373
  • Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert. 12 Bände, Laaber 1999–2006, ISBN 3-89007-420-0
  • Hans-Werner Heister, Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.): Komponisten der Gegenwart (KDG). Loseblatt-Lexikon, edition text+kritik, München 1992ff., ISBN 3883777994
  • Hans Heinz Stuckenschmidt: Neue Musik zwischen den Weltkriegen. 2. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3518371576
  • Martin Thrun: Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933. Orpheus-Verlag GmbH, Bonn 1995, ISBN 3-922626-75-0

Siehe auch

  1. Clemens Kühn, Formenlehre der Musik, S. 142 ff., Bärenreiter, Kassel 1987, ISBN 3-7618-4460-3
  2. Ekkehard Kreft: Harmonische Prozesse im Wandel der Epochen (3.Teil) Das 20. Jahrhundert. Peter Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-47141-6
  3. Entsprechendes Kapitel in Wolfgang Burde, Strawinsky: Leben, Werke, Dokumente, Schott, 1992 ISBN 3-7957-8215-5