Stromabnehmer

Ein Stromabnehmer ist eine Vorrichtung an Fahrzeugen zum Übertragen elektrischer Energie von einer fest montierten stromführenden Leitung zu den elektrischen Einrichtungen des Fahrzeugs. Anwendung finden Stromabnehmer überwiegend bei elektrischen Schienenfahrzeugen und Oberleitungsbussen.
Bauformen
Es bestehen zahlreiche unterschiedliche Benennungen für spezielle Ausführungen von Stromabnehmern, die zum Teil denselben Typ bezeichnen. Die wichtigsten Stromabnehmertypen sind:
Rollen- oder Stangen-Stromabnehmer


Rollen- oder Stangen-Stromabnehmer gehören mit zu den ältesten Bauformen. Der amerikanische Ingenieur Frank J. Sprague setzte sie 1889 bei der Straßenbahn in Richmond (Virginia) ein.
Rollenstromabnehmer bestehen meist aus einer langen Stange, die schräg auf dem Fahrzeugdach montiert ist und durch eine Feder nach oben gedrückt wird. Am oberen Ende der Stange befindet sich eine Rolle mit konkaver Lauffläche, die in den Fahrdraht greift und den elektrischen Kontakt herstellt. Modernere Ausführungen (insbesondere Oberleitungsbusse) verwenden statt der Rolle einen Kontaktschuh mit Kohleschleifstück.
Gegenüber den später entwickelten Bügelstromabnehmern weisen die Rollenstromabnehmer allerdings einige schwerwiegende Nachteile auf: der Stromabnehmer kann von der Fahrleitung abrutschen (entgleisen) und dabei die Oberleitung beschädigen und er muss bei Fahrtrichtungswechsel manuell umgelegt werden. Ferner ist die Oberleitungskonstruktion aufwändiger als bei Bügelstromabnehmern, da die Fahrleitung knickfrei montiert sein muss und bei Verzweigungen spezielle Oberleitungsweichen (sogenannte "Luftweichen") eingebaut werden müssen.
Rollenstromabnehmer fanden ab 1890 weltweit große Verbreitung, vor allem bei Straßenbahnen. Die technischen Unzulänglichkeiten führten jedoch nach und nach zu einem weitgehenden Verschwinden der Rollenstromabnehmer im Straßenbahnbereich: der letzte Straßenbahnbetrieb in Deutschland mit Stangenstromabnehmern in Hamburg wurde 1978 stillgelegt. Kann ein Betrieb seinen Wagenpark beispielsweise aus finanziellen oder politischen Gründen jahrzehntelang nicht modernisieren, wie es etwa in weiten Teilen Amerikas der Fall ist, dann sind dort zum Teil ausschließlich Wagen mit Rollenstromabnehmern im Einsatz. Eine der letzten Straßenbahnbetriebe mit Rollenstromabnehmern in Europa sind die Straßenbahn Riga, die Straßenbahn Lissabon (bei der allerdings nur noch zwei von fünf Linien mit Rollenstromabnehmern betrieben werden) und die Pöstlingbergbahn in Linz / Oberösterreich. Bei Oberleitungsbussen werden Stangenstromabnehmer mangels Alternative bis heute verwendet.

Lyra-Stromabnehmer
Der Lyra-Stromabnehmer wurde von dem deutschen Ingenieur Walter Reichel erfunden und seit 1887 auf der Lichterfelder Straßenbahn (bei Berlin) erprobt. Er besteht aus einem auf dem Fahrzeugdach montierten Metallbügel, der durch Federn gegen die Fahrleitung gedrückt wird. Die Form des Metallbügels erinnert an eine Lyra. Im oberen Bereich des Metallbügels ist ein ein bis zwei Meter breites Schleifstück quer zur Fahrtrichtung montiert, das den Kontakt mit dem Fahrdraht herstellt. Das Schleifstück besteht aus Kohlenstoff, in seltenen Fällen aus Kupfer. Bei Verwendung von Bügelstromabnehmern vereinfacht sich die Ausführung der Oberleitung gegenüber dem Rollenstromabnehmer, da auf Oberleitungsweichen verzichtet werden kann und Knicke im Fahrdrahtverlauf toleriert werden. Ähnlich wie bei Rollenstromabnehmern müssen bei Fahrtrichtungswechsel Lyrastromabnehmer umgeklappt werden.
Lyrastromabnehmer fanden zwischen ca. 1890 und 1910 im Eisenbahn- und Straßenbahnbereich Verbreitung und wurden anschließend von den Scherenstromabnehmern weitgehend verdrängt. Ihre Leistungsfähigkeit konnten sie bei den Schnellfahrversuchen 1903 auf der Militär-Eisenbahn Marienfelde–Zossen–Jüterbog bei Berlin unter Beweis stellen, bei denen sie bei Fahrgeschwindigkeiten von bis zu 210 km/h eingesetzt wurden.

Scheren-Stromabnehmer
Scheren- oder „Pantografen“-Stromabnehmer stellen eine Weiterentwicklung der Lyrastromabnehmer dar. Sie kombinieren das Prinzip des quer zur Fahrtrichtung montierten Schleifbügels mit einer Scherenmechanik, die das Schleifstück federnd gegen die Fahrleitung drückt. Die Scherenmechanik ähnelt der eines Pantografen, weshalb Scherenstromabnehmer auch als Pantografen bezeichnet werden. Anders als bei Lyra- und Rollenstromabnehmern müssen Scherenstromabnehmer bei Fahrtrichtungswechsel nicht umgeklappt werden.
Diese Bauform kam in einer flachen seitlichen Ausführung bereits 1895 in einer Tunnelstrecke bei der Baltimore & Ohio Railroad zum Einsatz, die eine seitliche Oberleitung verwendete. In Deutschland entwickelte um 1900 erstmals Siemens & Halske solch einen Stromabnehmer.
Während bei älteren Bauformen meist nur ein Schleifstück pro Scherenstromabnehmer vorhanden war, werden bei moderneren Bauformen (ab ca. 1960) zwei Schleifstücke auf einer sogenannten Stromabnehmerwippe montiert, wodurch ein kontinuierlicherer Kontakt zwischen Fahrdraht und Stromabnehmer erzielt wird. Zur Gewichtsreduzierung wurden die Scherenstromabnehmer durch Vereinfachung der Scherenmechanik zu Halbscheren- und Einholm-Stromabnehmern weiterentwickelt.
Einholm-Stromabnehmer

Der Einholm-Stromabnehmer hat gegenüber dem Scheren-Stromabnehmer den Vorteil des geringeren Platzbedarfs und der leichteren Bauweise. Insbesondere bei Mehrsystemfahrzeugen mit mehreren Stromabnehmern für verschiedene Oberleitungssysteme wirkt sich dies vorteilhaft aus.
Außerdem hat der Einholmstromabnehmer weniger gefederte Masse und reagiert deshalb auch weniger träge auf Änderungen des Abstands zwischen Fahrzeugdach und Fahrdraht. Des weiteren kann die Anpressvorspannung, diejenige Kraft, mit der der Abnehmer gegen den Fahrdraht gepresst wird, reduziert werden, was den Fahrdraht schont. Daher wird er bei Hochgeschwindigkeitsfahrzeugen fast ausschließlich eingesetzt (ICE, TGV).
Der Einholmstromabnehmer kam erstmals 1962 bei der französischen Wechselstrom-Elektrolok BB 16500 zum Einsatz. Bei der Deutschen Bundesbahn wurde er erstmals serienmäßig im ET 420 und später bei der Baureihe 111 eingesetzt, bei den ÖBB bei der Reihe 1042. Bei der Deutschen Reichsbahn fand er bei der Baureihe 243 (heute Baureihe 143) erstmals Anwendung.
Mehrpolige Stromabnehmer
Für Drehstrom-Systeme und zweipolige Gleichstromsysteme mit Mittelpunkt-Neutralleiter gab es auch mehrpolig ausgeführte Stromabnehmer.
Stromschienen-Stromabnehmer
Bei U- und S-Bahnen mit seitlich neben dem Gleis angeordneten Stromschienen gibt es einfacher beschaffene Stromabnehmerbügel, die schleifend auf, seitlich oder unter der Stromschiene entlanggeführt werden.
Funktionsweise und Überwachung von Schleifstück-Oberleitungs-Stromabnehmern
Während der Fahrt steht das Schleifstück in ständiger schleifender Berührung mit dem Fahrdraht, abgesehen von kurzzeitigen Unterbrechungen durch Unebenheiten oder Fahrzeug-Stöße. Der Strom aus dem Fahrdraht fließt durch das Kohle-Schleifstück und die gegen das Dach isolierte metallene Stromabnehmer-Konstruktion bis zu einem Kabel, das den Strom zum außenliegenden Hauptschalter oder ins Fahrzeuginnere weiterleitet.
Sowohl das Schleifstück als auch der Fahrdraht unterliegen einem Verschleiß durch die Reibung. Fahrdraht und Schleifstück müssen daher bei entsprechendem Zustand regelmäßig erneuert werden. Konstruktion und Materialwahl sind so ausgelegt, dass der Verschleiß des Abnehmers höher ist und der Fahrdraht geschont wird, da dieser sich nur mit erheblichem Aufwand wechseln lässt. Um den Verschleiß der Reibfläche des Abnehmers gleichmäßig zu gestalten und ein Einschneiden des Fahrdrahtes zu vermeiden, wird die Oberleitung für Schleifbügelstromabnehmer im Zickzack über den Gleisverlauf gespannt.
Kommt es während der Fahrt zu einem Schleifleistenbruch, kann die Oberleitung erheblich durch die nach oben drückende Trägerkonstruktion des Stromabnehmers beschädigt werden. Moderne Lokomotiven wie bspw. die Baureihe 101 der DB haben daher eine Schleifleistenüberwachung. Hierbei ist ein Messingröhrchen längs in den Kohlebarren eingelassen und an eine Druckluftversorgung angeschlossen. Wird das Röhrchen aufgerieben, wird der Druckabfall festgestellt und der Stromabnehmer automatisch gesenkt.
Die meisten Vollbahnlokomotiven verfügen über zwei Stromabnehmer. Üblicherweise wird davon der in Fahrtrichtung hinten liegende verwendet um bei einer eventuellen Beschädigung ein Herabfallen von Teilen auf den noch intakten Stromabnehmer zu vermeiden. Wegen des stets möglichen Funkenschlags wird von dieser Regel abgewichen, wenn direkt hinter der Lok feuergefährliche Güter oder PKWs befördert werden oder ein Steuerwagen eingestellt ist. Bei Doppeltraktion werden der jeweils vorderste und hinterste Stromabnehmer des Lokgespanns verwendet, um Fahrdrahtschwingungen zu reduzieren. Bei vereisten Fahrdrähten werden oftmals alle Stromabnehmer gehoben. Ebenso werden die Fahrzeuge im Winter in der Regel mit zwei gehobenen Stromabnehmern aufgerüstet abgestellt, um einen Eisbelag möglichst gering zu halten.
Unterschiede in Europa
Durch verschiedene technische und bauliche Randbedingungen haben sich auf dem kontinentaleuropäischen Normalspur-Eisenbahnnetz verschiedene Oberleitungsbauformen herausgebildet, die unterschiedliche Stromabnehmerbauweisen erfordern. Daher müssen Mehrsystemfahrzeuge für den internationalen Verkehr mit unterschiedlichen Stromabnehmern ausgerüstet sein. Die Bauarten unterscheiden sich in der Breite des Stromabnehmers und in der Art des verwendeten Schleifleistenmaterials. Lokomotiven der Baureihe 189 der DB sind beispielsweise je nach Einsatzgebiet mit Stromabnehmern mit folgenden Merkmalen ausgerüstet.
| Einsatzgebiete | Stromsystem | Wippenbreite | Schleifleistenmaterial |
|---|---|---|---|
| Dänemark, Deutschland, Norwegen, Österreich, Schweden, Slowakei, Tschechien | Wechselstrom
15 kV/25 kV |
1950 mm | Kohle |
| Frankreich, Luxemburg, Schweiz | Wechselstrom
15 kV/25 kV |
1450 mm | Kohle |
| Ungarn (durch Oberleitungsanpassungen obsolet) | Wechselstrom
25 kV |
2060 mm | Kohle |
| Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Slowakei, Tschechien | Gleichstrom
1500 V/3000 V |
1950 mm | Kohle metallisiert |
| Italien | Gleichstrom
3000 V |
1450 mm | Kupfer |
| Polen | Gleichstrom
3000 V |
1950 mm | Kupfer |
Siehe auch
Literatur
- Kießling, B.; Thoma, C.: „Europalokomotive BR 189. Die Mehrsystemlokomotive für den europaweiten Einsatz“, Glasers Annalen 126 (2002) 9, Georg Siemens Verlag Berlin, S. 390–402


