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Sowjetische Besetzung Ostpolens

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Datei:Polborder1939.jpg
17. September 1939 Sowjetische Besetzung Ostpolens 1939

Die sowjetische Besatzung Polens begann am 17. September 1939 mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Ostpolen gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt. Diese reagierte auf den deutschen Angriff auf Polen vom 1. September und wurde offiziell als notwendiger Schutz für die Ukrainer und Weißrussen auf polnischem Gebiet gerechtfertigt. In der bis zum Deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 1. Juni 1941 dauernden Besatzungszeit verübte die Rote Armee Kriegsverbrechen und Deportationen.

Vorgeschichte

Geheimes Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt
Sowjetischer Aufruf an polnische Soldaten vom 17. September 1939, in dem die Schuld am Krieg der polnischen Regierung zugeschoben wird

Osteuropäisches Spannungsfeld nach 1918

Im Ersten Weltkrieg zerfiel das russische Zarenreich und die K.u.K. Monarchie von Österreich-Ungarn. Die übrigen alten und neuen Staaten im Osten und Südosten Europas versuchten das entstandene Machtvakuum für ihre jeweiligen Interessen und Neuformierungen auszunutzen.

So kam es zum Polnisch-Ukrainischen Krieg (1918-1920) und zum nachfolgenden Polnisch-Sowjetischen Krieg (1920-1921), in dem Polen versuchte, bei den Teilungen verlorene Gebiete wiederzuerlangen, während die Sowjets ihr System ausbreiten wollten. Im Frieden von Riga konnten beide ihre Kriegsziele nur teilweise durchsetzen.

In den Jahren danach kam es auf Initiative von Maxim Maximowitsch Litwinow zwischen Polen und der UdSSR zu einer Politik der Entspannung und des Interessenausgleichs, so dass am 29. Februar 1929 das Litwinow-Protokoll und am 23. Januar 1932 der Polnisch-Sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet werden konnten. In dessen Zusatzbestimmung vom Juni 1932 verpflichtete sich UdSSR, keine gegen Polen gerichteten Bündnisse mit Deutschland einzugehen.

Unter Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow verfolgte die sowjetische Außenpolitik eine erneute Annäherung an Deutschland, die in dem Abschluss des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt am 23. August 1939 gipfelte. In einem geheimen Zusatzprotokoll beschlossen die Vertragspartner die Aufteilung Nordost- und Südosteuropas in Interessensphären, wobei die Gebiete Ostpolens der UdSSR zugeschlagen wurden. Im Fall eines deutschen Krieges mit Polen konnte sich die Rote Armee demnach in Einvernehmen mit der deutschen Führung jener Gebiete bemächtigen.

Sowjetische Angriffsvorbereitungen

Ende August 1939 begann der Generalstabschef der Roten Armee, Boris Michailowitsch Schaposchnikow, einen sowjetischen Angriffsplan auszuarbeiten. Nach dem deutschen Angriff am 1. September 1939 begannen die sowjetischen Streitkräfte diesen praktisch vorzubereiten. Am 3. September befahl Volkskommissar Kliment Jefremowitsch Woroschilow den Truppen in Weißrussland und der Ukraine, sich in Kampfbereitschaft zu halten. Am 6. September wurde in der Sowjetunion die Generalmobilmachung ausgerufen. Von 8. bis 13. September wurden die sowjetische Truppen an die Grenze verlegt und in zwei Hauptangriffsgruppen (Fronten) gruppiert.

Trotz deutschen Drängens auf einen raschen Beginn, um deutsche Truppen an die entblößte Westfront abziehen zu können, verzögerte sich der sowjetische Angriff bis zum 17. September. Er sollte zuerst mit dem "Schutz der weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung vor den deutschen Eroberern" gerechtfertigt werden. Nach einem Protest des deutschen Botschafters dagegen wurde er allgemein damit begründet, dass die Rote Armee somit die "ostslawischen Brüdervölker" schützen müsse, da jede staatliche Ordnung in Polen infolge des Krieges zu bestehen aufgehört habe. Schließlich kündigte Außenminister Molotow dem polnischen Botschafter in Moskau gegenüber alle Verträge im Zusammenhang mit dem Auseinanderbrechen des polnischen Staates auf. Wenige Stunden später begann die sowjetische Offensive.

Kriegsverlauf

Datei:Second World War europe.PNG
Europa nach dem 28. September 1939

Der sowjetische Aufmarsch

Armee/Front Menschen Kanonen und Mörser Panzer
3. Armee 121 968 752 743
11. Armee 90 000* 520* 265
Mechanisierte Kavalleriegruppe 65 595 1 234 834
10. Armee 42 135 330 28
4. Armee 40 365 184 508
Alleiniges 23. Schützen-Korps 18 547 147 28
Weißrussische Front 378 610 3 167 2 406
5. Armee 80 844 635 522
6. Armee 80 834 630 675
12. Armee 77 300 527 1 133
Ukrainische Front 238 978 1792 2330
Alle Zusammen 617 588 4959 4736

*abgeschätzte Zahlen

Der Angriff

Insgesamt zählte die erste Angriffswelle ca. 620 000 Soldaten mit ca. 4700 Panzern und ca. 3300 Kampfflugzeugen, d.h. die Sowjets griffen Polen mit mehr Panzern als die deutsche Wehrmacht und mehr Kampfflugzeugen als die deutsche Luftwaffe am 1. September 1939 an[1]. Die Hauptangriffsrichtungen der weißrussischen Front waren: Wilno, BaranowiczeWołkowyskGrodnoSuwałki, Brześć Litewski, wobei Wilno, Grodno und Brześć zwischen den 20. und 22. September und Suwałki am 24. September erreicht wurden. Die Hauptangriffsrichtungen der ukrainischen Front waren: DubnoŁuckWłodzimierz WołyńskiChełmZamośćLublin, TarnopolLwów, CzortkówStanisławówStryjSambor und Kołomyja. Die Sowjets erreichten Lwów am 19. September, Lublin am 28. September. Insgesamt waren die Einheiten der ukrainischen Front bis Anfang Oktober in verschiedene Kampfhandlungen verwickelt.

Am 22. September 1939 fand die gemeinsame deutsch-sowjetische Siegesparade in Anwesenheit der Generäle Guderian und Kriwoschein statt. Während der Parade an der Demarkationslinie, in der Stadt Brześć Litewski (heute Brest), die zwischen den zwei verbündeten Aggressoren geteilt wurde, gratulierte Kriwoschein im Namen der sowjetischen Führung den Deutschen zu ihren Kriegserfolgen und erklärte sich bereit, die Deutschen nach ihrem bevorstehenden Sieg über Großbritannien in Moskau zu begrüßen[2].

Das hohe sowjetische Eroberungstempo hatte mehrere Gründe, zu einem waren das die deutschen Kriegserfolge im Westen, aber auch die Tatsache, dass der sowjetische Angriff völlig überraschend kam und somit die polnische Armee weder richtig aufgestellt war, um einen Angriff aus dem Osten abzuwehren, noch klare Kampfbefehle gegen Sowjets hatte. Der Marschall Edward Rydz-Śmigły Befahl am 17. September 1939 nur einen:

(...) allgemeinen Rückzuck nach Rumänien und Ungarn (...). Mit Bolschewiken nicht kämpfen, es sei denn beim Entwaffnungsversuch oder Angriff ihrerseits

Darüber hinaus gab es auch strikt militärische Gründe, und zwar waren beide Aggressoren sowohl zahlenmäßig als auch hinsichtlich der Ausstattung mit modernen Waffen, wie Panzern und Kampfflugzeuge, den Polen weit überlegen, und natürlich war die polnische Armee einem Zweifrontenkrieg schlicht nicht gewachsen. Dazu kam noch die fehlende militärische Unterstützung seitens Frankreich und England, trotz ihrer Beistandverpflichtung.

Als Reaktion auf den Einmarsch deklarierte die Polnische Exilregierung am 18. Dezember 1939 den Kriegszustand mit der Sowjetunion. Eine Kriegserklärung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs an die Sowjetunion erfolgte jedoch nicht.

Kriegsverbrechen

Während der Eroberung des ostpolnischen Gebietes hat sich die Rote Armee zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Der Historiker Andrzej Friszke beziffert die Opfer auf 2500 ermordete Kriegsgefangene (Soldaten und Polizisten) und mehrere Hundert Zivilisten. Gleichzeitig rief die sowjetische Militärführung die ukrainische und weißrussische Zivilbevölkerung zu Mord und Gewalt an Polen auf[3]. Die am meisten bekannten Verbrechen fanden in Rohatyn, Grodno[4], Nowogródek, Sarny, Tarnopol, Wołkowysk, Oszmiana, Świsłocz, Mołodeczno und Kosów Poleski statt.[5]

Folgen

Besatzung bis 1941

Am 28. September 1939, als die polnische Regierung geflüchtet und das Ende der Kampfhandlungen absehbar war, schlossen das Deutsche Reich und die Sowjetunion einen Grenz- und Freundschaftsvertrag. In den an Deutschland gefallenen polnischen Gebieten lebten 1939 ca. 13 Millionen Menschen. Davon waren knapp 40 Prozent Polen und 8,3 Prozent Juden. Die übrigen 7 Millionen Menschen (52%) waren mehrheitlich Ukrainer und Weißrussen, aber auch Lemken, Bojken, Huzulen, Poleschuken, Russen, Litauer, Tschechen, Deutsche und weitere nationale Minderheiten.[6] Mehrheitlich polnisch – mit einem hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung waren die meisten Städte, wie Białystok, Vilnius, Lemberg.

Nach dem Ende des Feldzuges folgte eine weitere Deutsch-Sowjetische Zusammenarbeit. In den offiziellen sowjetischen Äußerungen betonte Stalin, daß nicht Deutschland Frankreich und England angegriffen, sondern Frankreich und England Deutschland angegriffen hätten und damit die Verantwortung für den Krieg auf sich genommen hätten.[7] Molotow behauptete, dass die Deutschen Bemühungen für Frieden vorgenommen hätten, was aber von den „englisch-französischen Imperialisten“ zurückgewiesen worden sei. [8]

Historiker Aleksandr Gurjanow zufolge wurden etwa 108.000 Menschen aus Ostpolen nach den Lagern des Gulag verschleppt sowie 32.000 Menschen nach Russland (Fernosten) oder Kasachstan vertrieben. [9] Nach Schätzung der polnischen Exilregierung gab es während der sowjetischen Besetzung polnischer Gebiete 1940-1941 vier große Deportationswellen, denen über 600.000 Menschen zum Opfer fielen.

Verschiedene Rezeption

Datei:Armiya osvobozhdenya.jpg
So habe man die erfolgreiche Befreiungsarmee begrüßt. Stalins Zitat auf dem Bild sagt: „Unsere Armee ist die Befreiungsarmee der Werktätigen“

Die Annexion ponischer Gebiete wurde in der Sowjetunion und wird in Weißrussland bis heute als die „Wiedervereinigung des westlichen Weißrussland mit der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ gefeiert, der Einmarsch sowjetischer Truppen heißt offiziell „Befreiungsfeldzug der Roten Armee“.

Siehe auch

Fußnoten

  1. Paweł Wieczorkiewicz "Kampania 1939 roku". KAW, Warschau 2001. ISBN 8388072536
  2. http://www.srodki-dydaktyczne.men.gov.pl/filmy/files/the_17th_of_september.pdf
  3. Mit Waffen, Sensen, Mistgabeln und Äxten schlägt eure Erzfeiende – polnische Herren – Org. Text eines der Mordaufrufe an die ukrainische Zivilbevölkerung Quelle: Andrzej Friszke "Polska. Losy państwa i narodu 1939-1989." ISBN 83-2071-711-6, Seite 25
  4. "[...] Dem Terror und Morden in eroberten Grodno fielen 130 Schüler und Kadetten. Verletzte Verteidiger wurden erschlagen, der 12 Jährigen Tadzik Jasiński wurden an ein Panzer festgebunden und über die Straßenpflaster gezogen. Es fanden auch zahlreiche Exekutionen statt [...]" Quelle: Julian Siedlecki "Losy Polaków w ZSRR w latach 1939-1986", London, 1988, S. 32-34
  5. Wojciech Roszkowski "Najnowsza historia Polski 1914-1945", Warschau 2003, ISBN 83-7311-991-4, S. 410.
    Władysław Pobóg-Malinowski "Najnowsza historia polityczna Polski. 1939-1945" Krakau 2004, ISBN 83-8971-110-9, Band 3, S. 107.
    Witold Pronobis "Świat i Polska w XX wieku", Warschau 1996, ISBN 83-86802-11-1, Seite 196.
  6. Kurzes statistisches Jahrbuch Polens, polnisches Informationsministerium. London Juni 1941 Seiten 9 – 10
  7. Zu einer Lügenmeldung der Nachrichtenagentur Havas. Prawda, 30. November 1939. Für deutsche Übersetzung siehe: Der Eisbecher. Klett-Cotta, Stuttgart 1989. Russischer Text
  8. „Es ist allgemein bewusst, hingegen, dass die britische und französische Regierung die deutschen Freiedensbemühungen abgelehnt haben, veröffentlicht von [Deutschland] bereits am Ende des letzten Jahres, welche seinerseits auf den Vorbereitungen den Krieg zu eskalieren basierte.“ Molotovs Bericht, 29. März 1940 http://www.histdoc.net/history/molotov.html
  9. Anne Applebaum, Gulag: A History, Doubleday, 2003, ISBN 0-7679-0056-1; ch. 20; Gurjanow, Aleksandr Repressii protiv Poljakov i polskih graždan, S. 4-9

Literatur

  • Jürgen Pagel: Polen und die Sowjetunion 1938-1939, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 34), ISSN 0170-3595.
  • Janusz Piekalkiewicz: Polenfeldzug - Hitler und Stalin zerschlagen die Polnische Republik, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1997, ISBN 3-86047-907-5.
  • Horst Rohde: Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 2: Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart: DVA 1979, ISBN 3421019355, S. 79–156.
  • Wanda Krystyna Roman: Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941, in: Bernhard Chiari (Hrsg.): Die polnische Heimatarmee, R. Oldenbourg Verlag, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 57 Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes) ISBN 3-486-56715-2, S.87-110.
  • Jan Tomasz Gross, Revolution from Abroad: The Soviet Conquest of Poland's Western Ukraine and Western Belorussia, Princeton University Press, 2002, ISBN 978-0-691-09603-2
  • Michail Mel'tjuchow Советско-польские войны. Военно-политическое противостояние 1918—1939 гг. М., 2001.
  • George Ginsburgs A Case Study in the Soviet Use of International Law: Eastern Poland in 1939 - The American Journal of International Law, Vol. 52, No. 1 (Jan., 1958), pp. 69-84
  • Deportation and Exile: Poles in the Soviet Union, 1939-48 by Keith Sword; [Reviewed by Katherine R. in: Jolluck Slavic Review Vol. 55, No. 2 (Summer, 1996), pp. 473-474