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Judenfrage

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Als Judenfrage oder jüdische Frage bezeichneten Nichtjuden, aber auch Juden seit etwa 1750 Probleme, die sich für sie aus der rechtlichen, politischen und sozialen Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit (Jüdische Emanzipation) ergaben. Seit etwa 1840 wurden diese Begriffe mehr und mehr zu feststehenden Schlagworten, die das Judentum auf verschiedene Weisen als Hindernis der allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipation beschreiben sollten. Seit 1873 wurde der Begriff zu einem Ausdruck des modernen Antisemitismus, der Juden jede Fähigkeit zur Emanzipation absprach und ihnen ein Weltherrschaftsstreben unterstellte. Der Nationalsozialismus verwendete den Begriff zur ideologischen Vorbereitung und Rechtfertigung des propagandistisch als Endlösung der Judenfrage bemäntelten Holocaust.

Entstehung

Der Antijudaismus im Mittelalter und in der Neuzeit hatte seit Jahrhunderten Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung von jüdischen Minderheiten in vielen Regionen Europas bewirkt und verfestigt. Erst mit der allmählichen Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte im Gefolge der Aufklärung wurde die Gleichstellung aller Bürger eines Nationalstaats zu einem politischen Ziel. Dies betraf besonders die bis dahin rechtlich, sozial und politisch unterprivilegierten Juden, die sich so potentiell aus ihrer gesellschaftlichen Isolation befreien konnten.

Die rechtliche Gleichstellung aller Bürger, auch der Juden, wurde in den sich bildenden europäischen Nationalstaaten verschieden angegangen, traf auf erhebliche Widerstände und führte - gerade auch im Blick auf Juden - vielfach zu Rückschlägen. Die Integrationsversuche und -konzepte reichten von „Duldung“ und „bürgerlicher Verbesserung“ bis zu „Gleichberechtigung“ und „Emanzipation“ aufgrund der aufgeklärten Toleranz gegenüber religiös andersdenkenden Einzelnen oder Gruppen.

In diesem Übergangsprozess gab ein Zeitbeobachter zuerst in England 1753 öffentlich eine „Antwort auf die berühmte Judenfrage“ (Reply to the Famous Jew Question): Damit meinte er die Erlaubnis an Juden zum Landerwerb. Die Französische Nationalversammlung diskutierte 1790 unter dem Titel la question sur les juifs darüber, ob Juden zu den gesetzlich gleichgestellten Bürgern Frankreichs gehören sollten. Emanzipationsskeptiker und -gegner forderten dagegen schon seit 1800 die Ansiedlung aller europäischen Juden in Übersee oder im 'Land Israel'. Judenfeinde wie Hartwig von Hundt-Radowsky forderten Arbeitslager und Zwangs-Sterilisierung für alle Juden.

Bis nach dem Wiener Kongress jedoch verwendeten Befürworter wie Gegner der Judenemanzipation den Begriff Judenfrage im annähernd gleichen Sinn zur Benennung der mit der Integration von Juden real verbundenen Probleme.

1838 erschienen erstmals zwei Aufsätze unter dem Titel Die jüdische Frage, die die damals kontrovers diskutierte rechtliche Gleichstellung der Juden in Preußen mit Berufung auf angeblich unveränderliche jüdische Eigenheiten abwehren wollten. Bis 1844 setzte sich die Bezeichnung Judenfrage für diese Kontroverse in Preußen allgemein durch. Juden wurden damit als einheitliche Gruppe identifiziert, die sich entgegen früheren Erwartungen nicht aufgelöst und zur reinen Konfession gewandelt hätten und daher ein Problem für die nationale Einigung bildeten.

Philosophische Wendung

Der Religionsphilosoph Bruno Bauer veröffentlichte 1843 die Schrift Die Judenfrage als erste selbständige Abhandlung dieses Themas. Darin versuchte er zu beweisen, dass die Juden als Gruppe nicht „verbessert“ (durch rechtliche Gleichstellung zur Integration erzogen) werden könnten, da auch aufgeklärte Juden an ihrem traditionellen religiösen Anspruch des exklusiven Auserwähltseins festhielten. Deshalb müssten auch sie nach Alleinherrschaft streben und damit letztlich Krieg gegen die Menschheit führen. Einzelne Juden könnten sich nur durch Aufgabe ihres Judentums zugunsten eines allgemeinen Menschentums in die bürgerliche Gesellschaft integrieren. Dies galt für Bauer genauso für das Christentum, wie er in seiner weiteren Schrift Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden ausführte.

Auf diese Schriften antwortete der 26-jährige Karl Marx 1844 mit seinem Aufsatz Zur Judenfrage.[1] Er sah die „Lösung“ der Frage in der Aufhebung der weltlichen Schranken der bürgerlichen Gesellschaft, mit der auch begrenzte religiöse Standpunkte verschwinden würden. Dabei war die rechtliche Gleichstellung des Judentums an sich für ihn ein Beispiel für die unvollkommene „politische Emanzipation“, welche den Menschen auf ein egoistisches unabhängiges Individuum einerseits und auf die moralische Person des Staatsbürgers andererseits reduziere. Anstelle der politischen verlangt er eine „menschliche Emanzipation“, bei der der Mensch seine Kräfte als gesellschaftliche erkennt und organisiert.

Häufig wurde Marx eine antisemitische Haltung unterstellt, obwohl sein Aufsatz tatsächlich die rechtliche Gleichstellung der Juden fordert. Er führt aus, dass in einem modernen politischen Staat im Unterschied zum christlichen Staat die Religion Privatsache sei.

Im zweiten Teil der Schrift unternimmt es Marx, Bauers theologische Fassung der Judenfrage zu brechen. Er fragt nach dem weltlichen Grund des Judentums, und erhält als Antwort: „Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz“. Ob diese Antworten aus Bauers Texten, Marx eigener Anschauung oder anderen Quellen gewonnen werden ist ein Gegenstand der Interpretation von Zur Judenfrage. Indem er diese Umdeutung des Begriffes „Judentum“ beim Wort nimmt, scheint Marx populäre Vorurteile zu bedienen, um dann aber aufzuzeigen, daß der „Schacher“ in gleicher Weise grundlegend für das Christentum sei. Er kommt zu dem Schluss, dass die soziale Emanzipation der Christen wie der Juden die Befreiung der Gesellschaft von der Macht des Geldes voraussetzt. Er korrigierte sich in seinem späteren Wirken in einigen Punkten und bekämpfte die Religion nicht direkt, sondern erwartete ihr allmähliches Verschwinden nach erfolgreicher Revolutionierung der Produktionsverhältnisse. Erst in den folgenden Werken, beginnent mit den zu Lebzeiten unveröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844, untersuchte Marx die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft gründlicher. Die Kritik der Macht des Geldes, welche in Zur Judenfrage geübt wird, weicht dabei einem Verständnis des gesamten kapitalistischen Systems.

Marx, der selbst jüdische Vorfahren hatte, hing weder dem jüdischen noch christlichen Glauben an, sondern vertrat eine prinzipiell materialistische Philosophie.

Antisemitismus

Die Antisemiten des Deutschen Kaiserreichs lehnten die Integration von Juden in die nach wie vor vom Christentum geprägte Gesellschaft strikt ab und beschworen die Gefahr, dass Juden diese von Nichtjuden beförderten Integrationsversuche nur zur Dominanz in Wirtschaft, Politik und Kultur ausnutzen würden und diese teilweise schon erreicht hätten. Damit deuteten sie - entgegen der von Karl Marx vertretenen Denkrichtung - die „soziale Frage“ zur „Judenfrage“ um.

Diese Sicht propagierte zuerst Otto Glagau 1874/75 in einer Artikelreihe in der Gartenlaube. Er brandmarkte Juden als Schuldige am Gründerkrach von 1873, als Börsenspekulanten und „Gründungsschwindler“, zugleich aber auch als Feinde des Katholizismus im damaligen Kulturkampf.

Ihm folgte der lutherische Hofprediger Adolf Stoecker. Mit seiner Septemberrede 1879 machte er die Judenfrage zum öffentlichen Thema und positionierte seine Deutschsoziale Partei fortan antisemitisch. Mit der Gründung der Berliner Bewegung versuchte er auch über seine Partei hinaus für die Zurückdrängung vo Juden aus öffentlichen Ämtern Zustimmung zu finden. Wenig später löste Heinrich von Treitschke den Berliner Antisemitismusstreit aus, indem er in einem Aufsatz die weitere Unterdrückung der jüdischen Religion zugunsten eines preußisch-nationalen Protestantismus forderte. Im selben Monat gründete der Journalist Wilhelm Marr nach dem überwältigenden Erfolg seines Buchs Der Sieg des Judenthums über das Germanthum die Antisemitenliga als erste Gruppe, die die Vertreibung aller Juden aus Deutschland anstrebte und das Schlagwort Antisemitismus als Kern ihres Gründungsprogramms verbreitete. Richard Wagner hatte schon Jahre zuvor ein Judenthum in der Musik und Kultur behauptet, das abzuwehren sei.

Rassismus

Im Kontext dieser ersten antisemitischen Welle im Kaiserreich definierten radikale Antisemiten die Juden als „Semiten“, also Angehörige einer fremden Rasse. So versuchten sie, die Judenfrage als Rassenproblem darzustellen, das nur noch durch Ausgrenzung aller Juden lösbar erscheinen sollte. Argumente dafür fanden sie in biologistisch argumentierenden Rasselehren von Arthur de Gobineau und in der Selektionstheorie von Charles Darwin. Dieser moderne Rassismus sollte die behauptete Nichtintegrierbarkeit von Juden, die in Europa längst vielfach dieselbe Sprache und Kultur pflegten wie das sonstige Bürgertum, pseudowissenschaftlich untermauern.

Es folgten immer schärfere rassistische Propagandaschriften: Karl Eugen Dührings Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten-, und Kulturfrage (1881) stellte Juden nunmehr auch als biologische Gefahr dar. Edouard Drumont, Houston Stewart Chamberlain, Paul Anton de Lagarde u.a. verhalfen diesem Denken in ganz Westeuropa zu weiter Verbreitung. Theodor Fritsch veröffentlichte 1887 einen Antisemitismus-Catechismus, der alle judenfeindlichen Klischees sammelte und als Handbuch der Judenfrage viele Auflagen erlebte. Er wurde bis 1945 auch von den späteren Nationalsozialisten gern genutzt.

In der Völkischen Bewegung im deutschen Kaiserreich wurden verschiedene Pläne zu Lösung der Judenfrage propagiert. Seit den 1880er Jahren wurde immer wieder gefordert, Juden unter „Fremdenrecht“ zu stellen und eine weitere Zuwanderung zu unterbinden. Juden und andere Rassen-Fremde wie Slawen oder Wälsche, die im Reichsgebiet bereits ansässig waren, sollten nach den Vorstellungen des Herausgebers des Heimdall, Adolf Reinecke, der Status von „Reichssassen“ erhalten: kein Wahlrecht, keine öffentlichen Ämter, kein Grundbesitz, jedoch Wehr- und Steuerpflicht.

Zar gingen die radikalen Antisemiten wie Friedrich Lange, Heinrich Pudor und Heinrich Claß in ihren Publikationen über Forderungen nach Fremdengesetzgebung, Ausweisung und Aberkennung der Staatsbürgerrechte nicht hinaus. Doch das Motto der Zeitschrift Hammer (Organ des von Theodor Fritsch gegründeten Reichshammerbundes) verlangte ab 1902 die „Ausscheidung der jüdischen Rasse aus dem Völkerleben“ und ließ damit den Willen zu einer endgültigen Radikallösung anklingen. Das Gründungsprogramm der aus vereinten älteren Antisemitenparteien hervorgegangenen Deutschvölkischen Partei behauptete 1914, die „Vernichtung des Judentums“ werdezur „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts werden. Dies gab der Lösung der Judenfrage eine universalhistorische Bedeutung und stilisierte sie zu einem apokalyptischen Endkampf.

Zionismus

Im Zusammenhang ihrer Emanzipationsbestrebungen benutzten auch Juden selber diesen Begriff, um zu unterstreichen, dass sie ihre Integration und Assimilation in den entstehenden europäischen Nationalstaaten bejahten. In der Auseinandersetzung mit den Antisemiten gebrauchten Juden den Begriff dann auch im Kontext des Zionismus, aber auch hier ohne Festlegung auf bestimmte Lösungen.

Nathan Birnbaum veröffentlichte dazu ein Buch mit dem Titel Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage (1893). Auch Theodor Herzl, der spätere Präsident des Zionistischen Weltkongresses, nahm den Begriff auf und etablierte ihn in der innerjüdischen Diskussion (Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, 1896).

Nationalsozialismus

Die Nationalsozialisten griffen von Beginn an bewusst den Antisemitismus und Rassismus der Kaiserzeit auf und propagierten die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“: Diesen Begriff hatten die vereinten Antisemitenparteien der Kaiserzeit ab 1893 geprägt. Er bildete einen integralen Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und bereitete den geistigen Nährboden für den Holocaust, mit dem das NS-Regime sein Programm der Vernichtung des europäischen Judentums bis 1945 durchführte.

Viele nationalsozialistische Schriften führten die „Judenfrage“ im Titel. Arthur Rosenberg z.B. nannte seine Zeitschrift: Der Weltkampf. Monatszeitschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage aller Länder. Seit den Nürnberger Gesetzen 1935 wurde die „Judenfrage“ auch als pseudowissenschaftliches Projekt etabliert. So richtete das NS-Regime 1939 ein Institut zur Erforschung der Judenfrage ein. Dieses gab u.a. die Vierteljahresschrift Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart heraus. Dem folgten viele akademische Fachbereiche, etwa die Evangelische Theologie mit dem Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben unter Walter Grundmann. Dieses strebte die „Entjudung“ der Bibel und kirchlichen Ausbildung an.

Die „Endlösung“ wurde schon seit Hitlers Mein Kampf konzipiert (Entfernung der jüdischen Rasse) und seit Gründung der NSDAP ebenfalls in deren Propagandasprache verankert. Am 31. Juli 1941 schrieb Hermann Göring an Reinhard Heydrich:

Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen.

Im selben Monat begann der Völkermord mit den Massenerschießungen von Einsatzgruppen hinter der Ostfront (Aktion Reinhardt). Am 20. Januar 1942 fand die Wannseekonferenz statt, auf der die Durchführung des schon begonnenen Holocaust endgültig organisiert wurde. Das Protokoll dazu beginnt mit den Worten:

An der am 20. 1. 1942 in Berlin, Am Großen Wannsee Nr. 56/58, stattgefundenen Besprechung über die Endlösung der Judenfrage nahmen teil: ...

Der Volks-Brockhaus Leipzig schrieb 1943 im Artikel „Judentum“:

  • 66 n. Chr. brach ein großer Judenaufstand aus, der mit der Eroberung Jerusalems und Zerstörung seines Tempels durch Titus 70 n. Chr. endete. Inzwischen hatten sich die Juden weithin über die Mittelmeerländer verstreut: Sie vermehrten sich vor allem durch Gewinnung fremdstämmiger Anhänger ihres Glaubens stark und wurden rassisch mit den verschiedenartigsten Elementen durchmischt. Durch das Zusammenleben mit ihren Wirtsvölkern ergab sich die 'Judenfrage'.

Seit 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat der Begriff in der öffentlichen Debatte weitgehend zurück, da man sich von nationalsozialistischer Ideologie abgrenzte und Juden in Mitteleuropa stark dezimiert worden waren.

Jean-Paul Sartre befasste sich u.a. in seiner Schrift „Reflexions Sur La Question Juive“ („Überlegungen zur Judenfrage“, ISBN 3499131498) mit dem Antisemitismus, der den Juden als Feind auch dann erfinden würde, wenn es keine Juden mehr gäbe.

Literatur

  • Bein, Alex: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980, ISBN 3421019630
  • Taut, Jakob: Judenfrage und Zionismus, Freiburg 1986, ISBN 3883320978
  • Weltsch, Robert: Die deutsche Judenfrage. Ein kritischer Rückblick, Königstein 1981, ISBN 3761003579
  • Schiefelbein, Dieter: Das Institut zur Erforschung der Judenfrage, Frankfurt am Main. Vorgeschichte und Gründung 1935-1939, Frankfurt/Main: Stadt Frankfurt, 1993., ISBN 3882708034
  • Wolfgang Benz (Hrsg.): Die 'Judenfrage'. Schriften zur Begründung des modernen Antisemitismus 1789 bis 1914. K.G. Saur, München 2002-2003, ISBN 3598350465 (Bibliografie mit 369 auf Mikrofilm zugänglichen Dokumenten, ausführliches Vorwort)
  1. Karl Marx: Zur Judenfrage (1844)