Neoliberalismus
Neoliberalismus (Zusammensetzung aus neo, griech. Präfix für neu, und Liberalismus) war ursprünglich die Selbstbezeichnung einer Gruppe von Liberalen in der Mitte des 20. Jahrhunderts, aus deren Vorstellung die Soziale Marktwirtschaft mitentwickelt wurde. Seit Beginn der 1990er Jahre wurde der Ausdruck auch unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung im Sinne von Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik oder auch Marktfundamentalismus verwendet. Heute dient Neoliberalismus oft als Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung [1][2], Art und Sinn seiner Verwendung sind daher umstritten.
Neoliberalismus als Wirtschaftstheorie
Begriffsgeschichte
Der Begriff Neoliberalismus wurde von Alexander Rüstow 1938 auf dem internationalen Symposium Colloque Walter Lippmann geprägt. Dort sollte die Fähigkeit des Liberalismus erörtert werden, sich den Problemen der Zeit, sprich dem Totalitarismus und der Weltwirtschaftskrise, entgegen zu stellen. Teilnehmer neben Rüstow waren u.a. Friedrich Hayek, Wilhelm Röpke und Walter Eucken. Der Ausdruck Neoliberalismus sollte zur Abgrenzung neuer liberaler Konzepte gegenüber dem Laissez-faire - Liberalismus des 19. Jahrhunderts dienen. Insbesondere im deutschsprachigem Raum spielte der Begriff nach dem 2. Weltkrieg bis Anfang der 1960er Jahre eine herausragende Rolle bei der Diskussion der konzeptionellen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft.
Entstehung der neoliberalen Lehre
In den 1930er und 1940er Jahren, die von Interventionismus, Protektionismus, zentraler Wirtschaftslenkung und Totalitarismus geprägt waren, gab es eine Rückbesinnung auf die Ideen des Liberalismus. Aus Sicht der Neoliberalen hatte man mit dem Liberalismus des Laissez-faire im 19. Jahrhundert, als der Staat die Wirtschaft komplett dem freien Spiel der Marktkräfte überließ, negative Erfahrungen gemacht und sah eine Notwendigkeit zur Neuformulierung. Der klassische Liberalismus des 19. Jahrhunderts betrachtete den Markt als etwas Naturwüchsiges. Er ging davon aus, dass durch einen freien Markt das eigennützige Streben der Individuen das Gemeinwohl am besten fördere (Adam Smith: unsichtbare Hand des Marktes). Neoliberale Vordenker sahen die Gefahr, dass ein ungeregelter Markt dazu tendieren kann, durch die Bildung von Monopolen den Wettbewerb aufzuheben, und dadurch seine eigene Grundlage zu zerstören. Markt ist nach Auffassung des Neoliberalismus daher nicht naturwüchsig, sondern muss durch den Staat gewährleistet werden.
Im September 1932 umriss Alexander Rüstow auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik das neue liberale Credo:
- „Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört. Und mit diesem Bekenntnis zum starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik und zu liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines starken Staates – denn das bedingt sich gegenseitig, mit diesem Bekenntnis lassen Sie mich schließen.“
Ziele
Der Neoliberalismus strebt eine vorwiegend marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum, freie Preisbildung, Vertragsfreiheit und Gewerbefreiheit an. Der Markt, also Angebot und Nachfrage, sorge nicht nur für die optimale Allokation der Ressourcen, sondern sei unentbehrliche Grundlage für Freiheit und Demokratie (siehe auch Interdependenz der Ordnungen).
Der Staat hat durch eine Wettbewerbspolitik für funktionsfähige Märkte zu sorgen und der Bildung von Monopolmärkten vorzubeugen. Wenn der Marktmechanismus versagt oder nicht zu den gesamtgesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen führt, tritt der Neoliberalismus für marktkonforme Eingriffe des Staates ein.
Hauptforderungen des Neoliberalismus sind daher Maßnahmen, die
- der Monopol- und Kartellkontrolle,
- dem sozialen Ausgleich,
- der Chancengleichheit,
- der Internalisierung externer Effekte dienen sollen.
Der Neoliberalismus wendet sich ausdrücklich gegen jede Art monopolistischer und gruppenegoistischer Machtentfaltung (Lobbyismus), sowie gegen willkürliche staatliche Eingriffe wie z.B. marktverzerrende Subventionen oder Schutzzölle. Weiterhin definiert sich der Neoliberalismus einerseits durch eine scharfe Ablehnung totalitärer Gesellschaftssysteme sowie zentraler Wirtschaftslenkung, anderseits durch eine unmissverständliche Abkehr vom Laissez-faire des klassischen Liberalismus.
Beispiele
Als das wohl bedeutendste Beispiel neoliberaler Politik gilt die Politik in der Bundesrepublik Deutschland unter Ludwig Erhard (1949–1963 Bundeswirtschaftsminister, 1963–1966 Bundeskanzler). Erhard und sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack, der den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ prägte, waren beide Wirtschaftswissenschaftler, Vertreter der Freiburger Schule und Mitglieder der Mont Pèlerin Society und hatten regelmäßigen Kontakt zu den führenden Vertretern des Neoliberalismus wie Eucken, Röpke, Böhm und Hayek. Auch der in den 1990er Jahren geprägte Begriff „Sozial-ökologische Marktwirtschaft“ basiert wesentlich auf dem Neoliberalismus.
Vertreter des Neoliberalismus
Als wichtige Vertreter des Neoliberalismus gelten :
- in den USA Frank Knight, der Gründer der Chicagoer Schule und sein Schüler Henry Simons. Milton Friedman, ein weiterer Schüler von Knight, gilt ebenfalls als bekannter Vertreter des Neoliberalismus. Allerdings betrachtet Friedman sich selbst als klassisch liberal und vertritt insbesondere bei der Monopolkontrolle eine von anderen Neoliberalen stark abweichende Auffassung.
- in England Edwin Cannan, der Gründer der London School of Economics und sein Schüler Lionel Robbins.
- in Deutschland Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack, der den Begriff Soziale Marktwirtschaft prägte, sowie Walter Eucken, Franz Böhm, Hans Grossmann-Doerth und Leonhard Miksch von der Freiburger Schule (siehe auch Ordoliberalismus, häufig als eine deutsche Variante des Neoliberalismus bezeichnet [3]).
- in Österreich Friedrich August von Hayek und Fritz Machlup
- in der Schweiz Carlo Mötteli
- in Frankreich Raymond Aron, Jacques Rueff, Louis Baudin.
Denkfabriken
Friedrich Hayek gründete 1947 mit 36 Liberalen, vorwiegend Ökonomen, darunter Walter Eucken, Milton Friedman, Frank H. Knight, Ludwig von Mises, Karl Popper und Wilhelm Röpke) die Denkfabrik Mont Pelerin Society. Diese hat sich – neben der Verteidigung von Freiheit und Rechtsstaat – die Förderung von Privateigentum und Wettbewerb zur Aufgabe gemacht, die als wesentlich für eine freie Gesellschaft angesehen werden. In Deutschland gibt es z.B. die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, das Walter-Eucken-Institut, die Ludwig-Erhard-Stiftung oder die Stiftung Ordnungspolitik.
Literatur
- Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik ISBN 3-8252-1572-5
- Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit, Eichborn, Frankfurt/M. 2002, ISBN 3-8218-3960-0
- Friedrich Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Mohr, Tübingen, 1991, ISBN 3-16-145844-3
- Friedrich Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, Olzog, München 2003, ISBN 3-7892-8118-2
- Milene Wegmann: Früher Neoliberalismus und europäische Integration, 2000 ISBN 3-7890-7829-8
- Claus Noppeney: Zwischen Chicago-Schule und Ordoliberalismus. Wirtschaftsethische Spuren in der Ökonomie Frank Knights, Haupt, Bern 1998, ISBN 3-258-05836-9
- Gerhard Willke: Neoliberalismus, Campus, Frankfurt/M. 2003, ISBN 3-593-37208-8
- Egon Edgar Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Kerle, Heidelberg 1962
- Helmut Paul Becker: Die soziale Frage im Neoliberalismus. Analyse und Kritik, Kerle, Heidelberg 1965
Neuere Verwendung
Definitionsproblematik
Zwar hat laut dem marxistischen Neoliberalismuskritiker Bernhard Walpen der "Begriff »Neoliberalismus« Hochkonjunktur". Eine nähere Bestimmung dessen, was man heutzutage unter Neoliberalismus zu verstehen hat, gestaltet sich jedoch schwierig. So heißt es bei Walpen: "Der Neoliberalismus läßt sich nicht in einer Definition fassen. Es gibt nicht den Neoliberalismus, sondern Neoliberalismen, die vom Laissez-faire-Ansatz (Anarcho-Kapitalismus) bis zu weitreichenden staatsinterventionistischen Ansätzen reichen." [4] Und da es gegenwärtig keine Strömung gibt, die sich selbst als neoliberal bezeichnet, kommt der Autor Gerhard Willke zu dem Schluss: "Der Neoliberalismus, so scheint es, ist ein Phantom: Es gibt keine Anhänger, nur Kritiker." [5].
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt man auch hinsichtlich der Intention des häufigen Gebrauchs des Ausdrucks Neoliberalismus: Während Walpen konstatiert: "Zumindest ist es linken Kräften gelungen ... einen einstmals positiv besetzten Begriff negativ zu wenden", resumiert Wilke: "Der Begriff ist zu einer Kampfparole geworden."
Der ehemalige baden-württembergische Wirtschaftsminister Andreas Renner kritisiert die dadurch entstandene Situation als paradox: "Die heutigen Kritiker des Neoliberalismus greifen - zumeist unwissentlich - jene Ökonomismus-Kritik auf, die vor 50 Jahren von einer Gruppe von Ökonomen entwickelt wurde, die sich selbst als „neoliberal“ bezeichneten. Neoliberalismus steht somit heute für diejenige Konzeption, gegen die sich die Neoliberalen ursprünglich wandten. Hinzu kommt, dass die Neoliberalismus-Kritiker Gefahr laufen, einen Strohmann zu bekämpfen. Denn im Gegensatz zur ursprünglichen Neoliberalismus-Diskussion gibt es heute keinen Kreis von Wissenschaftlern, die sich selbst als „neoliberal“ bezeichnen." [6]
Angebotspolitik
Häufig wird mit Neoliberalismus heutzutage das bezeichnet, was in der Wirtschaftswissenschaft als Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik bekannt ist [7]. Diese basiert im Wesentlichen auf der Annahme, dass Unternehmen (Anbieter) abhängig von ihren Gewinnerwartungen über Investitionen und damit auch über die Schaffung von Arbeitsplätzen entscheiden. Wichtig sei also, günstige Investitionsbedingungen zu schaffen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu garantieren. Mittel dazu seien die Senkung von Löhnen, Lohnnebenkosten und Unternehmenssteuern, aber auch eine Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft, auch das Arbeitsrecht soll "entbürokratisiert" werden. Als Paradebeispiele für eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gelten die USA unter Präsident Ronald Reagan („Reaganomics“) und Großbritannien unter Margaret Thatcher („Thatcherismus“).
Privatwirtschaft
Als neoliberal werden Positionen bezeichnet, die eine privatwirtschaftliche Ordnung Privatisierung verschiedenster Wirtschaftsbereiche fordern, so auch Infrastruktur (Daseinsvorsorge) wie Wasser- und Energieversorgung, Telekommunikation, Verkehr, Energie, Bildung, Wohnungswesen, Kultur, Sport oder medizinische Versorgung.
Der Rückzug des Staates und die Überantwortung von gesellschaftlichen Belangen an Kräfte des Marktes geht Kritikern zufolge mit dem Verlust demokratischer Einflussmöglichkeiten auf das Gemeinwesen einher. Je mehr öffentliche Bereiche in privates Eigentum übergehen, desto geringer werde der Einfluss der Bürger und der Parteien darauf. Soziale Aspekte würden vernachlässigt zugunsten von Rendite.
Sozialpolitik
Als neoliberal bezeichnet werden geforderte oder realisierte Kürzungen der Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherungen und der staatlichen Transferzahlungen. Im Bereich der Sozialsysteme werden von verschiedener Seite privatwirtschaftlich organisierte Lösungen anstelle der als bürokratisch angesehenen staatlichen Systeme angestrebt. Damit soll eine effizientere Verwaltung der Mittel des Bürgers erreicht werden. Das Umlageverfahren wird kritisiert, da es auf keiner soliden Basis stehe. Statt dessen wird private Vorsorge im Rahmen des Kapitaldeckungsverfahrens befürwortet. Milton Friedman hat eine negative Einkommensteuer vorgeschlagen. Danach würde das Finanzamt jedem Steuerpflichtigen, dessen Einkommen unter einem festzulegenden Minimum liegt, die Differenz ohne weitere Prüfungen überweisen. Staatliche Leistungen würden sich dann auf diejenigen konzentrieren, die nicht in der Lage sind, für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.
Kritiker betrachten dies als Sozialabbau. Die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung wird von einigen Beobachtern als Praxisbeispiel neoliberaler Politik gewertet. Die Kritik richtet sich insbesondere gegen die Kürzung der Ausgaben im Bereich der staatlichen Sozialversicherung. Private Absicherung könne den Sozialstaat nicht ersetzen. Die neoliberale Sicht, dass es dadurch zu einer effizienteren Verwaltung der Mittel des Bürger käme, wird von den Kritikern nicht geteilt. Die Zunahme des Wettbewerbs solle die Bedürfnisse der Schwächsten in der Gesellschaft nicht unsichtbar machen, meinte Kardinal Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz: Die Befürworter neoliberaler Thesen seien leider „blind, wenn sie auf Menschen stoßen, die keine Voraussetzung haben, am Spiel des Marktes teilzunehmen“ [8].
Globalisierung
Der Begriff Neoliberalismus wird häufig im Zusammenhang mit der Globalisierung verwendet, die nach Ansicht vieler Globalisierungskritiker neoliberal geprägt sei. Die Zapatistas luden zum ersten Mal 1996 zum „intergalaktischen Treffen gegen Neoliberalismus und für Menschlichkeit“. In Brasilien wurde aus Protest gegen „neoliberale Globalisierung“ das Weltsozialforum gegründet. Naomi Klein kritisiert in ihrem Buch No Logo die „Machenschaften globaler Konzerne“ und Folgen "neoliberaler Politik" ebenso wie Noam Chomsky in Profit over people.
Im Zentrum der Kritik stehen dabei Internationale Organisationen. Die WTO hat das Ziel des weltweiten Freihandels, auch Weltbank und IWF werden oft mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht. Seine Verbreitung als Konzept sei von Ökonomen der Weltbank und des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetrieben worden, als Antwort auf die Programme zur Förderung von Entwicklungsländern, die nicht den gewünschten Erfolg zeigten: Förderungen für Großprojekte ließen die armen Länder mit Schulden und geringem Wirtschaftswachstum zurück, die größere Bedeutung liegt aber in den 1970er Jahren als Versuch, eine strukturelle Krise zu beantworten (s. a. Konsens von Washington). Die Gewährung von Krediten an ein Land wird oft von der Durchführung von Reformen (vgl. Strukturanpassungsprogramm) abhängig gemacht.
Allerdings werden IWF und Weltbank auch von liberaler Seite kritisiert, z. B. wenn durch Begünstigung lokaler Machteliten marktverzerrende und interventionistische Politik betrieben wird. Befürwortet wird die Globalisierung im Sinne einer Förderung des Freihandels zwischen den Staaten. Der freie Handel trägt nach klassisch liberaler Überzeugung zur Förderung von weltweitem Wohlstand bei. Die Einschränkung des Handels mittels tarifärer (Schutzzölle) und nicht-tarifärer Handelshemmnisse und eine Förderung bestimmter Wirtschaftszweige durch den Staat (Subventionen) hingegen führe zu Ungleichverteilung und Armut auf der Welt. So haben es zum Beispiel Entwicklungsländer schwer, gegenüber der hochsubventionierten europäischen Agrarwirtschaft konkurrenzfähig zu bleiben.
"Schutzzölle und Agrarsubventionen, unter denen die Dritte Welt leidet, sind das Gegenteil von neoliberal. Sie sind protektionistisch und Liberalen genauso ein Ärgernis wie vielen Globalisierungskritikern", konstatiert Detmar Doering von der Friedrich-Naumann-Stiftung. [9]
Kritik an weiteren als neoliberal bezeichneten Sachverhalten
Aufgrund der Tatsache, dass es den Neoliberalismus als einheitliche Strömung nicht gibt, sind die Kritikpunkte immer im Zusammenhang mit der jeweils zugrunde liegenden Definition von Neoliberalismus verständlich. Oft bezieht sich die Kritik auf Deregulierung und Liberalisierung der Märkte (Welthandel)
Soziale Effekte der Deregulierung: Von Gewerkschaften und Globalisierungskritikern werden die von „neoliberaler“ Politik geforderten Privatisierungen und die Einschränkung staatlicher Wohlfahrtsleistungen kritisiert, da sie zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse führten. Dadurch verschärfe sich weltweit die soziale Lage. Kritiker sind der Ansicht, dass die Entfesselung des Marktes Ungleichgewichte und Unausgewogenheiten (Nord-Süd-Gefälle, soziale Ungleichheit) eher verschärfen würde als sie auszugleichen. Mit dem Rückzug des Staates greift in vielen Lebensbereichen die Logik des Marktes (vergleiche Kommodifizierung). Über höhere Preise für die Versorgung im Rahmen von Privatisierungen würden die Bürger geschädigt. Kritiker beklagen hier die fehlende Regulierung durch den Staat beziehungsweise der Einschränkung durch gesellschaftliche Normen. Der von neoliberalen Denkern gepriesenen Freiheit durch Marktchancen halten sie entgegen, dass dies in erster Linie die Freiheit von Wohlhabenden und Mächtigen darstelle. Achte man allein auf Rendite, würden moralische oder soziale Normen leiden.
Kritik am Markt als Steuerungsinstrument: Die Keynesianischen Ökonomen (wie Joseph E. Stiglitz) meinen, dass ein ungeregelter Markt in einigen Fällen ein schlechtes Instrument sei und zu Marktversagen führen könne. Für den Keynesianismus sind die Erwerbsmöglichkeiten im entwickelten Kapitalismus keine Sache individueller Tatkraft. Sie richten sich nach dieser Theorie danach, ob es über die Marktprozesse gelingt, u. a. für die Investitionstätigkeit ausreichende Konsumgüternachfrage zu mobilisieren. Die Gegner des Neoliberalismus kritisieren, dass der freie Markt schädliche volkswirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugen könne, da nur bei entsprechender Kaufkraft die jeweilige Nachfrage bedient würde. Außerdem gäbe es die Gefahr, dass Bedürfnisse, hinter denen keine entsprechende Kaufkraft steht, nicht abgedeckt werden (zum Beispiel keine private Forschung an Medikamenten gegen seltene Krankheiten). Auch wird kritisiert, dass die sozialen Folgen deregulierter Märkte von der Allgemeinheit zu tragen sind. Beispiele für derartige Problemkreise sind in den Bereichen Bildung, Altenpflege, Familienpolitik und zunehmend auch im Gesundheitssystem zu finden. Schließlich wird kritisiert, dass im neoliberalen Markt nicht der langfristige, auf Leistung und Nachhaltigkeit aufgebaute Gewinn das vorherrschende Prinzip ist, sondern der schnelle Gelegenheitsgewinn durch Schläue und Gerissenheit, ohne Rücksicht auf damit zerstörte Grundlagen für weiteres Wirtschaften.
Marxismus: Für marxistische Kritiker wird der Neoliberalismus nicht nur als Politik und als konkretes Unternehmerhandeln, sondern auch als Art und Weise der Konsumption bzw. der Lebensführung, wie Selbstmanagement (vgl. a. „Selbsttechnologie“, Michel Foucault) verstanden. Sie ist eine Antwort auf sinkende Profitraten ("Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate", Karl Marx), die durch eine bis in die 1970er Jahre steigende Produktivität nicht mehr wettgemacht werden können („Krise des Fordismus“) – der Klassengegensatz, der in Institutionen (z. B. Sozialpartnerschaft, Gewinnbeteiligungen) eine Zeitlang ruhiggestellt werden konnte, bricht wieder auf. Der Neoliberalismus ist aber nicht einfach eine Ideologie, sondern ein hegemoniales und plurales Projekt, das der ständigen Reartikulierung durch Intellektuelle – Antonio Gramsci spricht hier von organischen Intellektuellen – des Kapitals bedarf, um die Akzeptanz des Kapitalismus immer wieder neu abzusichern, dadurch werde ein Partikularinteresse ("Profitmaximierung") als ein allgemeines Interesse ausgegeben (vgl. Standortdebatte). Über die so genannten 'sozialen Verwerfungen' des Neoliberalismus hat sich insbesondere die Kritische Theorie geäußert.
Neoliberale Positionen würden, so die Kritiker, deshalb einer Verengung der ökonomischen Sichtweise (la pensée unique – „Einheitsdenken“) Vorschub leisteten, welche die betriebswirtschaftliche Rationalität über die gesamtwirtschaftliche Rationalität, etwa die „Ökonomie des ganzen Hauses“ (Aristoteles), stellt. Manche Kritiker meinen, dass „Neoliberale“ andere Menschen gerne an sich selbst mäßen und dabei vergessen würden, dass soziale Umstände und Zufall maßgebliche Einflussfaktoren für den persönlichen ökonomischen Erfolg sein können.
Aus einer eher kulturellen Perspektive wendet sich Georges Bataille gegen das Primat des Nutzens, das Wert rein ökonomisch definiert und vermeintlich unproduktive Verausgabung jenseits der Gesetze des Marktes (z. B. Kunst, Verschwendung) immer seltener werden lässt. Auch in der weltweiten 68er-Bewegung wurde, besonders in Frankreich, die Ausweitung des Marktes auf immer mehr Lebensbereiche kritisiert. Die Punk-Bewegung knüpfte teilweise an diese Kritik an, stellte diesen Tendenzen das Konzept von Do it yourself entgegen.
Jürgen Kromphardt kritisiert in seinem Buch Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus, dass durch den freien Markt eine Umverteilung von den ökonomisch Erfolglosen zu den ökonomischen Erfolgreichen erfolge. Dies werde damit begründet, dass auf Dauer die höheren Leistungen der Erfolgreichen auch den Erfolglosen zugute kommen (so genannter Trickle-Down-Effect). Kromphardt meint, die Unsicherheit dieser Zukunftsversprechen und die Benachteiligung der Schwächeren werden als Strukturprobleme verharmlost. Neoliberale haben seiner Meinung nach die Tendenz, Fehlentwicklungen ihrer Konzepte zu verharmlosen oder zu leugnen. Dabei benutzen sie die Strategie, reale Auswirkungen durch sprachliche Mittel zu rechtfertigen. Das werde deutlich, wenn sie den Vorwurf, man sei gegen den Sozialstaat, dadurch entkräften wollen, dass sie behaupten, nicht den Sozialstaat, sondern den Wohlfahrtsstaat abschaffen zu wollen. Diese Vorgehensweise der neoliberalen Denkfabriken lässt nach Kromphardts Meinung den Verdacht bestehen, dass deren Bemühungen nicht darauf ausgerichtet sind, die Realität wissenschaftlich zu erklären, sondern diese derart zu interpretieren, dass sie mit einer wirtschaftpolitischen Konzeption übereinstimmt, die eine vollkommene Befreiung der Privateigentümer von jeglichen gesetzlichen Einschränkungen fordert.
Literatur
- Christoph Butterwegge, Rudolf Hickel, Ralf Ptak: Sozialstaat und neoliberale Hegemonie, Elefantenpress, Berlin 1998, ISBN 3-88520-718-4
- Mario Candeias: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie, Argument, Hamburg 2004, ISBN 3-88619-299-7
- Noam Chomsky: Profit over People – Neoliberalismus und globale Weltordnung, Europa-Verlag, Hamburg 2003, ISBN 3-203-76010-X
- Herbert Schui, Stephanie Blankenburg: Neoliberalismus: Theorie, Gegner, Praxis, VSA-Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-87975-854-9
Quellen
- ↑ Süddeutsche Zeitung: Das Totschlagargument
- ↑ FAZ: Das Wort als Waffe
- ↑ http://en.wikipedia.org/wiki/Ordoliberalism
- ↑ Bernhard Walpen: Von Igeln und Hasen oder: Ein Blick auf den Neoliberalismus. UTOPIE kreativ, Heft 121/122 (November/Dezember 2000), S. 1066-1079
- ↑ Gerhard Willke: Neoliberalismus, Campus, Frankfurt/M. 2003
- ↑ Andreas Renner: Die zwei Neoliberalismen. Fragen der Freiheit, Heft 256, Okt./Dez. 2000, Hrsg. Seminar für freiheitliche Ordnung
- ↑ http://www.economics.uni-linz.ac.at/Bartel/VWL.pdf S.37
- ↑ http://religion.orf.at/projekt02/news/0409/ne040929_lehmann.htm
- ↑ http://www.ksta.de/html/artikel/1179819784281.shtml