Nuklearkatastrophe von Tschernobyl

Am 26. April 1986 ereignete sich in der Stadt Prypjat, Ukraine eine katastrophale Kernschmelze und Explosion im Kernreaktor Tschornobyl Block 4. Der Hergang des Unfalls ist bis heute noch nicht zweifelsfrei geklärt.
Bekannt ist diese Katastrophe unter dem damals russischen Namen der Nachbarstadt Tschernobyl. Da die Stadt heute in der Ukraine liegt, heißt sie eigentlich Tschornobyl. Dennoch kennt man die Stadt unter dem alten Namen, da Russisch zum Zeitpunkt der Katastrophe Amtssprache war.
Die Katastrophe
Als Auslöser allgemein anerkannt ist eine bauartbedingte Eigenheit des Reaktors (ein so genannter RBMK-Reaktor) in Verbindung mit schweren Fehlern der Betreiber der Anlage, welche genau die Prozeduren missachteten und die Sicherheitssysteme abschalteten, die den sicheren Betrieb gewährleisten sollten. (Es bleibt anzumerken, dass zuvor größere Unfälle in den AKW in Harrisburg (Pennsylvania), USA und Windscale (heute Sellafield), England geschahen, auch wenn deren Konstruktion mit der der RMBK-Reaktoren nicht vergleichbar ist.)
Einige offizielle Quellen verweisen auf ein Erdbeben, das zur Zeit des Unglückes in der Region stattgefunden habe und so die Unglückskette mit in Gang gesetzt haben soll. Ob die Seismographen nun ein Erdbeben oder die Explosion des Reaktors aufzeichneten, wird wohl nicht abschließend geklärt werden können. Sollte wirklich ein Erdbeben mitverantwortlich für dieses Unglück sein, stellt sich eine Sicherheitsfrage für alle Kernreaktoren an tektonischen Verwerfungen wie beispielsweise dem Rheingraben oder besonders die dominoartig angelegten Kraftwerke in Japan.

Tatsache ist jedoch, dass für den Reaktor ein Experiment geplant war.
Da Kernreaktoren nicht nur Strom erzeugen, sondern auch verbrauchen (beispielsweise für den Betrieb der Kühlpumpen, Meß- und Anzeigetechnik usw.), und diesen aus dem Netz entnehmen, muss sichergestellt sein, dass bei einem totalen Stromausfall genügend elektrische Leistung zur Verfügung steht, um den Reaktor sicher abzuschalten. In dem anstehenden Test sollte geprüft werden, ob die Leistung der bei der Abschaltung langsam auslaufenden Turbine die Zeit bis zum Anlaufen von Dieselgeneratoren (etwa 40-60 Sekunden) würde überbrücken können. Ein früherer Versuch im Block 3 des Kraftwerks war zuvor gescheitert, weil die Spannung zu schnell absank. Nun sollte es mit einem verbesserten Spannungsregler wiederholt werden. Dieser erneute Versuch sollte mit einer Routineabschaltung des Reaktors zusammenfallen.
Als erster Schritt sollte dabei die Leistung des Reaktors von ihrem Nennwert bei 3.200 Megawatt (thermisch) auf 1.000 MW reduziert werden, wie bei einer Regelabschaltung üblich. Durch einen Bedienfehler oder technisches Versagen wurde sie jedoch nicht bei diesem Wert stabilisiert, sondern sank weiter bis auf nur etwa 30 MW. Da die Neutronenflußrate in diesem Bereich extrem niedrig ist, sammelte sich Xenon-135 im Reaktorkern. Dieses Isotop, das durch den Zerfall von Iod-135 entsteht, ist ein sehr guter Neutronen-Absorber. Im normalen Betrieb wird es durch Neutronenaufnahme zu Xenon-136 verbrannt, bei diesem niedrigen Leistungsniveau jedoch stieg der Xenon-135-Gehalt immer weiter an und vergiftete den Reaktor.
Dies offenbar nicht bemerkend versuchte der Operator die gefallene Leistung durch Entfernen weiterer Regelstäbe wieder zu steigern. Durch die starke Neutronenabsorbtion gelang ihm die vermeintliche Stabilisierung jedoch nur auf einem viel zu niedrigen Niveau von etwa 200 MW oder 7% der Nennleistung.
Obwohl sich so zu diesem Zeitpunkt viel weniger Regelstäbe im Kern befanden, als für einen sicheren Betrieb notwendig waren, wurde der Reaktor nicht abgeschaltet sondern das Signal zum Beginn des Testlaufs gegeben.
Da für den Test die vier Hauptkühlmittelpumpen die Verbraucher darstellten, wurden diese nun auf volle Leistung geschaltet. Der Reaktor wurde unterkühlt, bis fast gefrorenes Kühlmittel durch den Reaktor floß. Weitere Regelstäbe mussten entfernt werden, um die Leistung zu stabilisieren. Dies wäre der letzte Zeitpunkt gewesen, an dem man den Reaktor noch durch eine Notabschaltung hätte retten können. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem äußerst instabilen Zustand, in dem jede kleinste Veränderung eines Parameters unvorhersehbare Folgen haben konnte. Allein um ihn in diesem Zustand zu betreiben, mussten zuvor alle automatischen Sicherheitssysteme überbrückt werden und der Operator mehrere Warnanzeigen ignorieren.
Als nächster Schritt wurde dann das Hauptgasventil der Turbine geschlossen, deren Auslaufenergie man ja messen wollte. Dadurch veränderte sich der Druck im Kühlmittelkreislauf kurzzeitig, Kühlmittel verdampfte.
Im Gegensatz zu westlichen Leichtwasserreaktoren, in denen das Kühlmittel gleichzeitig Moderator ist, haben Reaktoren des RBMK-Typs im unteren Leistungsbereich einen positiven sog. Dampfblasen- oder Voidkoeffizienten. Das bedeutet, dass mit zunehmendem Verdampfen des Kühlmittels die Reaktivität des Reaktors steigt.
Ein fataler Teufelskreis begann: Das plötzliche Verdampfen des Kühlmittels lies die Reaktivität in kürzester Zeit in die Höhe schnellen. Das im Kern angesammelte Xenon-135, das bis dahin als zusätzlicher Neutronenabsorber gedient hatte, zerfiel, der Reaktor heizte sich auf und mehr Kühlmittel verdampfte. Die Leistung stieg weiter und weiter an. Schließlich befahl der Schichtleiter die Notabschaltung des Reaktors.
Dazu wurden alle zuvor aus dem Kern entfernten Steuerstäbe wieder in den Reaktor eingefahren, doch hier zeigte sich ein weiterer Konstruktionsfehler des Reaktortyps: durch die an den Spitzen der Stäbe angebrachten Graphitblöcke (Graphit war der eigentliche Moderator des Reaktors) wurde bei Einfahren eines vollständig herausgezogenen Stabes die Reaktivität kurzzeitig erhöht, bis genügend des Stabes in den Kern eingedrungen war. Die durch das gleichzeitige Einführen aller Stäbe (über 250) massiv gesteigerte Neutronenausbeute ließ die Leistung in Millisekunden explorieren. Die Hitze verformte die Kanäle der Regelstäbe, so dass sie nie weit genug in den Reaktorkern eindringen konnten, um ihre angedachte Wirkung zu entfalten.
Die Hitze ließ die Brennelemente reißen und mit dem umgebenden Wasser reagieren. Wasserstoff und Sauerstoff entstanden in großen Mengen. Schließlich riß der Druck des verdampfenden Kühlmittels das über 1.000 Tonnen schwere Dach der Reaktorhalle weg. Das Graphit des Reaktorkerns fing durch die einströmende Frischluft sofort Feuer und ließ das entstandene Knallgas explodieren.
Große Mengen an Radioaktivität wurden durch die Explosionen und den anschließenden Brand des Graphit-Moderators in die Umwelt freigesetzt. Insbesondere die leicht flüchtigen Iod-131 und Cäsium-137 bildeten gefährliche Aerosole, die in einer radioaktiven Wolke teilweise hunderte oder gar tausende Kilometer weit getragen wurden, bevor sie der Regen aus der Atmosphäre auswusch. Radioaktive Metalle mit höherem Siedepunkt wurden hingegen vor allem in Form von Staubparktikeln freigesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.
Vergleich zu anderen Reaktortypen
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem Tschornobyl-Reaktortyp und den meisten Reaktoren westlicher Bauart ist, dass in ihm das Kühlwasser nicht gleichzeitig als Moderator dient. Kommt es bei einem der typischen westlichen Reaktoren zum Verdampfen des Kühlmittels, verringert sich gleichzeitig die Moderatorleistung und damit die Neutronenausbeute, so dass die Reaktivität entsprechend verringert wird. Beim Tschornobyl-Typ hingegen ist die Moderationsleistung des Graphits konstant und ein Verdampfen des Kühlwassers steigert die Reaktivität weiter.
Aus diesem Grund muss vor einer Genehmigung moderner Reaktoren bewiesen sein, dass ihr Dampfblasenkoeffizient 'immer' negativ bleibt.
Inzwischen wurden an den Reaktoren des RBMK-Tys weitere Verbesserungen vorgenommen (höhere Uran-Anreicherung, mehr Kontrollstäbe), die den Dampfblasenkoeffizienten in Bereiche bringen, in denen er auch bei niedrigen Leistungen beherrschbar ist. Dadurch wurden jedoch einige der ursprünglichen Designziele des Typs ausgehebelt.
Eine letzte Schwäche in der Konstruktion des Kernkraftwerks in Tschornobyl war, dass es nicht wie die meisten modernen Reaktoren in einen massiven Sicherheitsbehälter (Containment) eingebettet war, auch wenn unklar ist, ob ein solches Containment der Wucht der Explosionen bei diesem Unglück stand gehalten hätte. So konnten große Mengen an radioaktiven Stoffen in die Atmosphäre entweichen. Das Graphitfeuer, das sich nach dem Absprengen des Daches entzündete und fast 14 Tage brannte, beförderte weitere Mengen strahlenden Materials in die Luft.
Folgen
203 Menschen wurden sofort ins Krankenhaus eingeliefert, von denen 31 starben. Die meisten davon waren Feuerwehrleute oder beim Rettungsdienst und hatten versucht, den Unfall unter Kontrolle zu bringen -- ohne sich der Gefahren bewusst zu sein, die die Radioaktivität mit sich bringt. 135.000 Menschen wurden aus der Umgebung evakuiert, darunter 45.000 aus der nahegelegenen Stadt Pripjat.
Ein nicht unwesentlicher Teil der in Tschornobyl freigesetzten Radioaktivität, insbesondere die Nuklide Jod-131 und Cäsium-137, blieb als Aerosol lange in der Atmosphäre. Diese "radioaktive Wolke" erreichte auch Westeuropa. Mit natürlichem Regen wurden die radioaktiven Substanzen aus der Luft gewaschen und in den Boden eingebracht. Dadurch wurden direkt (beispielsweise Freilandgemüse) oder indirekt (beispielsweise Milch von Kühen, die belastetes Gras gefressen hatten) Lebensmittel mit Radioaktivität belastet. Süddeutschland und Österreich beherrschte die Diskussion um "verstrahlte Lebensmittel" monatelang die öffentliche Diskussion. Vor allem freiwachsende Pilze sind noch heute in Bayern verstrahlt.
Einige Molkereien in besonders belasteten Gebieten wurden angewiesen, die Molke von der Milch abzutrennen und nicht zu verkaufen, sondern einzulagern, da diese besonders belastet war. Die daraus resultierenden "Molkezüge" mit Pulver, das keiner haben wollte, beschäftigten die Politik sogar über Jahre hinweg. Schließlich wurde mit Millionenaufwand das Cäsium abgeschieden.
Sehr widersprüchlich wird jedoch beurteilt, welche gesundheitlichen Folgen von der Verstrahlung herrühren. Zwar erkennen die meisten Experten an, dass sich die Gesundheit der Menschen in der Ukraine verschlechtert hat. Jedoch wird dieses oft auch mit der schlechteren wirtschaftlichen Situation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärt. Andere Experten nennen wiederum die "Angst vor Strahlung" als gefährlicheres Moment, als die Strahlung selbst.
Es ist jedoch eindeutig, dass der sprunghafte Anstieg der Schilddrüsenkrebserkrankungen seit 1987 aufgrund seiner Ausmaße nur auf die Katastrophe von Tschornobyl zurückgeführt werden kann.
Siehe auch
Literatur
- A. Bayer, A. Kaul, C. Reiners: Zehn Jahre nach Tschernobyl, eine Bilanz, Gustav Fischer Verlag, München, 1996, ISBN 343725198-8
Liste einiger Publikationen zum Problem des zerstörten Block 4 des Kernkraftwerkes Tschornobyl
- V. M. Chernousenko: Chernobyl, Insight from the Inside. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York, 1991, ISBN 354053698-1
Weblinks
- http://www.tschernobyl-folgen.de/ - Tschernobyl-Folgen
- Welche Folgen hatte der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 ?
- http://www.strahlenschutzkurse.de/dissertationen/botsch/kap2.html - Der Unfall von Tschernobyl
- http://www.kernenergie.de/public/datas/ik_tschernobyl.pdf - Tschernobyl: Unfallhergang und Auswirkungen
- Ghost Rider Girl - "Elenas" Berichte von ihren Motorradfahrten durch Tschernobyl. Die Echtheit wird teilweise bezweifelt.
- http://www.pripiat.com/ - Bilder der Stadt Prypayt
- http://www.web-axis.net/~pulse/chernobyl/prypyat-panoramic.jpg - Panorama der Stadt
- http://www.benoroe.de/tschernobyl/ - Chronik einer technischen und menschlichen Katastrophe