Wagnis
Ein Wagnis (v. ahd. wagan = sich trauen; den Mut haben, etwas zu tun) kennzeichnet sich durch die Bereitschaft, für einen gewünschten Wertgewinn bestimmte Risiken auf sich zu nehmen, welche die Gefahr bergen, auch scheitern und dabei Schaden erleiden zu können.
Zur Wortbedeutung Wagnis
Der Germanist und Wagnisforscher S. Warwitz sieht das Wort ‚Wagen’ etymologisch und sprachgeschichtlich mit den Begriffen ‚Waage’ und ‚Wägen’ verwandt: Der Wagende legt die Gründe für sein gefährliches Tun, seine Wertvorstellungen und seine Wertschöpfungswünsche in die eine und das Gefahrenpotenzial und das Misslingensrisiko in die andere Wagschale und wägt sie gegeneinander ab. Er prüft gewissenhaft, ob sich die Schale auf der Seite ‚Sinnschaffung’ und ‚Wertgewinn’ neigt und sich der Risikoeinsatz damit wirklich lohnt. Wagen ist nach Warwitz motivational eng mit der spezifischen Wertorientierung des Einzelnen verknüpft. Es kann sich entsprechend auf sehr verschiedenartigen (z.B. sportlichen, religiösen, militärischen, technischen, wissenschaftlichen) Wagnisfeldern realisieren. Es kann den Charakter kindlicher und jugendlicher Mutproben annehmen, berufliche Entscheidungen bestimmen und sogar existenzielle Dimensionen erreichen (das Wagnis des Gläubigen, das Wagnis Martyrertum). Da der Ausgang eines Wagnisses nicht mit Bestimmtheit vorhersehbar ist und statt der erhofften höheren Lebensqualität, der gewünschten Wertverwirklichung auch der mögliche Schadensfall eintreten kann, setzt die Entscheidung für das Wagnis einen entsprechend hohen Wertverwirklichungswillen, Selbstüberwindung, Mut und Leidensbereitschaft voraus. A. Schweitzer zählt mit seinem ethisch begründeten Wohlstandsverzicht wie Jesus von Nazareth mit seinem Martyrium zu den extrem opferbereiten Wagenden. Sie dokumentieren mit ihren Lebensentwürfen aber auch die erheblichen Chancen großen Wagemuts.
Wagnis und Risiko
Umgangssprachlich werden die Begriffe ‚Wagnis’ und ‚Risiko’ häufig verwechselt bzw. synonym verwendet. Dies wird ihrer historischen Wortbedeutung nicht gerecht und ist einer differenzierteren (z.B. wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit dem Problemfeld nicht dienlich. Warwitz weist darauf hin, dass die Sprache in der Regel immer dann neue Begriffe bildet oder aufnimmt, wenn das gegebene Repertoire dem sich differenzierenden Wissen und Ausdruckswillen nicht mehr gewachsen ist. Dies gilt vor allem für die Fachsprachen. So gelangte das Wort ‚Risiko’ (von lat. risicare, ital. risico = Gefahr laufen, auf Grund zu gehen; Klippen umschiffen) im 16. Jahrhundert als Lehnwort aus der Seemannssprache in den deutschen Sprachschatz. ’Wagnissportler’ sind nicht mit ‚Risikosportlern’ zu verwechseln, betont Warwitz: ’Berufswagnis’ bedeutet etwas anderes als ‚Berufsrisiko’ und sein Leben zu ‚wagen’ unterscheidet sich fundamental davon, sein Leben zu ‚riskieren’: Wer einen objektiv gefährlichen Sport zur Steigerung seiner Lebensqualität kompetent und verantwortungsbewusst betreibt, ist ein Wagender. Wer ohne weiteren Sinnhintergrund nur den Kick sucht, ist ein Risiker. Ein ‚Berufswagnis’ kennzeichnet die Unsicherheit, die der eigenen Bestimmung (Berufung) und Begabung angemessene Berufsentscheidung zu treffen. ‚Berufsrisiko’ sagt dagegen etwas über die gesellschaftlichen und persönlichen Aussichten und Gefahren der Berufswahl aus. Luther und Schweitzer ‚wagten’ ihr Leben bewusst für eine ihnen wertvolle Idee, während der Motorradraser sein Leben kopflos für einen Nervenkitzel ‚riskiert’. Schon Kierkegaard, später Rousseau, Heidegger, Jaspers, Bollnow oder Röhrs weisen auf das entscheidende Merkmal der inneren Einstellung und Wertausrichtung beim Wagnis hin, von dem der eher mathematisch/statistisch relevante Begriff ‚Risiko’ zu unterscheiden sei. Das Wagnis beansprucht den Menschen mit seiner ganzen Persönlichkeit, betont Warwitz und Bollnow sagt: Ich riskiere immer etwas, aber ich wage im letzten mich. Das Risiko ist der nach Wahrscheinlichkeiten erfassbare, weitgehend berechenbare, analysierbare Teil jeden Wagens. Es gibt ‚Risikofaktoren’, ‚Risikokomponenten’, ‚Risikoskalen’, ein ‚Restrisiko’, aber keine ‚Wagnisfaktoren’ oder gar ein ‚Restwagnis’.
Wagnis als entwicklungspsychologische Notwendigkeit
Wagnisbereitschaft bewegt sich im Spannungsfeld eines Zuviel (Waghalsigkeit) und eines Zuwenig (Wagnisscheu) an Wagnisbereitschaft. Hierbei wirkt der Mut als Antriebskraft und die Angst als Bremsfaktor. Beide haben eine wichtige Funktion zur Steuerung des angemessenen Handelns. Wenn der Mut zum Übermut übersteigert wird, kann das Wagnis in Tollkühnheit ausarten. Dies bedeutet eine bis zur Unkontrollierbarkeit gesteigerte Risikobereitschaft (Hasardeurismus). Wenn die Angst das Übergewicht gewinnt, beherrschen Lähmung und passives Beharrungsstreben das Geschehen. Dies bedeutet Stagnation in den betroffenen Entwicklungsprozessen und Verzicht auf aktive Wertschöpfung in Risikobereichen. Fortentwicklung der Persönlichkeit bedarf zwingend des dosierten Wagens: Schon das Kleinkind muss sich unter der Gefahr des Fallens trauen, sich aufzurichten, wenn es die Vorteile des Zweibeiners nutzen will. Wer sich im Lebensraum Wasser sicher bewegen will, muss sich im Erlernen des Schwimmens dem Risikobereich des Ertrinkens aktiv aussetzen. Wer eine bedeutende Position in der Gesellschaft anstrebt, muss sich unter der Gefahr des Scheiterns Bewerbungen, Prüfungen, Konkurrenzen stellen. Verzicht auf das Wagnis, einmal zur Gewohnheit geworden, bedeutet im geistigen Bezirk ja immer den Tod, eine gelinde und unmerkliche, dennoch unaufhaltsame Art von Tod, sagt M. Frisch im ‚Stiller’. Warwitz führt aus: Es braucht im Leben immer wieder des Überwindens der verheerenden Beharrungstendenz, der frischen Neugier des Entdeckens, des mutigen Sprengens scheinbarer Grenzen, wenn man nicht lebend schon tot sein will. In jedem Alter schlafende Persönlichkeitsreserven zu erfahren, ungeahnte Handlungsspielräume zu gewinnen, wertschöpferisch tätig zu sein, hält jung, dynamisch und lebensfroh.
Wagnis in der ethischen Bewertung
Wagnisbereitschaft wie die ihr zugeordnete Risikobereitschaft entziehen sich, wie Warwitz eingehend begründet, als noch inhaltslose formale Tugenden zunächst jeder allgemeingültigen ethischen Bewertung. Je nach Wertausrichtung des Einzelnen, dem Ausmaß des Risikoeinsatzes oder den möglichen Folgen können dieselben Wagnishandlungen von verschiedenen Menschen als höchst sinnvoll, sinnvoll, sinnwidrig oder sogar verwerflich eingestuft werden. Dies gilt für sämtliche Ebenen des Wagens von den jugendlichen Mutproben über sportliche Aktivitäten bis zur Beurteilung der Kriegszüge Napoleons oder der religiösen Mord-Martyrer. ‚Heiliger Held’ und ‚menschenverachtender Terrorist’ stehen oft für dieselbe Tat. Sinnfragen beantworten sich aus dem Wertekodex des Einzelnen und der Gemeinschaft. Sie sind nur bedingt objektivierbar. In einer bedrohten, kriegerischen oder aufblühenden Gesellschaft genießt der Wagende hohes Ansehen. In einer gesättigten, wohlstandswahrenden dagegen gilt er häufig als Verrückter, als Spieler oder gar als Gemeinschaftsschädling . Im öffentlichen Bewusstsein tendieren die eigentlich wertfreien Begriffe ‚Wagnis’ und ‚Risiko’ zu einer unterschiedlichen Bewertung: Während dem Risiko eher eine negative Bedeutungsnuance zugeordnet wird (Risiker, Risikosportler, Risikoanlage, Risikokinder), findet sich der Wagnisbegriff (wohl wegen der ethisch-moralischen Anbindung) häufiger positiv belegt: Rousseau interpretiert das Wagen in seinem ‚Emile’ als unerlässlichen Entwicklungsimpuls. Röhrs und die Outward -Bound-Bewegung des Reformpädagogen Hahn entwarfen ein Erziehungskonzept ‚Bildung als Wagnis’. Der Dichter-Philosph Saint Exupéry thematisiert das Wagnis des frühen Post-Fliegens in seinen Büchern als ‚Vorstoß zu den Welträtseln’. Der Theologe Messner sieht im Wagnis die Erfüllung des Schöpferwillens, der zu werden, der man sein kann. Im ethisch hochwertigen Wagnis wird nach Warwitz nicht die Gefahr um ihrer selbst willen, sondern das nur über sie erreichbare wertvolle Ziel angestrebt. Der Wagende nimmt auf dem Wege zu seinem bedeutsamen Ziel die unvermeidlichen Gefahren in Kauf, tut aber dabei alles, diese durch optimale Kompetenzerweiterung zu minimieren und bestmöglich zu beherrschen. Warwitz unterscheidet zwischen dem „Thrillsucher“ (der den bloßen Kick will) und dem „Skillsucher“ (der sich kompetent für ein wertvolles Anliegen engagiert). Bei der Annährung an eine objektive Wertbestimmung spielt es eine wesentliche Rolle, inwieweit Ziel und Weg einem allgemeinen Wertekonsens zugänglich sind, z.B. nicht unter Vernichtung von Kulturgütern, Eigentum anderer und Menschenleben angestrebt werden.
Literatur
Bollnow, O.F.: Existenzphilosophie und Pädagogik. Tübingen ²1962
Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen 16. Aufl. 1986
Kierkegaard, S.: Der Begriff Angst (1844), neu: Reinbek 1960
Messner, J.: Das Wagnis des Christen. Innsbruck-Wien-München ²1960
Neumann, P.: Das Wagnis im Sport. Schorndorf 1999
Röhrs, H.(Hrsg.): Bildung als Wagnis u. Bewährung. Heidelberg 1966
Rousseau, J.J.: Emile. Paderborn ³1975
Saint-Exupéry, A.: Wind, Sand und Sterne. Düsseldorf 1953
Schweitzer, A.: Aus meinem Leben u. Denken. Leipzig 1932
Shelhy, G.: Neue Wege wagen. München 1981
Warwitz, S.: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Baltmannsweiler 2001
Warwitz, S.: Brauchen Kinder Risiken u. Wagnisse? In: Grundschule 11(2002)
Warwitz, S.: Vom Sinn des Wagens. Warum Menschen sich gefährlichen Herausforderungen stellen. In: DAV (Hrsg) Berg 2006 München-Innsbruck-Bozen 2005. S. 96-111
Hinweise zu weiteren Stichworten
Wagniserziehung – Wagnisforschung – Wagnissport - Risiko - Risikosport