Stigmatisierung
Stigmatisierung bezeichnet die zu Diskriminierung führende Charakterisierung einer Person oder Gruppe durch die Zuschreibung gesellschaftlich oder gruppenspezifisch negativ bewerteter Merkmale.
Das soziale Stigma als Brandmal kennzeichnet somit ein Auffälligkeitsmerkmal, das als Ausdruck der Abwertung Einzelner oder von Gruppen Ursache und Folge sozialer Randständigkeit sein kann. Dabei wird von einer Normalität ausgegangen, von der abgewichen wird.
Daher sind in der Regel sogenannte Randgruppen betroffen, die gemeinsame, negativ bewertete Merkmale haben, durch die sie von anderen Mitgliedern der Gesellschaft unterschieden werden (siehe auch Vorurteil, Klischee). Daraus ergibt sich ein Teufelskreis: Randgruppen werden stigmatisiert, Stigmatisierung führt zu Ausgrenzung und Randgruppenbildung.
Beispiele für soziale Stigmen waren oder sind Obdachlosigkeit, körperliche oder geistige Behinderungen, psychische Störungen, Krankheiten (z. B. Lepra, AIDS), aber auch die sexuelle Orientierung oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder Volksgruppe - wie dies oft für „Zigeuner“ galt.
Auf subtilere Weise wird auch bereits die Armut zum sozialen Stigma, wenn sie etwa als mangelnde Leistungsbereitschaft charakterisiert wird, wenn die Schuld für Armut alleine in einem persönlichen Versagen gesucht wird, wenn Betroffenen ein Ausruhen in der sozialen Hängematte unterstellt wird, etwa bei Arbeitslosen. Sichtbares Merkmal ist dabei etwa die Kleidung der Betroffenen, an der der soziale Status für jeden ablesbar ist (siehe auch Soziologie). Dieser sichtbaren Stigmatisierung wollte etwa die Arbeiter-Jugendkultur der Mods in England entgegenwirken, indem demonstrativ teure Kleidung getragen und die Oberschicht imitiert wurde.
Die Menschenrechte in der Tradition der europäischen Aufklärung widersprechen u.a. der Stigmatisierung von Personen und sollen ihr entgegenwirken.
Stigmaforschung
In der Stigmaforschung werden die Prozesse erforscht, die zur Stigmatisierung führen. Hierbei wird grundsätzlich zwischen Stigmatisierung auf gesellschaftlicher und individueller Ebene unterschieden.
Als Verfahren zur Feststellung von Stigmatisierungen hat sich die Messung der erwünschten „sozialen Distanz“ als häufig angewandte Methode bewährt: Die untersuchten Personen werden danach befragt, ob sie jemanden mit dem spezifischen Stigmatisierungsmerkmal (z. B. einer psychischen Erkrankung) als MieterIn, NachbarIn oder BabysitterIn akzeptieren würden. Vertiefend wird gefragt, ob die befragte Person in eine Familie einheiraten würde, in der Menschen mit dem spezifischen Stigmatisierungsmerkmal leben, oder ob die untersuchte Person solche Menschen in ihren sozialen Kreis aufnehmen würde oder als MitarbeiterInnen empfehlen würde.
Vergleichende Untersuchungen über die Stigmatisierung psychisch Kranker in Nigeria und Deutschland ergaben, dass Stigmatisierungen in Deutschland zwar wesentlich seltener zu erwarten sind als in Nigeria, was auf den besseren Informationsstand über diese Krankheiten in Deutschland zurückzuführen sein könnte. Andererseits weisen jedoch Forschungsergebnisse eines Züricher Forschungsteams darauf hin, dass sich gerade die besonders gut über die Sachverhalte informierten Fachleute in ihrem Antwortverhalten bezüglich sozialer Distanz kaum von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Diese Ergebnisse haben kritische Fragen nach dem Rollenbild und der Funktion von PsychiaterInnen in der Verhütung und Bekämpfung von Stigmatisierungen psychisch Kranker bestärkt. [1] [2]
Begriffsgeschichte
Unter Stigmatisierung im christlichen Umfeld wird das Tragen der Wundmale Christi bezeichnet. An verschiedenen Wallfahrtsorten, wo Christusstatuen verehrt werden, soll es hin und wieder zu sogenannten Wundern kommen, indem die Stigmata angeblich zu bluten anfangen. Die Wissenschaft erklärt dieses Phänomen mit der Ausscheidung von Baumharzen.
Quellen
- ↑ Gaebel, W. u. a. (2002): Public attitudes towards people with mental illness in six German cities: results of a public survey under spezial consideration of schizophrenia. Eur. Arch. Psychiatry Clin. Neurosci. 252: 278-87
- ↑ Adewuya, A. O. u. a. (2005): Social distance towards people with mental illness amongst Nigerian university students. Soc. Psychiatry Psychiatr. Epidemiol. 40 :865-8
Literatur
- Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/Main, 1967 [engl. Orig. 1963]
- Asmus Finzen: Psychose und Stigma: Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen, Psychiatrie-Verlag, Bonn, 2000
- Manfred Brusten, Jürgen Hohmeier (Hrsg.): Stigmatisierung 1+2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen – Luchterhand Verlag, Darmstadt 1975
- Michaela Amering, Margit Schmolke: Recovery: Das Ende der Unheilbarkeit, Psychiatrie-Verlag, Bonn, 2007, ISBN 978-3-88414-421-3