Retroviren
Familie Retroviridae | ||||||||
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Taxonomische Merkmale | ||||||||
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Retroviren (Retroviridae) sind eine große Familie behüllter Viren, die vor allem teilungsaktive, eukaryotische Zellen infizieren. Es handelt sich um behüllte Einzel(+)-Strang-RNA-Viren, (ss(+)RNA), deren Erbinformation als RNA vorliegt und die als DNA in das Genom der Wirtszelle eingebaut wird. Zu ihnen gehören die Erreger einiger weit verbreiteter Infektionskrankheiten, die sowohl beim Menschen als auch bei Tieren pandemisch bzw. epidemisch auftreten. Retroviren können grob in einfache und komplexe Retroviren unterteilt werden. Neben den infektiösen exogenen Retroviren gibt es auch endogene Retroviren, die vertikal über die Keimbahn vererbt werden und Bestandteile der Genome werden.
Retroviren sind im Tierreich ubiquitär verbreitet. Man findet sie bei Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen. Als Auslöser von menschlichen Krankheiten sind die beiden menschlichen Retroviren HIV und HTLV-I bekannt.
Taxonomie
Historisch wurden die Retroviren zunächst nach ihrem elektronenmikroskopischen Erscheinungsbild in Typ A, B, C oder D-Retroviren eingeteilt. Später folgte eine Klassifikation, die auch biochemische Eigenschaften und den Zelltropismus berücksichtigte. Die Klassifikation unterschied Onkornaviren, Spumaviren und die Lentiviren. Die aktuelle, zur Zeit verbindliche Taxonomie durch das International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV) unterteilt die Retroviren vor allem aufgrund ihrer genetischen Verwandtschaftsverhältnisse wie folgt in zwei Unterfamilien und sieben Gattungen:
Familie: Retroviren (Retroviridae)
- Unterfamilie: Orthoretroviren (Orthoretrovirinae)
- Gattung (Genus):
- Unterfamilie: Spumaretroviren (Spumaretrovirinae)
- Gattung (Genus):
- Foamyviren (Spumaviren)
- Gattung (Genus):
Beim Menschen sind bisher vier Retroviren bekannt: HTLV-I (humanes T-Zell-lymphotropes Virus Typ I, ein Deltaretrovirus), HTLV-II (humanes T-Zell-lymphotropes Virus Typ II, ein Deltaretrovirus), HIV-I (humanes Immundefizienz-Virus Typ I, ein Lentivirus), HIV-II (humanes Immundefizienz-Virus Typ II, ein Lentivirus)
Die menschlichen Retroviren sind denen anderer Primaten so eng verwandt, dass häufig beide Gruppen unter der Bezeichnung Primaten-Retroviren zusammengefasst werden. Tatsächlich geht man auch heutzutage davon aus, dass die entsprechenden menschlichen Retroviren durch Übertragung von Affen-Retroviren auf den Menschen entstanden sind. Bei HTLV-I und HTLV-II hat diese Übertragung wohl schon vor Jahrtausenden stattgefunden, für HIV-I und HIV-II wahrscheinlich im 20. Jahrhundert.
Geschichte
1908 beschrieben die dänischen Pathologen Vilhelm Ellermann und Oluf Bang, dass sich durch zellfreie Filtrate Hühnerleukämie auf andere Hühner übertragen ließ [1] Dieses Virus ist heute als aviäres Leukosevirus (ALV) bekannt. Peyton Rous stellte 1911 fest, dass mit filtrierten Extrakten aus Hühnersarkomen gesunde Hühner infiziert werden konnten, die daraufhin ebenfalls Tumore entwickelten. Das Virus wurde später nach ihm Rous-Sarkom-Virus genannt und Rous erhielt 1966 (d.h. 54 Jahre nach seiner Erstbeschreibung) den Nobelpreis. Die ersten nachgewiesenen Viren waren also Retroviren.
Die Entdeckung, dass Viren Tumore auslösen können, wurde 1936 auch auf Säugetiere ausgedenkt. John J. Bittner beschrieb das Maus-Mammatumorvirus (MMTV), das sowohl horizontal übertragen als auch vererbt werden konnte.
Die Reverse Transkriptase wurde 1970 nachgewiesen und 1980 wurde das humane T-Zell-Leukämie-Virus Typ I (HTLV-I), das erste humane Retrovirus, von Robert Gallo beschrieben. Wenige Jahre später erfolgte die Beschreibung von HIV-1 und HIV-2 durch Gallo und Luc Montagnier.
Aufbau
Viruspartikel
Infektiöse Retrovirus-Partikel sind alle ähnlich aufgebaut und haben einen Durchmesser von etwa 100 nm. Sie besitzen ein Capsid, das von einer Hüllmembran umgeben ist, die aus der Cytoplasmamembran der Wirtszelle abgeschnürt wurde und mit viralen Proteinen durchsetzt ist, sowie einen „Kern“ innerhalb des Capsids aus weiteren Proteinen und einen Ribonukleinsäure-Komplex, in dem die beiden RNA-Einzelstränge liegen.
Genom
Das einzelsträngige RNA-Genom der Retroviren ist 7-12 kb groß. Retroviren sind die einzigen RNA-Viren, die diploid angelegt sind, d. h. jedes Retrovirus hat zwei Kopien seines Genoms. Sie werden von den wirtseigenen Transkriptions-Enzymen übersetzt und synthetisiert und benötigen eine spezifische zelluläre RNA (tRNA).
Das provirale Genom eines einfachen Retrovirus enthält in der Regel drei Gene und zwei LTRs (long terminal repeats), die sich am Anfang und am Ende befinden:
- Die LTRs enthalten Steuersequenzen zur Genexpression.
- gag codiert die Proteine der inneren Kapsel (gruppenspezifische Antigene)
- pol codiert die virale Protease, reverse Transkriptase (mit RNaseH) und Integrase
- env codiert die Proteine der Hülle
- ψ ist eine Sequenz für das Verpacken der RNA in die Virenhülle
Komplexe Retroviren, wie z. B. das HI-Virus enthalten noch weitere, regulatorische Gene. Bei HIV sind dies tat, rev, vif, nef, vpu und vpr, deren Genprodukte die Replikation kontrollieren.
Auch HTLV-I, HTLV-II und BLV enthalten mehr Gene. Besonders wichtig ist das Gen für das TAX-Protein, das als Onkogen angesehen wird.
Lebenszyklus
Der Lebenszyklus eines Retrovirus besteht aus fünf Schritten: Infektion der Zelle, Reverse Transkription, Überwindung der Kernhülle, Integration ins Wirtsgenom, Expression der viralen Proteine und des RNA-Genoms und die Bildung neuer Viruspartikel.
Infektion der Wirtszelle
Nachdem das Glykoprotein der Virushülle an seine oder seinen zellulären Rezeptor gebunden hat, verschmilzt die virale Membran mit der Membran der Zelle und entlässt das Capsid ins innere der Zelle, ins Cytoplasma.
Reverse Transkription
Hauptartikel: Reverse Transkriptase
Retroviren sind die einzigen einsträngig-plusstrangorientierten RNA-Viren, bei denen das Genom nicht sofort als Matrize (mRNA) bei der Infektion benutzt werden kann: Wenn das Virus diese RNA in die zu befallende Zelle eingebracht hat, muss die RNA in doppelsträngige DNA überführt werden. Dieser Vorgang wird reverse Transkription genannt. Dazu bringt das Virus das Enzym Reverse Transkriptase mit. Diese „schreibt“ die RNA des Virus in DNA um, welche dann mithilfe eines zweiten mitgebrachten Enzyms, der Integrase, in das Genom der Wirtszelle integriert wird.
Normalerweise verläuft die Transkription an der DNA als Matrize, wobei ein komplementärer RNA-Strang synthetisiert wird; eine Ausnahme stellen die Retroviren und die Retroelemente (auch Klasse-I-Transposons genannt) dar. Das Retro bezieht sich auf die Umkehrung dieses Grundsatzes. Deshalb verursachen Retroviren oft latente Infektionen. Man nimmt an, dass das menschliche Genom im Laufe der Evolution mit unzähligen Retroviren durchsetzt wurde, die größtenteils längst nicht mehr infektiös sind. Sie erklären aber vielleicht die Existenz von „Transposons“.
Da dieser Prozess durch die fehlende Korrekturlese-Fähigkeit der Reversen Transkriptase relativ ungenau ist, erfolgen häufige Mutationen des Virus. Diese ermöglichen eine schnelle Anpassung des Virus an antivirale Medikamente und damit eine Ausbildung von Resistenzen.
Überwindung der Kernhülle
Integration ins Wirtsgenom
Hauptartikel: Integrase
Die Integration des viralen Genoms in das Wirtsgenom ist ein essentieller Schritt im Replikationszyklus des Virus. Er wird katalysiert durch ein Enzym namens Integrase, das in allen Retroviren und Retrotransposons vorkommt. Die Integrase bindet an die virale und die Wirts-DNA und bildet mit diesen einen Komplex, der als Präintegrationskomplex (PIC, von engl. preintegration complex) bezeichnet wird. Theoretisch kann die Integration an jedem Ort im Wirtsgenom erfolgen, je nach Art des Retrovirus zeigen sich jedoch bestimmte bevorzugte chromosomale Bereiche. Was genau den Ort der Integration beeinflusst, ist noch nicht völlig geklärt, sicher ist jedoch, dass die Aminosäuresequenz der Integrase eine Rolle spielt, wodurch sich spezifische Interaktionsmöglichkeiten zwischen Integrase und Faktoren im Chromatin ergeben.
Expression und Partikelbildung
Die Vermehrung der integrierten Virus-Gene, auch Provirus genannt, erfolgt entweder bei der Zellteilung mit der Verdopplung der Wirts-DNA oder intrazellulär durch die sogenannte Retrotransposition: Dabei wird der Pro-Virus aus der DNA wieder herausgeschnitten, vermehrt und an verschiedenen Stellen des Genoms wieder integriert.
endogene Retroviren/Retrotransposons
Im Genom der Primaten befinden sich die Genome von zwei Retro-Viren (HERV-H und HERV-K, wobei „HERV“ für „humanes endogenes Retrovirus“ steht), die zu unterschiedlichen Zeiten integriert und vermehrt wurden. Ihre Evolution lässt sich auf Grund der Unterschiede in der Basensequenz rekonstruieren. |
Siehe auch
Quellen
- ↑ V. Ellermann and O. Bang. 1908. Experimentelle Leukämie bei Hühnern. Zentralbl. Bakteriol. Parasitenkd. Infectionskr. Hyg. Abt. Orig. 46: 595-609
Literatur
- John M. Coffin, Stephen H. Hughes, Harold E. Varmus (Hrsg.): Retroviruses. Cold Spring Harbor Laboratory Press, U.S.; 1. Auflage 1997, ISBN 0879694971, online zugänglich bei NCBI Bookshelf