Kritias (Platon)
Der Kritias (griechisch Κριτίας, auch Ἀτλαντικός Atlantikos genannt[1]) ist ein in Dialogform verfasstes Spätwerk des griechischen Philosophen Platon. Er greift darin den im Dialog Timaios erwähnten platonischen Mythos vom Krieg zwischen Athen und Atlantis wieder auf und beschreibt beide Staatsutopien detailliert, bricht seine Ausführungen jedoch ab. Der Kritias ist Teil einer ursprünglich geplanten Trilogie, zusammen mit Timaios und Hermokrates.[2] Aufgrund der Kürze des Kritias und seiner inhaltlichen Überschneidung mit dem Timaios werden beide Dialoge häufig als Timaios-Kritias zusammengefasst.[3]
Entstehung und Überlieferung
Der Kritias ist eines der letzten von Platon verfassten Werke. Der Philosoph schrieb es sehr wahrscheinlich direkt im Anschluss an den Timaios. Umstritten ist, ob Platon nach dem Kritias noch die Nomoi verfasste,[4] oder ob der Kritias wirklich sein letztes Werk war. Interessant wird dies insbesondere in Hinblick auf die Frage, warum der Kritias unvollendet blieb. Ein Teil der Forschung geht nämlich davon aus, dass Platon die Nomoi bereits vor dem Timaios und Kritias verfasst hatte und lediglich kurz vor seinem Tod noch einmal überarbeiten wollte. Beim Schreiben des Kritias habe Platon dann der Tod ereilt, weshalb das Werk unvollendet blieb.[5] Der andere Teil der Forschung meint jedoch, dass Platon den Kritias bewusst abbrach, weil der Dialog seinen ihm zugedachten Zweck nicht mehr erfüllte.[6]
Als Entstehungszeitraum für den Kritias kommt hauptsächlich die Mitte der 350er v. Chr. in Frage. Da der Atlantis-Mythos überwiegend als Parabel auf die gescheiterte Seemachtspolitik Athens verstanden wird, bot vermutlich gerade die Niederlage der Athener im Bundesgenossenkrieg (357 – 355 v. Chr.) und das damit verbundene Ende des Zweiten Attischen Seebundes einen direkten Anlass zum Verfassen der Schrift.[7] Ebenso wird der Atlantis-Mythos als Reaktion Platons auf die indirekten Vorwürfe Isokrates' gesehen, wonach Platons Politeia eine bloße Abschrift uralter ägyptischer Verhältnisse sei[8] (woraufhin Platon im Timaios schreibt, der Idealstaat in Athen wäre noch um 1000 Jahre älter als in Ägypten[9]). Von daher lässt sich Isokrates' Busiris (370er v. Chr.) als Terminus post quem annehmen, und ebenso der Areopagitikos (354 v. Chr.), Isokrates' Reaktion auf Platons Timaios,[10] als Terminus ante quem.
Überlieferung
Da Platon den Kritias nicht beendete ist praktisch ausgeschlossen, dass der Text vor dem Tod des Philosophen außerhalb der Akademie zugänglich war. Unklar ist daher, wann und von wem der Kritias veröffentlich wurde. Der früheste Beleg der Schrift findet sich Aristophanes von Byzanz, dem Vorsteher der Bibliothek von Alexandria.[11]
Den modernen Editionen des Kritias liegen im wesentlichen zwei mittelalterliche Handschriften zu Grunde. Zum einen der Codex Parisinus Graecus 1807, fol. 145-152 aus dem 9./10. Jahrhundert[12] und zum anderen der Codex Vindobonensis 55, supl. phil. gr. 39 aus dem 13./14. Jahrhundert. Daneben existieren einige weitere Handschriften.[13] Die wichtigsten modernen Editionen stammen von John Burnet und Albert Rivaud.
Auftretende Figuren
Der Kritias umfasst die gleichen Figuren wie der Timaios.
Timaios
- Hauptartikel: Timaios von Lokri
Im Gegensatz zu den drei anderen auftretenden Figuren ist bei Timaios nicht sicher, ob es sich um eine historische oder fiktive Gestalt handelt, da die beiden platonischen Dialoge Kritias und der nach ihm benannte Timaios die einzigen Erwähnungen seiner Person darstellen. Während manche Forscher von einer historischen Gestalt namens Timaios ausgehen,[14] sprechen sich andere entschieden dagegen aus,[15], und nehmen vielmehr an, dass Platon die Figur des Timaios anhand mehrerer historischer Vorbilder erfunden hat.[16] Eines dieser Vorbilder könnte der pythagoreische Philosoph Archytas von Tarent gewesen sein,[17] mit dem Platon befreundet war, den er aber nicht an Timaios' Stelle in den beiden Dialogen auftreten lassen konnte, da er zum fiktiven Zeitpunkt der Dialogsituation noch im Kindesalter war.
Kritias
- Hauptartikel: Kritias
Kritias ist der Haupterzähler und daher Namensgeber des Kritias-Dialogs. Er war über seinen Vorfahren Dropides[18] mit dem berühmten athenischen Staatsmann Solon verwandt[19] und wurde daher von Platon als Erzähler der vorzeitlichen Geschichte Athens gewählt. Zudem war Kritias mit Platon verwandt.[20] Kritias gibt an, von seinem gleichnamigen Großvater die Geschichte vom Krieg zwischen Athen und Atlantis vernommen zu haben, der sie wiederum von Solon vorgetragen bekommen hatte.[19]
Während zuvor alle Kommentatoren des Timaios und Kritias, von der Antike[21] bis in die Neuzeit[22], den literarischen Kritias ohne jeglichen Zweifel mit dem Mitglied der Dreißig Tyrannen identifizierten, entbrannte im frühen 20. Jahrhundert eine Debatte darüber, ob Platon nicht den Großvater des Tyrannen Kritias gemeint habe, der ebenfalls Kritias hieß und auch einen Großvater gleichen Namens hatte.[23] Diese Frage fand bis heute keine endgültige Antwort, da nach wie vor beide Theorien in der Fachliteratur auftauchen.
Auf der einen Seite wird argumentiert, dass zwischen dem jüngeren Kritias (460 – 403 v. Chr.) und Solon (638 – 558 v. Chr.) eine zu große Zeitspanne läge, und so die von Platon beschriebene Überlieferungskette von Solon zu Kritias unmöglich sei. Dem entgegen gehalten wird die Tatsache, dass Platons Werk voll von Anachronismen ist.[24] Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass Solon von den Griechen vor Aristoteles in eine spätere Zeit datiert wurde.[25] Aus Platons Sicht mochte Solon kurz vor Anakreon gelebt haben, der noch bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. lebte.[26]
Ohnehin ist vom älteren Kritias keinerlei politische Leistung überliefert. Da er zudem bereits lange Zeit vor der Veröffentlichung des Timaios und Kritias verstarb, hätte es für Platon wohl keinen Sinn ergeben, einen Staatsmann in diesen beiden Dialogen auftreten zu lassen, der für die Zeitgenossen uninteressant weil nahezu unbekannt war.[27]
Sokrates
- Hauptartikel: Sokrates
Sokrates, der Lehrer Platons, spielt im Kritias eine sehr untergeordnete Rolle (anders als etwa im Timaios, wo er die Themenstellung des Gesprächs maßgeblich beeinflusst). Sein Anteil am Gespräche beschränkt sich auf eine einzige Äußerung (108a5-b7), in der er vom Vortrag des Timaios zum Vortrag des Kritias überleitet.
Hermokrates
- Hauptartikel: Hermokrates
Bei der literarischen Figur des Hermokrates handelt es sich um den syrakusanischen Politiker und General, der auch von Thukydides,[28] Xenophon,[29] Plutarch[30] und Polyainos[31] erwähnt wird. Er hat den geringsten Anteil am Gespräch, jedoch wird ihm im Timaios ein ausführlicher Vortag in Aussicht gestellt.[32] Unklar ist, ob Hermokrates dabei noch im Kritias die Rede des Kritias hätte ergänzen sollen, oder ob seine große Rede gänzlich für den (nie geschriebenen) Hermokrates geplant war.
Inhalt
Einzelnachweise
- ↑ Diogenes Laertios III 60.
- ↑ J. Eberz: „Die Bestimmung der von Platon entworfenen Trilogie Timaios, Kritias, Hermokrates“, in: Philologus 69, 1910, S. 40-50.
- ↑ So etwa von Calvo & Brisson.
- ↑ Dies wird indirekt mit der Nachricht von Diogenes Laertios (III 37) überliefert, dass Platons Schüler Philippos von Opus Vorlage:Polytonisch.
- ↑ Ledger (1989), S. 197: „[…] not only are the Timaeus and Critias late dialogues, but […] they were the last productions of Plato's pen, Critias being cut short by Plato's death.“
- ↑ Nesselrath (2002), S. 41: „Gerade die Stelle, an der der Kritias abbricht und an der die Götter ziemlich überraschend und dann gleich massiv ins Geschehen eingreifen, ist dafür bezeichnend, und vielleicht sind Platon gerade bei dieser Szene denn auch Bedenken gekommen, ob er die Geschichte wirklich in dieser Weise weiterführen konnte: War nämlich (wie es an dieser Stelle aussieht) der große Krieg zwischen Athen und Atlantis von den Göttern vornherein als Strafe für die Hybris von Atlantis gedacht (wovon im Timaios noch nichts steht), so konnte sein Ausgang – als Strafgericht für Atlantis – ja gar nicht zweifelhaft sein; damit aber hätte auch die großartige Abwehrleistung von Ur-Athen nicht mehr Platons Hauptanliegen erfüllt, nämlich seinen Idealstaat in einer Stunde äußerster Bewährung vorzuführen, sondern die Ur-Athener wäre zu Marionetten der Götter ‚herab-funktionalisiert‘ worden und hätten nur noch als deren Instrument zur Züchtigung der Atlanter gedient, während sie doch ursprünglich das Hauptthema der Geschichte sein sollten.“
- ↑ Vidal-Naquet (1964), S. 348: „[…] date de la défaite d’Athènes dans la guerre sociale et de la fin du second empire athénien.“
- ↑ Isokrates, Busiris 15-20.
- ↑ Platon, Timaios 23d6-e4.
- ↑ Isokrates, orationes VII 74. Dazu auch Eucken (1983), S. 211.
- ↑ Als Fragment bei Diogenes Laertios III 61 (= Aristophanes von Byzanz Fragment 403 [Slater]).
- ↑ H. D. Saffrey: „Nouvelles observations sur le manuscrit Parisinus graecus 1807“, in: American Journal of Philology 119, 1998, S. 293-307.
- ↑ Laurent. 85, 5 und 95, 9; Angel. 104; Ces. Malat. D XXXV.
- ↑ Kranz (1967), S. 343.
- ↑ So etwa F. M. Cornford (1937), S. 2: „The very fact that a man of such distinction left not the faintest trace in political or philosophic history is against his claim to be a historical person. The probability is that Plato invented him because he required a philosopher of the Western School, eminent both in science and statesmanship, and there was no one to fill the post at the imaginary time of the dialogue.“
- ↑ Thesleff (1982), S. 190: „Plato's picture of him has probably borrowed traits from various quarters.“
- ↑ Frank (1923), S. 379.
- ↑ Dropides war 593/2 v. Chr. Archon, im Jahr nach Solon, laut Philostratos, Vitae sophistarum I 16,2: Vorlage:Polytonisch. Zu Dropides auch Prosopographia Attica 4573.
- ↑ a b Platon, Timaios 20d ff.
- ↑ Platons Mutter Periktione war die Tochter des Glaukon, welcher wiederum Bruder von Kritias' Vater Kallaischros war.
- ↑ Proklos, Kommentar zu Platons ‚Timaios‘ I p. 70, 21-24 Diehl = Schol. Plat. Tim. 20a.
- ↑ Etwa Jowett (1871), S. 526; oder Wilamowitz-Moellendorf (1919), S. 466.
- ↑ Zuerst bei Burnet (1914), S. 338.
- ↑ E. Zeller: Über die Anachronismen in den platonischen Gesprächen. Berlin 1873, S. 79-99.
- ↑ D. Fehling: Die sieben Weisen und die frühgriechische Chronologie. Bern 1985, S. 111-112.
- ↑ T. G. Rosenmeyer: „The Family of Critias”, in: American Journal of Philology 70, 1949, S. 404-10, insb. S. 408.
- ↑ Pančenko (1990), S. 137
- ↑ Thukydides IV 58, 65; VI 32, 35, 72f., 75, 81, 96, 99; VII 21, 73; VIII 26, 29, 45, 85.
- ↑ Xenophon, Hellenika I 1, 27.
- ↑ Plutarch, Nikias 21.
- ↑ Polyainos I 43.
- ↑ Timaios 20c5f.
Literatur
- John Burnet: Greek Philosophy, Part 1: Thales to Plato, London 1914.
- Tomás Calvo & Luc Brisson (Hgg.): Interpreting the ‚Timaeus-Critias‘, Sankt Augustin 1997. ISBN 3-89665-004-1
- Benjamin Jowett: The dialogues of Plato, Bd. 3, Oxford 1871.
- Christoph Eucken: Isokrates. Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen. Berlin 1983. ISBN 3-11-008646-8
- Erich Frank: Plato und die sogenannten Pythagoreer. Ein Kapitel aus der Geschichte des griechischen Geistes, Halle 1923.
- Walther Kranz: Studien zur antiken Literatur und ihrem Fortwirken, Heidelberg 1967.
- Dmitrij V. Pančenko: Platon i Atlantida, Leningrad 1990. ISBN 5-02-027177-2
- Holger Thesleff: Studies in Platonic chronology, Helsinki 1982. ISBN 951-653-108-3
- Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon, Band 1: Leben und Werke, Berlin 1919.
Weblinks
- Atlantis-Scout: Platons Dialoge Timaios und Kritias.
- Platon - Kritias als pdf-Datei zum Herunterladen