Volkstumspolitik
Volkstumspolitik ist eine rein deutsche Begriffsprägung, die nach dem Ersten Weltkrieg und den im Versailler Vertrag verfügten Gebietsabtretungen zur Entfaltung kam. Ihre praktische Ausgestaltung erfuhr sie im „Dritten Reich“ zunächst mit dem Anschluss des Saarlandes 1935, dem Anschluss Österreichs als „Unternehmen Otto“ und der Eingliederung des Sudetenlandes 1938 und dann massiv mit Kriegsbeginn gegen Polen und dem Russlandfeldzug als „Unternehmen Barbarossa“ parallel neben Himmlers „Programm Heinrich“. Volkstumspolitik ist die außenpolitische rasseimperialistische Verlängerung der „Nürnberger Gesetze“ vom „Reichsparteitag der Freiheit“ am 15. September 1935, die als so genannte Blutschutzgesetze die „Reinheit des deutschen Blutes“ und das „artverwandte Blut“ zunächst vor der „Vermischung“ mit „Juden“, „Negern“ und „Zigeunern“ bewahren sollten, bis mit Kriegsbeginn im Osten der Schutz vor den „Fremdvölkischen“ und deren "Umvolkung" oder Bekämpfung bis zur Vernichtung hinzukamen. Sie ist also zentraler Herrschaftsbegriff des Nationalsozialismus.
Hintergrund
Der Begriff „Volkstum“
Volkstum ist ein von Friedrich Ludwig Jahn in die deutsche Nationaldiskussion eingeführter Begriff, und zwar bereits im Titel seines 1810 zum ersten Mal erschienenen Buches „Deutsches Volksthum“. Direkter Auslöser des Buches ist die mit Napoleon erfolgende Besetzung der deutschen Kleinstaaten, die in den „Befreiungskriegen“ von 1813-1815 zu einer ersten nationalen Aufbruchstimmung führt.
Jahn stellt das Wort in folgende Reihung: „Volk“ → „Volksthum“ → „volksthümlich“ → „Volksthümlichkeit“. Es steht gleichberechtigt neben „Deutschheit“ (vgl. Deutschtum) und richtet sich gegen alle, vor allem durch Frankreich geprägte „Ausländerei“. Alle aus „national“ abgeleiteten Bildungen gelten ihm als „aufgezogene Missgeburten“. Seine ausführlicheren Definitionen von „Volksthum“ sind:
- „Es ist das Gemeinsame des Volks, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiederzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit.“
- „Nichts ist ein Staat ohne ein Volk, ein seelenloses Kunstwerk; nichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser luftiger Schemen, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden. Staat und Volk in Eins ergeben erst ein Reich, und dessen Erhaltungsgewalt bleibt das Volksthum.“[1]
Dieser von Jahn initiierte Volkstumsdiskurs, der auf eine erst 1871 erfolgende deutsche Nationalstaatsbildung zielt, führt bei der Identitätsbildung künftiger deutscher Nationalstaatsbürger zu einem inflationären Gebrauch des Adjektivs „teutsch“/„deutsch“, das allen Selbstverständlichkeiten des Lebens vorangestellt werden kann, bis sogar die Natur mit Wald, Baum (z. B. Eiche), Wiese, Berg, Tal, Fluss (z. B. Rhein) und See eine „deutsche“ wird.
Wie der Panslawismus zur späten osteuropäischen Nationalstaatsdiskussion gehört, so die Rede vom „deutschen Volksthum“ und der „Deutschheit“ zu ihrem westlichen Anlieger, der es hinwiederum in der Überwindung deutscher ‚Kleinstaaterei‘ den bereits nationalstaatlich verfassten Westeuropäern gleichtun möchte.[2]
Weimarer Republik
Mit den neuen Grenzziehungen nach dem „Versailler Vertrag“ vor allem im Osten, der so festgeschriebenen Schrumpfung des Reichsgebiets und der Auflösung Österreich-Ungarns lebten 10 Millionen sich zu den Deutschen zählende Menschen außerhalb der Reichsgrenzen. Mit von deutschen Volksgruppen organisierten Volksabstimmungen in Nordschleswig, Oberschlesien oder in Kärnten sollten die neuen Grenzziehungen als den Vorgaben des Völkerbundes widersprechend in Frage gestellt werden. Noch frei vom „Rasse“-Prinzip und „Volksgemeinschafts“-Ideologie nahm sich der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ (VDA) aller außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen und ihrer landsmannschaftlichen Interessen an. Vorwiegend preußisch motivierte und drastische Forderungen stellte hingegen der 1894 gegründete „Deutsche Ostmarkenverein“. Noch folgenreicher waren die 1931 gegründeten „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (VFG).
„Drittes Reich“
Im „Dritten Reich“ war Volkstumspolitik zunächst Angelegenheit des Führerstellvertreters Rudolf Heß. Unter ihm konnte der VDA eine Weile unbeeinträchtigt weiterarbeiten, wurde aber mit der 1935 gegründeten „Volksdeutschen Parteidienststelle“ gleichgeschaltet und verlor endgültig mit der 1936 gegründeten „Volksdeutschen Mittelstelle“ (VOMI) jede Eigenständigkeit. Eindeutig revanchistischer führte sich der 1933 von Franz Lüdtke gegründete und später von Theodor Oberländer geführte „Bund Deutscher Osten“ (BDO) auf. Mit seiner Gründung erlosch die Selbstständigkeit vieler ostdeutscher Volkstumsvereinigungen, allen voran der „Deutsche Ostmarkenverein“.
Nachdem Heinrich Himmler sich am 7.10.1939 selbst aufgrund eines Erlasses von Hitler zum „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ ernannt hatte, gliederte er 1941 die VOMI als Hauptamt in den Apparat der SS ein. Ihr oblag bereits die Rückführung und Neuansiedlung von in Osteuropa zersplittert lebenden deutschen Volksgruppen, die 1939-1940 in der ersten „Heimführungs-Aktion der Volksdeutschen“ zu einer ersten großen Vertreibungswelle in den als „altem deutschen Volks- und Kulturboden im Osten“ bezeichneten Territorien Polens führte.[3]
Ziel der Volkstumspolitik war, alle Gebietseroberungen bis zum Ural nach dem ins Auge gefassten Endsieg in das „Heilige germanische Reich deutscher Nation“ zu integrieren, und zwar nicht als Kolonien, sondern als Teile dieses Reichs. Himmler nannte dies Programm Heinrich. Für dessen Verwirklichung veranschlagte er einen Zeitraum von 20 Jahren, was seiner Lebensperspektive entsprach. Als für die zunächst erfolgende ‚Kolonisation‘ des Ostens wie keinen Zweiten geeignet sah Himmler Odilo Globocnik, seinen „Mann im Osten“, an. In der auf den Sieg erfolgenden „arbeitsreichsten Zeit unseres Lebens“, nämlich dem „Kampf um die Gewinnung des Friedens“, „müssen wir den Siedlungsraum des Ostens noch kultivieren und besiedeln und für die europäische Kultur erschließen“ (Rede Himmlers am 23.11.1942 in der SS-Junkerschule Bad Tölz [4]). Nach Himmlers Vorstellungen sollten einmal 400-500 Millionen „germanische“ Bewohner in ganz Europa einen endgültigen Schutzwall gegen „Asien“ und seine in der Nachfolge von Hunnen, Magyaren, Mongolen und Tataren fantasierten Völkersturmwellen von jenseits des Urals bilden. Um das Besiedlungsziel zu erreichen, sollten anstelle der „rassisch und politisch unerwünschten überflüssigen“ Bevölkerung, die als „Fremdvölkische“ über die Volksliste bürokratisch erfasst werden konnte[5], wenn sie nicht gleich mit dem „jüdischen Bolschewismus“ identifiziert wurde, siedlungswillige SS-Leute, „germanische“ Umsiedler aus ganz Europa, Übersee und „Eindeutschungsfähige“ aus den eroberten Ostgebieten angeworben werden.[6]
Gegenwart
In Deutschland ist „Volkstumspolitik“ ein endgültig kompromittierter Begriff. Das liegt nicht zuletzt am „Turnvater“ Jahn selbst, wenn er in Bezug auf Menschen von „schmutzigem Nichts“ neben den „Edelvölkern der Erde“, von „verächtlichstem Auskehricht des Menschengeschlechts“ spricht. Von den Deutschen aber sagt er: „Welches Volksthum steht am Höchsten, hat sich am Meisten der Menschheit genähert? Kein Anderes, als was den heiligen Begriff der Menschheit in sich aufgenommen hat, mit einer äußeren Allseitigkeit sie sinnbildlich im Kleinen vorbildet, wie weiland volksthümlich die Griechen, und noch bis jetzt weltbürgerlich die Deutschen, der Menschheit heilige Völker“[7]
Nicht zu übersehen ist jedoch, dass das mit dem Begriff im Grunde auch Gemeinte fortdauert, nämlich eingebettet ins Selbstbestimmungsrecht der Völker im menschenrechtlichen Rahmen Minderheitenschutz gegenüber einem als fremd empfundenen Nationalstaat oder einer belagernden feindlichen Macht zu verdienen. Das zeigt sich im Europa der Gegenwart zwischen Flamen und Wallonen in Belgien, wobei jedoch vor allem ökonomische Erwägungen der Flamen von Ausschlag sind, in Frankreich von Seiten der Korsen, Bretonen und Basken, in Spanien von Seiten der Basken und Katalanen, in England von Seiten der Nordiren und nicht zu vergessen im ehemaligen Jugoslawien, wo menschenrechtliche Erwägungen wie nirgends sonst in Europa zu berücksichtigen sind.
In Deutschland wird seit den 1990er Jahren geklärt, welche Wissenschaften und Wissenschaftler der NS-Volkstumspolitik willig zuarbeiteten. Denn die Volkstumsforschung erhielt im Krieg immerhin jährliche Zuwendungen von mindestens 2 Millionen Reichsmark von staatlicher Seite. Inzwischen gibt es kaum mehr einen Wissenschaftszweig, der bei unterstützenden Handreichungen für Himmlers „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“ als nicht involviert angesehen werden dürfte. Namentlich hervorgehoben werden z. B. für Agrar-, Geschichts-, Bevölkerungswissenschaft, Volkskunde und Geografie folgende Persönlichkeiten aus dem etwa 1000 Personen umfassenden Umkreis der seit 1931 existierenden „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (VFG) [8]:
Hermann Aubin, Max Hildebert Boehm, Albert Brackmann, Werner Conze, Erich Keyser, Konrad Meyer, Emil Meynen, Theodor Oberländer, Otto Reche, Theodor Schieder, Peter-Heinz Seraphim, Ernst Zipfel.
Anmerkungen
- ↑ Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volksthum, Hildesheim-New York 1980 (Neudruck), S. 7-9, 18.
- ↑ Hermann Glaser, Spießerideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, Frankfurt/M-Berlin-Wien 1979; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1999.
- ↑ Der Reichsführer SS, SS=Hauptamt=Schulungsamt (Hg.), SS=Leithefte – Kriegsausgabe, Jg. 6, Folge 2b, S. 2-6.
- ↑ Abdruck und Analyse der Rede in Himmlers und Hitlers Symbolpolitik mit mittelalterlichen Herrschern
- ↑ Diemut Majer, 1993.
- ↑ Der Generalplan Ost - Zur Germanisierungspolitik des NS-Regimes in den besetzten Ostgebieten 1939-45
- ↑ Jahn, S. 21-27.
- ↑ Michael Fahlbusch: Für Volk, Führer und Reich! Volkstumsforschung und Volkstumspolitik 1931-1945.
Literatur
- Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
- Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002 (zuerst 1988).
- Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst nationalsozialistischer Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999.
- Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000.
- Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volksthum, Hildesheim-New York 1980 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1813).
- Diemut Majer, "Fremdvölkische" im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Schriften des Bundesarchivs, Bd. 28, München (Oldenbourg Wissenschaftsverlag) 1993. ISBN 978-3-486-41933-7.
- Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999.