Gastarbeiter
Der euphemistische Begriff Gastarbeiter wurde in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland für die in großer Zahl im Ausland angeworbenen Arbeitsmigranten geprägt. Bereits ab Anfang 1970 wurde versucht ihn durch passendere Begriffe zu ersetzen, was nichts daran änderte, dass innerhalb der deutschen Umgangssprache der Begriff - in gewissen Kreisen bis heute - weiter gepflegt wurde.
In der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der sog. Vollbeschäftigung mangelte es an Arbeitnehmern für gering qualifizierte Tätigkeiten, vor allem in der Montan- und Automobilindustrie, Stadt- und Gebäudereinigung und für andere arbeitsintensive Tätigkeiten. Für diese wurden im europäischen Ausland seit 1955 mit Hilfe von Anwerbebüros und begleitet von bilateralen Anwerbeabkommen vor allem männliche Arbeitsmigranten angeworben. Die ersten Menschen, die als Gastarbeiter in dieser Zeit angeworben wurden, kamen aus Italien, Spanien, Jugoslawien, in geringerer Zahl auch aus Griechenland (sog. Anwerbestaaten). Ab 1960 kamen auch Gastarbeiter aus der Türkei und Portugal. 1964 wurde in der Bundesrepublik der offiziell einmillionste Gastarbeiter, ein Portugiese, begrüßt (Er bekam zur Begrüßung ein Moped geschenkt). Zu den Anwerbeländern kamen auch Tunesien, Marokko und Südkorea, mit den Philippinen wurden Anwerbeverträge für Krankenpflegepersonal geschlossen. Schließlich gab es 1971 auch einen Anwerbevertrag mit England. Im September 1971 waren damit über zehn Prozent der in der BRD beschäftigten Arbeitnehmer Gastarbeiter.
Arbeitnehmer, die aufgrund der Freizügigkeitsregelungen der EWG in der BRD arbeiteten (Belgien, Frankreich, Niederlande) oder ohne besondere Vertragsgrundlage dort arbeiteten (Österreich, Schweiz, England, USA) wurden gewöhnlich nicht als Gastarbeiter bezeichnet. Zahlenmäßig spielten sie auch nur eine geringe Rolle gegenüber denen, die über Anwerbeabkommen geholt wurden.
Verständnis des Begriffs
Der Begriff Gastarbeiter wurde anstelle des aus nationalsozialistischen Zeiten belasteten Begriffs Fremdarbeiter für die Arbeitsmigranten eingeführt. Der gewählte Begriff des Gastes sprach für sich, da man im Gastland Deutschland einen vorübergehenden Aufenthalt zur Leistung von Arbeit vorsah. Auf der anderen Seite verbietet es die Gastfreundschaft, seinen Gast arbeiten zu lassen. Die Widersprüchlichkeit und Ironie dieses Begriffs wurde auch im Bereich der modernen deutschsprachigen Gastarbeiterliteratur erkannt und instrumentalisiert. Anders als bei der Anwerbung von Arbeitern für Zechen während der Industrialisierung im Ruhrgebiet (Ruhrpolen) bestand weder die Absicht, den Menschen eine neue Heimat zu geben, noch hatten die Migranten die Absicht, sich dauerhaft eine neue Heimat in Deutschland zu suchen. Das von den Anwerbern erstrebte "Rotationsprinzip" stieß also in der Anfangsphase der Arbeitsmigration kaum auf Widerstand.
Bereits in den 1970er Jahren wurde der Begriff von Soziologen aber als problematisch, weil euphemistisch erkannt. So veranstaltete der WDR 1972 ein Preisausschreiben zur Findung eines geeigneteren Wortes, zu dem 32.000 Vorschläge eingingen. Hiernach wurde zunächst der Begriff des „ausländischen Arbeitnehmers“ vermehrt benutzt, später war in seriösen Publikationen von „Arbeitsmigranten“ die Rede.
Entwicklung
Bereits Anfang der 1950er Jahre wurde in einigen Branchen in der Bundesrepublik ein Arbeitskräftemangel spürbar. Die hohe Zahl der Kriegstoten und -gefangenen schränkte das Arbeitskräftepotenzial ein. Vor allem der Bergbau litt darunter, dass viele neu eingestellte Arbeitnehmer bei der ersten Gelegenheit in Branchen mit weniger harten Arbeitsbedingungen wechselten. Zunächst wurden die Bergbauunternehmen selbst aktiv und warben in Österreich unter den Flüchtlingen aus Siebenbürgen neue Kumpel an. Allerdings blieb die Zahl der so gewonnenen Arbeitnehmer gering. Bereits in dieser Zeit gab es im Bundeswirtschaftsministerium erste Überlegungen, italienische Arbeiter anzuwerben, was jedoch zunächst auf die Ablehnung der Unternehmer stieß. Unter anderem rechneten sie mit einer geringen Arbeitsleistung sowie der Verbreitung kommunistischer Ideen.
Im Herbst 1953 warb die italienische Regierung in der Bundesrepublik für italienische Gastarbeiter. Auf diesem Weg sollte das Handelsbilanzdefizit durch Überschüsse in der Übertragungsbilanz kompensiert werden, um die Leistungsbilanz der Bundesrepublik gegenüber auszugleichen. Zunächst reagierte die Bundesregierung zurückhaltend auf das Angebot. Vor allem Arbeitsminister Anton Storch wollte zunächst deutsche Arbeitslose aus strukturschwachen Gebieten in Arbeit bringen. Die Gegenposition vertrat Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. 1954 begann er eine gezielte Pressekampagne, um eine öffentliche Diskussion über die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften auszulösen. Zeitgleich setzte die italienische Regierung doch Gespräche über Rahmenbedingungen für die Anwerbung von Arbeitskräften durch. In diesen Verhandlungen wurden das Auswahlverfahren durch die deutsche Arbeitsverwaltung, Lohntransfer und der Familiennachzug geregelt.
Im Sommer 1955 änderte die Bundesregierung offiziell ihre Haltung, auch weil absehbar war, dass der Aufbau der Bundeswehr und die geplante Wehrpflicht weitere Arbeitskräfte binden würde und weil in Frankreich und der Schweiz ebenfalls über die Anwerbung italienischer Arbeiter diskutiert wurde. Eine erste Hochrechnung sah für 1956 einen Anwerbebedarf von 800.000 Arbeitskräften vor. Am 20. Dezember 1955 wurde das deutsch-italienische Anwerbeabkommen unterzeichnet.
Im Juli 1954 betrug der Anteil der Gastarbeiter an der Gesamtzahl der beschäftigten Arbeitnehmer noch 0,4 Prozent. Der große Schub begann etwa 1960, als diese Gastarbeiterquote noch bei 1,5 Prozent lag. Im September 1971 erreichte sie bereits 10,3 Prozent. Nach dem Bau der Berliner Mauer verlor die Bundesrepublik mit der DDR eine wichtige Quelle für Arbeitskräfte, zugleich wuchs die Wirtschaft weiter, so dass die Anwerbung verstärkt und auf weitere Länder ausgedehnt wurde.
Zunächst lebten die Arbeiter unter schlechten Bedingungen in Baracken. Allerdings begann bereits in den 1960er Jahren der Familiennachzug. Für 1975 schätzte der Deutsche Gewerkschaftsbund die Zahl der Gastarbeiter auf 2,67 Millionen. Berücksichtigt man die nichterwerbstätigen Familienangehörigen und die selbständig arbeitenden Ausländer, kommt man für 1980 auf eine Zahl von drei Millionen Ausländern, was damals etwa fünf Prozent der in der BRD lebenden Menschen entsprach. 1973 einigte man sich auch auf einen Anwerbestop - aufgrund einer drohenden Wirtschafts- und Ölkrise.
Lage in der DDR
In der DDR nahmen die Vertragsarbeitnehmer eine ähnliche Rolle ein. 1989 waren 94.000 Vertragsarbeitnehmer in der DDR ansässig, zwei Drittel waren vietnamesischer Herkunft. Andere Herkunftsländer waren Kuba, Mosambik, Polen und Angola. Sie wurden zeitlich befristet bis zu fünf Jahren in DDR-Betrieben beschäftigt. Die Arbeitnehmer wohnten in speziellen Wohnsiedlungen. Eine Integration dieser Arbeitskräfte, die häufig nur unzureichend Deutsch konnten, in die DDR-Gesellschaft war nicht angestrebt und fand nur in den seltensten Fällen statt.
Folgen
Der Begriff Gastarbeiter verlor 1964 mit der Aufgabe des Rotationsprinzips an Relevanz. Die ehemaligen Immigranten werden heute als Migranten der ersten Generation bezeichnet.
Bereits Anfang der 1970er Jahre zeigte sich, dass die ursprüngliche Annahme eines befristeten Aufenthaltes in Deutschland verfehlt war. Das ursprünglich angestrebte Rotationsmodell fiel unter Druck der Arbeitgeber, welche sich die Kosten des erneuten Anlernens ersparen wollten. Durch Gesetze wurde der Nachzug von Familienangehörigen geregelt, eine Möglichkeit, die auch von vielen der Migranten genutzt wurde. 1973 erfolgte ein Anwerbestopp von Gastarbeitern, bis ins 21.Jahrhundert unterbrochen allein von der Green-Card-Offensive. Dadurch wurde die Bundesrepublik Deutschland de facto zu einem Einwanderungsland, wenngleich dies bis Ende der 1990er Jahre von allen bundesdeutschen Regierungen zwar nicht bestritten, so doch zumindest ignoriert wurde und eine aktive Integrationspolitik nicht gewünscht war.
Literatur
- Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001.
- Karin Hunn: „Nächstes Jahr kehren wir zurück...“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Wallstein Verlag : Göttingen 2005, 598 S., ISBN 3-89244-945-7
- Die Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie hat ein Schwerpunktheft zum Älterwerden von MigrantInnen in der BRD herausgegeben. ZfGG Band 38(2005), Nummer 6. ISSN 0948-6704 . ISSN: 1435-1269 (Online) Dr. Dietrich Steinkopff Verlag, Darmstadt:
- V. Gerling: Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation älterer Migranten/innen dargestellt am Beispiel eines Modellprojektes im Kreis Unna. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Band 38, Nummer 6, Seiten 407 - 416. ISSN 0948-6704 . DOI: 10.1007/s00391-005-0347-1 .
- M. Dietzel-Papakyriakou: Potentiale älterer Migranten und Migrantinnen. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Band 38, Nummer 6, Seiten 396 - 406. ISSN 0948-6704 . DOI: 10.1007/s00391-005-0346-2.
- C. Schopf, G. Naegele: Alter und Migration—ein Überblick. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Band 38, Nummer 6, Seiten 384 - 395. ISSN 0948-6704 . DOI: 10.1007/s00391-005-0345-3.