Sudetendeutsche
Als Sudetendeutsche werden die ehemaligen deutschstämmigen Einwohner des Sudetenlandes zusammenfassend bezeichnet. Die Sudetendeutschen wanderten, beginnend vor ca. 870 Jahren, aus verschiedenen deutschen Mundartgebieten (vorwiegend aus dem bayerisch-fränkischen Raum) in Böhmen ein und sprachen nordbairische, auch vom Fränkischen beeinflusste Dialekte im Nordwesten (Egerland), schlesische Dialekte in Nordmähren und baierische Dialekte im Süden und Südwesten des Landes. Gemäß einer Volkszählung von 1930 betrug der Bevölkerungsanteil in der damaligen ČSR (Masaryk-Republik) etwa 22 Prozent.
Zur Begriffsklärung
Die Selbstbezeichnung "Sudetendeutsche" (im Egerländer Dialekt Suaderer) der Deutschböhmen ist ein bemerkenswertes, aber keineswegs einmaliges Phänomen, das erst seit Ende des 1. Weltkriegs zum Tragen kommt; sie beruht auf dem durchaus denunziatorisch gemeinten sudetsky für diesen Bevölkerungsanteil, den tschechische Nationalisten (oder was sich dafür hielt, siehe Jungtschechen) seit dem 19. Jahrhundert propagierten. (Vergleiche: Die Römer schalten die eingewanderten Goten im Oströmischen Reich als stolti (spätlateinisch für "Einfältige"; vgl. ital. stolti = Narren); daraus wurde das deutsche Wort "stolz" (Nomen: Stolz). - Die Goten haben den Spieß ganz einfach umgedreht, wie viel später wohl auch die "Sudetendeutschen"...). - Die Sudeten sind ein geografisch nördlich zu verordnender Teil Böhmens, nämlich ein Gebirgszug; daher ist es eher unverständlich, weshalb die Bezeichnung "sudetendeutsch" z.B. auch auf Bewohner von Brünn (tschech. Brno) oder gar Znaim in Südmähren (tschech. Znojmo - von dort kommen berühmte eingelegte Gurken) zutreffen sollte. Die Fragwürdigkeit der Bezeichnung wird vollends offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Mensch aus Ostrava (deutsch: Ostrau) ex definitionem ein Schlesier ist, ob er nun Tschechisch oder Deutsch als seine Muttersprache bezeichnet - Ostrava ist nämlich die Hauptstadt des tschechischen Teils von Schlesien.
Nicht wenige "Sudetendeutsche" würden sich lieber als Deutschböhmen bezeichnen, wie etwa der Hochschullehrer und SPD-Politiker Peter Glotz - nicht zuletzt deshalb, um sich von der Fragwürdigkeit des Terminus und dessen weitgehende Beschlagnahme durch die Sudetendeutsche Landmannschaft (s. dazu unten) zu distanzieren, es ist jedoch in der Tat die tschechische Seite, die auf der Bezeichnung sudetsky beharrt - nicht zuletzt deshalb, weil sie hinter "Deutschböhmen" erst recht den Anspruch auf Gleichberechtigung oder gar Rückkehr wittert. Sie will die Bezeichnung lediglich den nicht zwangsausgesiedelten Deutschen in Tschechien vorbehalten wissen - ein weiteres tragisches Missverständnis?
Geschichtlicher Überblick
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Integration und Abgrenzung: Die Kultur der Deutschen in Böhmen
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Vertreibungsproblematik
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Sudetendeutschen fast vollständig - so weit sie nicht selbst geflüchtet waren - vertrieben und ihre Heimat im Rückgriff auf den Versailler Vertrages wieder der Tschechoslowakei angegliedert. Die gewaltsame Vertreibung der Deutschen wurde nach Kriegsende auf Grundlage des Potsdamer Abkommens durch die Beneš-Dekrete initiiert und von den Siegermächten geduldet.
Siedlungsgebiete nach der Vertreibung
Die Sudetendeutschen siedelten sich danach hauptsächlich in Bayern, Hessen, Baden-Württemberg und in Österreich an. Einige sind in die DDR, in sonstige Länder oder nach Übersee ausgewandert. In Vertriebenenverbänden versuchten sie sich zu organisieren und ein politisches Sprachrohr zu haben. Als "Anwalt" der Sudetendeutschen versteht sich vor Allem die CSU, die die Vertriebenen zu einem "vierten Volksstamm Bayerns neben Altbayern, Schwaben und Franken" (Franz Josef Strauß) erklärten, was ethnisch unhaltbar ist. Insbesondere Bayern wandelte sich durch den massenhaften Zuzug von "Sudetendeutschen" und anderen in der Nachkriegszeit häufig als "Flüchtlinge" (was einem Schimpfwort gleichkam) beargwöhnten Aussiedlern nach dem Krieg erheblich; ganze Städte oder Stadtteile entstanden neu (wie etwa Neutraubling bei Regensburg oder das zu Kaufbeuren gehörige Neugablonz - vgl. Jablonec nad Nisou).
Die heutige deutsche Minderheit in Tschechien
Rund 300.000 Deutschsprachige wurden nach 1945 nicht vertrieben (ca. neun Prozent). Dies waren meist Menschen, die auch tschechische Vorfahren (beispielsweise Vater deutsch, Mutter tschechisch und umgekehrt) und daher die Wahl zum Bleiben hatten, Antifaschisten (z.B. solche, die mit dem tschechoslowakischen Widerstand zusammenarbeiteten), aber auch solche, die durch Gefangenschaft oder aus anderen Gründen während der Vertreibung abwesend waren und erst später in ihre Heimat zurück kamen. Diesen wurde dann oftmals von der tschechoslowakischen Nachkriegsregierung die gewollte Ausreise verweigert, weil zum Beispiel ihre Arbeitskraft benötigt wurde. Heute sehen sich die Angehörigen der deutschen Minderheit in Tschechien nicht mehr als "Sudetendeutsche", sondern bezeichnen sich als Deutsche in Tschechien, tschechische Deutsche oder Deutschböhmen (nicht zu verwechseln mit dem durchaus chauvinistisch vorbelasteten geografischen Begriff Deutschböhmen).
1989 kam es auch in der damaligen Tschechoslowakei zur Wende ("Samtene Revolution"). Von den ehemaligen Bewohnern (meist in hohem Alter) und ihren Nachkommen kehrten nur wenige in die (frühere) Heimat zurück.
Die heutigen deutsch-tschechischen Beziehungen
Das Verhältnis mancher Vertriebener aus dem Sudetenland zu den Tschechen - und umgekehrt - ist bis heute angespannt und teilweise von erheblichen Vorurteilen belastet, wenngleich auch eine Mehrheit (die meisten kennen das Land ihrer Vorfahren ja nur als Touristen) nach nunmehr bald 60 Jahren nach dem 2. Weltkrieg die gegenwärtige Lage anerkennt und auf Aussöhnung und Ausgleich setzt. Der Dialog zwischen den Nachbarn wird allerdings weiterhin durch Misstrauen auf beiden Seiten erschwert, das Protagonisten des politischen Handelns hie wie da gelegentlich durchaus absichtlich zu schüren versuchen. So werden die Beneš-Dekrete, die Vielen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten, von den Tschechen bislang nicht insgesamt für ungültig erklärt, obgleich auf ihre weitere Anwendung formell und ausdrücklich verzichtet wurde. Hinsichtlich deutscher Antifaschisten und Angehörige anderer, auch nicht-deutscher Bevölkerungskreise, die nach mehr oder weniger freiwilliger Ausreise dennoch enteignet wurden, sind die Dekrete seit März 2002 gemäß Urteil des Obersten Gerichtshofs der ČR allerdings vollständig aufgehoben (was in der öffentlichen Debatte oft kaum bekannt ist oder unterschlagen wird). Die Ängste der Tschechen beziehen sich hauptsächlich auf die mögliche Geltendmachung von Eigentumsansprüchen durch frühere Bewohner beziehungsweise deren Nachkommen. Umgekehrt ist die Bundesrepublik Deutschland aus ähnlichen Gründen nicht bereit, das von Hitler erpresste Münchner Abkommen (de facto kein Abkommen, sondern ein Diktat) ex tunc (von Anfang an) für nichtig zu erklären, wie von Prag als unabdingbare Voraussetzung für die vollständige Ungültigmachung der Beneš-Dekrete gefordert. Zudem blenden Vertriebenenverbände (Landsmannschaften) in ihrer Argumentation häufig vorsätzlich die Verbrechen der Deutschen aus, die der von den tschechischer Seite meist als odsun (Abschiebung) verniedlichten Vertreibung vorausgingen. Bisweilen werden auch für die Gegenseite völlig unannehmbare Forderungen lanciert, was bei den Tschechen höchst unangenehme Erinnerungen wach werden lässt. Die vollzogene Integration der Tschechischen Republik in die Europäische Union relativiert die Wirksamkeit und Folgen des Abkommens wie der Dekrete für die gemeinsamen Beziehungen erheblich, wenngleich die durch sie aufgebürdeten geschichtlichen Hypotheken nicht unterschätzt werden sollten.
Der Sudetendeutschen Landsmannschaft (Abk. SL, rechtlich ein Eingetragener Verein) gelingt und gelang es, nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als sei sie die einzige und quasi offizielle Vertretung der Vertriebenen aus Böhmen und Mähren. Mitnichten jedoch gehörten und gehören ihr alle "Sudetendeutschen" oder gar deren in "Reichsdeutschland" geborenen Nachfahren an (sie zählt nach eigenen Angaben rund 250.000 Mitglieder, was 7,3 Prozent der 3,4 Millionen Vertriebenen entspricht), und keineswegs alle teilen oder billigen ihre Ziele und ihr Auftreten - etwa die Tatsache, dass sie, bemerkenswerterweise von der für Außenpolitik überhaupt nicht zuständigen Bayerischen Staatsregierung dabei vehement unterstützt, in Anspruch nimmt, direkt mit der Prager Regierung verhandeln zu wollen, was von dieser schon aus Gründen der Selbstachtung abgelehnt werden muss. Weniger bekannt bzw. öffentlichkeitswirksam ist die katholisch inspirierte Ackermann-Gemeinde, die sich nach dem Gedicht "Der Ackermann aus Böhmen" des mittelalterlichen Mystikers Johannes von Tepl nennt. Unter den den kulturellen und künstlerischen Austausch zwischen Deutschen und Tschechen fördernden Organisationen tut sich immer wieder der Adalbert Stifter Verein (München) hervor.
Literatur
- Peter Glotz, Die Vertreibung, Hamburg: Ullstein, 2003. - ISBN 3-550-07574-X (Rezensionen)
- Walter Koschmal, Marek Nekula, Joachim Rogall (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte - Kultur - Politik. - Mit einem Vorwort von Václav Havel. - München: C.H. Beck 2001, beck'sche reihe 1414. - ISBN 3-406-45954-4
- Das selbe Buch in tschechischer Sprache: Walter Koschmal, Marek Nekula, Joachim Rogall (Hg.): Češi a Němci. Dějiny - Kultura - Politika. Slovo úvodem: Václav Havel. - Praha: Paseka, 2001. - ISBN 80-8185-370-4
- Robert Luft et al. (Hg.): Ferdinand Seibt - Deutsche, Tschechen, Sudetendeutsche. Festschrift zu seinem 75. Geburtstag. München: Oldenbourg, 2002. - ISBN 3-486-56675-X (Webinfo. Der Mediävist Seibt war wie Glotz selbst "Sudetendeutscher". - Nachruf zu seinem Tod 2003)
- Viktor Aschenbrenner: Deutschböhmen in alten Ansichtskarten. Frankfurt/M.: Weidlich, 2002. - ISBN 3-800-31837-7
- Sudetendeutsche und Tschechen - (Suchergebnis des OPAC des Herder-Instituts)
Multimedia
Odsun - Dokumentarfilm von Karl-Peter Schwarz. ORF, Österreich 1995 (Filmbeschreibung der BPB)
Weiterführende Artikel
- Sudetenland
- Sudeten
- Sudetendeutsche Landsmannschaft
- Geschichte der Tschechoslowakei
- Böhmen
- Mitteleuropa
Weblinks
Heimatpflegerin der Sudetendeutschen
Bund der Eghalanda Gmoin e.V. - Bund der Egerländer
Egerland Museum Marktredwitz (sic!)
Sudetendeutsche Landsmannschaft in Österreich
Vereinigung Sudetendeutscher Familienforscher e.V. (VSFF)
Die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) - Entstehung / Geschichte / Struktur (Eine kritische "linke" Chronologie)
Auswärtiges Amt: Beziehungen zwischen der Tschechischen Republik und Deutschland
Gert Weisskirchen, Von der Konfliktgemeinschaft zur guten Nachbarschaft - Masaryks "Neues Europa" und die deutsch-tschechischen Beziehungen heute (Vortrag an der Karls-Universität Prag, 27. September 1996)