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Geschichte der Matriarchatstheorien

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Diese interdisziplinäre Wissenschaft erforscht alle matrilinearen/matrifokalen/matriarchalen Gesellschaften, sowohl in ihren historischen wie in den gegenwärtigen Formen. Ihre Aufgabe ist es, unsere kulturellen Wurzeln aufzudecken, die Kulturgeschichte der Menschheit zu vervollständigen und ein neues kulturgeschichtliches Paradigma zu entwickeln. Gleichzeitig zeigt sie Wege auf für eine heutige "Gesellschaft in Balance" (siehe Weltkongress für Matriarchatsforschung) und geht damit über die Grundlagenforschung hinaus.

Geschichte

Die Wissenschaft zur Untersuchung der Gesellschaftsform Matriarchat begann im 19. Jahrhundert mit dem Pionier Johann Jakob Bachofen (1815-1887), der den kulturhistorischen Zweig der Matriarchatsforschung begründete. Er erforschte anhand einer umfangreichen Materialsammlung hauptsächlich klassischer griechischer und römischer Texte die soziale Stellung der Frau in den vorklassischen Kulturen des östlichen Mittelmeeres. Außerdem zog er ethnographisches Material über die so genannte mutterrechtliche Gesellschaftsordnung heran und legte seine Ergebnisse in verschiedenen Werken nieder, darunter als wichtigste Das Mutterrecht (1861), Urreligion und antike Symbole (3 Bde., 1926) so wie Mutterrecht und Urreligion (1927). Der wissenschaftliche Wert dieser Arbeiten ist nach heutigen Maßstäben schwer zu beurteilen. Im Bereich der Ethnologie arbeitete Henry Lewis Morgan (1818-1881), deren Begründer er war und stellt in seinem Werk "Ancient Society" (deutsch: "Die Urgesellschaft", 1891) ein evolutionistisches Schema der menschlichen Familienentwicklung auf. Am Beispiel der Irokesen-Liga in Nordamerika erforscht er erstmals ethnologisch eine matriarchale Gesellschaft.

Friedrich Engels (1820-1895) greift in seinem Buch "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" im Anschluss an Karl Marx genau die offenen Fragen auf, die Morgan offen ließ: 1. Ist die bürgerliche Monogamie das ideale Gebilde für die Gleichheit der Geschlechter? 2. Wie kam es zum Privateigentum in den Händen von Männern? Erst August Bebel (1840-1913), der sich in seinem Buch "Die Frau und der Sozialismus" auf die Thesen von Morgan und Engels stützt, sagt eindeutig, dass Matriarchate ohne unterdrückerische Besitzverhältnisse waren und dass Frauen nicht "unterdrückt und geknechtet" wurden, wie sie später im Patriarchat "diskriminiert und versklavt" wurden. Was "Matrilinearität" ist und welch weitreichende Konsequenzen sie hat, beschreibt der Ethnologe Bronislaw Kasper Malinowski (1884-1942) in einer Studie über die Trobriand-InsulanerInnen in Melanesien, bei denen er sich viele Jahre aufhielt. Eines der Hauptwerke ist Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. Im selben Sinne wie Malinowski kritisiert Wilhelm Reich (1897-1957), in seinem Buch Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral das so genannte "Inzest-Tabu". Zudem stellt Reich den Zweispalt dar zwischen dem freien bedürfnis-orientierten Liebesleben der trobriandischen Jugend, das matriarchalen Traditionen entspricht, und dem nachfolgenden monogamen Ehezwang, so wie der nochmals nachfolgenden Witwen-Heuchelei für die trobriandische Ehefrau, die den Einbruch patriarchaler Prinzipien abbilden. Daher hält es Reich für unwahrscheinlich, dass sich das Matriarchat aus einem ursprünglichen Patriarchat entwickelt habe.

Während Malinowski auf den Trobriand-Inseln forschte (1932), gab es dort schon etliche Missionsstationen. Wilhelm Schmidt ist ein Missions-Ethnologe katholischer Prägung, der eine interessante Wanderungstheorie zum Matriarchat aufstellte: Matriarchate entstanden als Hackbaukulturen in Hinterindien und breiteten sich auf dem Wasserweg als Hack- und Ackerbaukulturen über die ganze Erde aus. In seinem wichtigsten Werk The Mothers bestätigt der britische Ethnologe Robert Stephen Briffault (1876-1948) seine Vordenker, dass die Mütter die Basis und handelnden Subjekte der Gesellschaftsordnung von der Urzeit an bis zum Patriarchat sind, entgegen der These vom ewigen Patriarchat und "Frauentausch" seit der Urhorde (Freud, Lévi-Strauß und andere).

So genial wie Bachofen zum ersten Mal das Bild einer mutterrechtlich geprägten Gesellschaft erforschte, fand der britische Ethnologe Sir James George Frazer (1854-1941) ein uraltes, religiös-rituelles Grundmuster, das "ritual pattern", heraus, das er in seinem Buch Der goldene Zweig beschreibt. Diese Entdeckung hatte seinerzeit eine außerordentliche Wirkung und zur Folge, so dass sich Freud, Malinowski und Ranke-Graves als Schüler Frazers bezeichneten. Der Mythenforscher Robert von Ranke Graves (1895-1985) erarbeitete anhand seines wichtigsten Sachbuches Griechische Mythologie die Grundzüge der matriarchalen Kulturepoche für den gesamten Mittelmeerraum und den Vorderen Orient. Seine These lautet: Matriarchale Mythologie ist das Muster der dreifachen Göttin und ihres Heros-Königs. An vielen Stellen seines Werkes, besonders in Die weiße Göttin, übt Ranke-Graves scharfe Patriarchatskritik.

1900 entdeckte der Archäologe Sir Arthur John Evans (1851-1941) die minoische Kultur auf Kreta. In umfangreichen Büchern hat er über seine Ausgrabungen berichtet. Anfangs ist seine Deutung einseitig patriarchal, aber später revidiert er seine Ansicht vollständig und seine Forschung führt ihn zu dem Schluss, dass Kreta von der Großen Muttergöttin geprägt ist, die uns auf allen Wandbildern, Siegelringen und in vielen Statuetten entgegen tritt. Zusammenfassend lautet seine These, dass das Matriarchat mit seinen späten Formen noch die Bronzezeit umfasst, wie es am Beispiel des minoischen Kreta (Untergang um 1400 v.Chr.) erkennbar ist.

Der nächste große archäologische Fund, der neue Erkenntnisse für die Matriarchatsforschung brachte, war die Entdeckung der ältesten Steinzeit-Stadt Catal Hüyük (Anatolien) durch James Mellaart. Von 1961 bis 1964 legte er den östlichen Ruinenhügel (arabisch "Tell"; türkisch "Hüyük") zum Teil frei. Mellaart hat in seinen Büchern darüber ein völlig anderes Bild der Steinzeit entworfen, als wir es zu sehen gewohnt sind. Er weist darauf hin, dass schon in der Altsteinzeit der Austausch von Wissen, Dienstleistungen und Gütern stattgefunden hat, und dass die altsteinzeitlichen Höhlen, Felsunterkünfte und offenen Siedlungen bereits Sesshaftigkeit anzeigen. Die Vorstellung vom ziellosen Wandern der Altsteinzeitmenschen lässt sich deshalb nicht halten. Mellaart weist drauf hin, dass die hoch entwickelte Ackerbaukultur von Catal Hüyük bereits eine Vorgeschichte des Ackerbaus voraussetzt, die bis zum Anfang des frühesten Neolithikums zurück reicht, bis 10000-9000 v. Chr.

In den dreißiger Jahren schrieb die unter dem männlichen Pseudonym Sir Galahad bekannte Bertha Eckstein-Diener (1874 – 1948) mit ihrem Buch Mütter und Amazonen die erste universale weibliche Kulturgeschichte, in der sie die seit Bachofen lawinenartig niedergegangenen Einzelstudien der einzelnen Wissenschaftszweige zusammenfasste. Beide schöpften bei ihren Analysen überwiegend aus den rein lesbaren Quellen der Mythologie so wie aus Reiseberichten der ersten EthnologInnen.

Im Dritten Reich werden die Ergebnisse der Matriarchatsforschung politisch für die Nazi-Ideologie missbraucht.

Nach langjährigen Ausgrabungsarbeiten legt die Archäologin Marija Gimbutas (1921 – 1994) zwei enzyklopädische Haupt-Werke vor, die uns in allen Einzelheiten ein Bild von Religion, Bräuchen, Sozialstruktur, Ackerbauwirtschaft, Ritualen und Kunst im [[Altes Europa|Alten Europa] geben. Es ist damit das bisher vollständigste Werk zur Göttin und der matriarchalen Kultur im europäischen und vorderasiatischen Raum.

1967 führt Christian Sigrist (*1936) mit seinem Buch Regulierte Anarchie neue marxistische Thesen zur Entstehung von Herrschaft ein. Er greift die Frage nach der Entstehung von Herrschaft, die bei Engels offen geblieben ist, auf und zeigt mittels ethnologischer Studien, dass es noch heute Gentilgesellschaften gibt, die herrschaftsfrei leben und zwar nicht aus Naivität, sondern auf dem Boden bewusster Sozialtechniken. Gleichzeitig weist er ein anderes Vorurteil zurück, das auch dem Engelschen Evolutionismus noch anhängt, dass nämlich die alten Stammesgesellschaften nur deswegen herrschaftslos gewesen seien, weil sie keine Differenzierung auf allen Lebensgebieten hatten. Sigrist zeigt, entgegen der „Primitivitätsthese“, dass sich eine solche Auffassung in der modernen Ethnologie nicht halten lässt, weil die herrschaftslosen Stammesgesellschaften eine erstaunliche Vielfalt sozialer Beziehungen und Gebilde aufweisen, die jede "simple Naturwüchsigkeit" weit hinter sich lässt.

Im Zuge der Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, haben sich vermehrt Wissenschaftlerinnen der Matriarchatsforschung angenommen. Waren es vorher überwiegend Männer, die ethnologische und archäologische Forschung betrieben, so gab es nun ausgebildete Frauen, die mit anderen Frauen in noch lebenden restmatriarchalen Kulturen in Kontakt kommen konnten. Dies war von entscheidender Bedeutung, da die Frauen in matriarchal geprägten Stämmen fremden weißen Männern nicht erzählen, was oft das Entscheidende ist. Hier konnte nur durch Frauen die einseitige Darstellung durchbrochen werden.

Heutige Situation

Während es heute einerseits MatriarchatsforscherInnen auf der ganzen Welt in den verschiedensten Fachbereichen gibt, leidet auf der anderen Seite das Ansehen der Matriarchatsforschung unter der ideologiebesetzten Perspektive von männlicher Seite einerseits und unter der laienhaften Verarbeitung des Themas auf weiblicher Seite andererseits. Seit Merlin Stone 1976 ihr Buch Als Gott eine Frau war herausbrachte, begann die ernstzunehmende Matriarchatsforschung der Gegenwart. Im deutschsprachigen Raum ist Heide Göttner-Abendroth die Pionierin, die mit ihrem Buch Die Göttin und ihr Heros (1980) die neue Matriarchatsforschung eröffnete. 1984 folgte Gerda Weiler mit dem Werk Ich verwerfe im Lande die Kriege, das sich mit der Erforschung der matriarchalen Muster bei den Stämmen des alten Israel befasst. Nach dreißig Jahren moderner Matriarchatsforschung arbeitet heute weltweit eine Vielzahl von WissenschaftlerInnen interdisziplinär an der Thematik und 2003 findet unter der Schirmherrschaft der Frauen-Ministerin von Luxemburg der "Erste Weltkongress für Matriarchatsforschung" in Luxemburg statt. Namhafte Sponsoren ermöglichen die Simultanübersetzung der Vorträge in vier Sprachen über drei Kongresstage.

Beteiligte Fachbereiche

Die Matriarchatsforschung ist eine internationale und interdisziplinäre Wissenschaft, vergleichbar den Gender-Studien. Sie umfasst hauptsächlich folgende Bereiche:

Weiterführende Begriffe

Akademie HAGIA -- Diskriminierung der Matriarchatsforschung -- MatriarchatskritikPatriarchatskritik –-- Weltkongress für Matriarchatsforschung

Literatur

  • Heide Göttner-Abendroth ‚Das Matriarchat I. Geschichte seiner Erforschung. Kohlhammer ISBN 3170128493