Die See

"The Sea" (Titel der dt. Übersetzung: „Die See“) ist ein Roman des irischen Schriftstellers John Banville aus dem Jahr 2005.
"The Sea", der 18. Roman des in Dublin lebenden Schriftstellers und Literatur-Journalisten John Banville, erzählt von dem in die Jahre gekommenen Kunsthistoriker Max Morden, dessen Frau Anna an Krebs gestorben ist und der an den irischen Küstenort seiner Kindheit zurückkehrt, wo er immer seine Sommerferien verbrachte. Dort versucht er die schönen Erinnerungen wie die erste Erfahrung von Liebe und Erotik, aber auch die traumatischen Ereignisse von damals zu verarbeiten, indem er seine Erinnerungen in höchst artistisch-bildreicher Sprache detailversessen und narzisstisch aufschreibt.
Atmosphärisch gestaltet John Banville durch seinen Ich-Erzähler Max Morden die verschiedenen Zeitebenen, die in dem Monolog Mordens immer wieder verschwimmen, lässt die Grenzen zwischen Zeitempfinden, wirklichen Erinnerungen und Phantasien und zwischen Bewusstsein und Unbewusstem fließend werden und schafft so ein dichtes Werk, dessen melancholische Stimmung, verstärkt durch die poetisch-düstere und gleichzeitig faszinierende Atmosphäre des Meeres, den Leser in seinen Bann zieht.
John Banville erhielt für den Roman "The Sea" den Man Booker Prize 2005. Der Roman sei eine "meisterliche Studie der Trauer, der Erinnerung und der Liebe", so der Booker-Juryvorsitzende, Prof. John Sutherland.
Inhalt
Der Kunsthistoriker Max Morden, der Ich-Erzähler des Romans, hat vor einem Jahr seine Frau Anna durch eine Krebserkrankung verloren. In seiner wachsenden Verzweiflung kehrt er zurück an den Badeort Ballyless, wo er als Kind ebenfalls einen traumatischen Verlust erlitten hatte. Als Junge von etwa zehn Jahren hatte er dort den Urlaub mit seinen zerstrittenen Eltern verbracht. Dort lernte er die wohlhabende Familie Grace kennen, die für ihn all seine erotischen und sozialen Träume verkörperte, ihm geradadezu als antike Götter auf dem gesellschaftlichen Olymp erschienen. Die zwei Kinder der Graces, das Zwillingspaar Myles und Chloe, werden zu seinen Spielkameraden.
Richten sich die erotischen Phantasien des kleinen Max zuerst auf die Mutter, so verliebt er sich schließlich in die gleichaltrige Chloe und tauscht mit ihr im dunklen Kino erste Küsse. Chloe und ihr stummer Bruder Myles bleiben Max immer voller Rätsel. Sobald Chloe Max in einem Strandhaus eine erste sexuelle Berührung gestattet hat, gehen Chloe und Myles wortlos zum Wasser, schwimmen immer weiter hinaus und ertrinken schließlich. Max erster Versuch, seiner Familie zu entkommen, scheitert. Kurze Zeit nach der Katastrophe verlässt Max Vater die Familie für immer und Max wächst in ärmlichen Verhältnissen mit seiner frustrierten Mutter auf.
Die zweite Erzählebene schildert die Ehegeschichte von Max und Anna. Anna als Kind eines auf zweifelhafte Weise zu Geld gekommenen Vaters, der kurz nach der Hochzeit stirbt, ermöglicht Max das Leben eines Privatgelehrten. Die weitgehend harmonische Ehe der beiden wird durch die Krebsdiagnose Dr. Todd's zerstört, alle Sicherheit zerbricht und für Max beginnt eine Lebensphase voller zerstörerischer Zweifel.
Ein Jahr nach Annas Tod entschließt sich Max zu einem langen Aufenthalt in einer Pension in Ballyless, dem Ferienort seiner Kindheit. Die Pension erweist sich als das ehemalige Feriendomicil der Familie Grace, die von deren damaliger Haushältern Rose geführt wird. Max geht in einsamen Spaziergängen und Reflexionen den Verlusten der Vergangenheit nach und verliert immer stärker den Kontakt zur Realität. Träume, Unbewusstes und gegenwärtige Erlebnisse mischen sich immer stärker. Max beginnt schließlich exzessiv zu trinken, bis es zu einem Zusammenbruch kommt.
Themen
Liebe, Tod, Vergänglichkeit
John Banville stellt neben Trauer und Liebe das Thema „Vergänglichkeit“ ins Zentrum des Romans.
„Mein Roman handelt davon, wie schnell aus der Gegenwart Vergangenheit wird. Und es geht auch darum, wie viel Macht die Vergangenheit über unser Leben besitzt. Jeder, der über die Vergangenheit nachdenkt, merkt sehr schnell, dass diese auf einer traumgleichen Ebene viel mehr Gewicht besitzt als die Gegenwart.“
Nach Banville reist der Held des Romans, Max Morden, an den Ferienort seiner Kindheit, um der Trauer um seine verstorbene Frau etwas entgegenzusetzen[1]. Der Versuch, die Erlebnisse seiner Kindheit wieder lebendig zu machen, fördere die ersten erotischen Erlebnisse und reinen Erfahrungen seiner Kindheit zu Tage. Genau hier suche Morden den Punkt, vom dem er die Kontrolle über sein Leben zurückgewinnen könne.
Ein weiteres typisches Thema Banvilles ist der Rückblick des gealterten Erzählers auf sein Leben. Dabei ist der Blick geschärft durch eine traumatische Erfahrung, die die Welt in anderem Licht erscheinen lässt. Banville hebt hervor, dass der Erzähler sich vor allem dadurch von früheren Romanfiguren unterscheide, dass er in seiner tiefen Trauer an das Mitgefühl seiner Mitmenschen appelliere[2].
Malerei



Großen Einfluss auf den Roman hatten nach Banville die Gemälde des Franzosen Pierre Bonnard. Bonnard hatte seine Frau seine Frau immer wieder gemalt, immer jung, häufig als Akt im Bad, selbst nach ihrem Tod. Banville sieht hier eine tiefe Verbindung zu seiner Romanfigur Max Morden, die ebenfalls in der Vergangenheit Kräfte gegen den Verlust seiner Frau sucht[3]. So lässt Banville Max Morden glücklos an einer Biographie Bonnards schreiben. Die Verbindung zwischen der Malerei des französischen Symbolismus geht aber tiefer, versucht sprachlich einen ähnlich intensiven Blick auf die Gegenstände zu werfen.
Das Selbstbild des Erzählers Max Morden erscheint als geprägt von einem Porträt von Van Gogh:
„...als ob man ihn gerade zur Strafe untergetaucht hat, fliehende Stirn, eingedrückte Schläfen und hohle, vom Hunger eingefallene Wangen; er guckt schräg aus dem Rahmen, argwöhnisch, zornig und zugleich ahnungsvoll, wie jemand, der mit dem Schlimmsten rechnet, wozu er ja auch allen Grund hat.“
Wie van Gogh auf dem Porträt wächst dem Erzähler auf seiner Reise in die Vergangenheit ein überraschend roter Bart. Auch andere Aspekte des Porträts gehen in die Selbstdarstellung des Erzählers Max Morden ein, die Rosacea, die Entzündung der Augen, es erscheint, als habe Banville beim Verfassen des Romans begonnen, das Selbstporträt van Goghs wie ein Spiegelbild zu betrachten und zu erforschen.
Das Beschreiben der Vergangenheit erscheint auch deshalb als Form der Malerei, weil die Erinnerung Max Mordens weniger bewegten Bilder entwirft, sondern eher Stilleben der Vergangenheit, malerisch eingefrorene Dokumente vergangener Zeit.[4] Die großen Erlebnisse der Vergangenheit erscheinen in Banvilles Roman nicht als wiedererlebte Aktion in der Zeit, sondern als Ansammlung von gleichsam erstarrten Fragmenten und Details.
„Es war ein prächtiger , oh ja, ein wirklich prächtiger Herbsttag, alle Kupfer- und Goldtöne von Byzanz unter einem emailblauen Tiepolohimmel, die Landschaft ganz gefirnisst und glasiert, sah gar nicht wie das Original aus, sondern eher wie ihr eigenes Spiegelbild im stillen Wasser eines Sees.“
Tod
Ein weiteres Thema des Romans ist der Tod. Nicht nur die Frau des Erzählers stirbt, auch seine beiden Jugendfreunde ertrinken.
„Also, Tod ist immer überflüssig und unmotiviert. Das ist ja die Krux, er trifft uns immer unvorbereitet. Also, das Buch verlangte nach mehr als diesem einen Tod, genau wie das Leben. Mit dem Tod der Kinder wollte ich genau das darstellen, der Tod hat keine Bedeutung. Natürlich nehmen wir ihn sehr ernst, das muss so sein. Aber es ist nicht ernst, er bedeutet das Ende gewisser Kreaturen, das ist fast zufällig. Und am Ende, in dieser letzten Szene, in der Max, das Kind also in der See steht, und diese merkwürdige Welle kommt heran, da fragt er sich, war das etwas Besonderes. Und er sagt nein, es war nur ein Schulterzucken der gleichgültigen Welt.“
Banville beruft sich hier explizit auf Martin Heidegger, für den der Tod ein bestimmendes Moment des menschlichen Daseins war. Erst aus der doppelten Todeserfahrung erwächst die ungeheure Intensität, mit der Max Morden die Welt erlebt.
Literarische Form
Rückgriffe auf Mythologie

Banville greift verschiedene Motive vor allem der griechischen Mythologie auf. Die gedankliche Reise des Erzählers in die Vergangenheit erscheint als Versuch, durch intensive Erinnerungen die Vergangenheit und die Toten zum Leben zu erwecken.
„Heute vor einem Jahr mussten Anna und ich Mr Todd zum ersten Mal in seiner Praxis aufsuchen. Was für ein Zufall. Oder auch nicht, vielleicht; gibt es denn Zufälle in Plutos Reich, durch dessen unbetretene Weiten ich leierloser Orpheus irre? Zwölf Monate schon, immerhin! Ich hätte Tagebuch führen sollen. Mein Tagebuch des Jahrs der Plagen.“
Vor allem die bewunderte Familie „Grace“ (= „Gnade“, „Liebreiz“) und ihre Kinder erscheinen ihm als „Götter“[5]. Dabei verweist die Göttlichkeit nicht nur auf die hohe soziale Stellung der „Graces“, sondern auch auf antike Vorstellungen von Geheimnis und Erotik.
Den mythischen Zug der erzählerischen Wanderung durch das Reich der Toten, der verlorenen Vergangenheit, betont der Roman, wenn er den Erzähler selbst aus der Perspektive des Wiedergängers sprechen lässt.
„Gerade schritt einer über mein Grab. Irgendeiner.“
Die Verbindung zur Mythologie stellt der Erzähler häufig über die See her. Gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Lebenden und Toten erscheint sie als zeitlose Verbindung der mythologischen und der realen Welt.
„Die kleinen Wellen vor mir am Ufer sprachen mit munterer Stimme, flüsterten eifrig etwas von einer alten Katastrophe, vielleicht dem Fall von Troja oder Atlantis' Untergang. Nichts als Ränder, brackig und schimmernd. Wasserperlen platzen und fallen als silberne Kette von der Ecke eines Ruderblatts. Ich sehe in der Ferne das schwarze Schiff, das unmerklich von Sekunde zu Sekunde weiter aus dem Nebel aufragt. Ich bin da. Ich höre Deinen Sirenengesang. Ich bin da, bin beinah da.“
Es ist aber nicht nur die klassische griechische Mythologie, die John Banville fasziniert. Die kniende Chloe mit den hinter ihr sitzenden Myles und Max erinnert den Erzähler an eine ägyptische Sphinx, sich selbst sieht er als Materialsammler für ein ägyptisches Totenbuch.[6]
Dabei kommt das Unheimliche im Sinne Freuds aus der Wiederkehr des Bekannten. Es ist die Veränderung des früher Heimatlichen, die befremdet und verzerrt.[7]
Im Angesicht des Todes zerreisst der Vorhang, der die rationale Welt der Gegenwart von Ängsten, Träumen und Mythen trennt. Spricht Annas Arzt Mr Todd nach der Krebsdiagnose „von viel versprechenden Therapien, von neuen Medikamenten“ klingt das für den Erzähler nach „Zaubertränken“ und „Alchimie“, hört er das „lautlose Rasseln der Lepraschelle“[8]. Aus der absoluten Bedrohung des Lebens erwächst „eine neue Spielart von Wirklichkeit“, erweist sich die absolute Gleichgültigkeit der dinglichen Welt gegenüber dem Leiden der Menschen.[9]
Sprechende Namen
Sprechende Namen betonen den fiktiven Charakter der Erzählung.
„Der Wagen kam aus dem Dorf und brauste zur Stadt, die zwanzig Kilometer von hier entfernt ist; Ballymore will ich sie nennen. Die Stadt heißt Ballymore und dieses Dorf hier Ballyless, mal mehr, mal minder Bally, albern...“
„Rose, geben wir auch ihr einen Namen, der armen Rose ...“
Dabei verweist das Slangwort „bally“ (= „verdammt“, „verflucht“) ebenso auf die zu erwartende Tragödie wie die Namen einiger Figuren. „Mr Todd“ heißt der Arzt, der Anna, der Frau des Erzählers, das Todesurteil verkündet, „Max Morden“ alliterierend der von Schuldgefühlen verfolgte Erzähler. Dabei laufen die Assoziationen zu „Tod“ und „Mord“ nicht zufällig über das Deutsche, Banville verweist in einem Interview auf die grundlegende Bedeutung des Todes für Martin Heidegger und Paul Celan [10]. Banville spielt mit den Konnotationen dieser Begriffe, etwa wenn er den Krebs in Annas Bauch „das große Baby 't Od“[11] nennt.
Der zweifelhafte Colonel, der der Hotelchefin vergeblich näherkommen will, heißt „Blunden“ („to blunder“ = einen groben Fehler machen). Aus der attraktiven, jungen Haushälterin Rose wird die ältlich-angesäuerte Hotelwirtin „Miss Vavasour“.
Erzähltechnik
Scheinbar belauscht der Leser über lange Strecken des Romans unbemerkt die inneren Monloge des Erzählers Max Morden, irritiert von unverständlichen Anspielungen, überraschenden Mischungen von Zeiten und Orten. Aber immer wieder wird diese Rolle des Lesers als heimlicher Zuhörer durchbrochen, indem sich der Erzähler von Banvilles Roman als schreibender Autor reflektiert, die Fiktionalität der Erinnerungsarbeit deutlich hervorhebt.
„Wie alt waren wir damals, zehn, elf? Sagen wir, elf. Das langt.“
„Und warum sollte ich mich wohl, anders als jeder dahergelaufene Melodramatiker, der Forderung verschließen, dass die Geschichte zum Schluss noch eine ordentlich überraschende Wendung braucht? (After all why should I be less susceptible than the next melodramatist to the tale's demand for a neat closing twist?)“
Es entsteht dadurch ein seltsamer Blick auf die Erinnerungsarbeit des Erzählers Max Morden, der plötzlich aus der Perspektive des Autors spricht, „creating, not remembering“, erschaffend, nicht erinnernd, wie John Crowley in seiner Rezension in der Washington Post schreibt.[12]
Soziale Welten
Max Morden erscheint seine ärmliche Herkunft als Belastung, er setzt sich schon früh das Ziel, den ärmlichen Verhältnissen seiner zerstrittenen Eltern zu entkommen.
„Hätte es in meiner Macht gelegen, ich hätte meinen peinlichen Eltern fristlos gekündigt, hätte sie platzen lassen wie Gischtbläschen, meine dicke kleine Mutter mit ihrem nackten Gesicht und meinem Vater, dessen Körper aussah, als bestünde er aus Schweineschmalz.“
Zeitebenen
Der Roman verbindet wesentlich drei Zeitebenen, die jedoch immer wieder durchweitere Erinnerungsfetzen angereichert werden. Erste Erzählebene ist die Perspektive des alternden Max Morden ein Jahr nach dem Tode seiner Frau Anna. Eine weitere Ebene ist die Erzählung der Ehe mit Anna bis zu ihrem Tod. Die dritte Ebene beschreibt einen August in der Kindheit des Erzählers, in dem er der Familie Grace und ihren Kindern begegnet ist. Erste und dritte Ebene spielen im Strandort Ballyless.
Dabei nähert sich der Erzähler der Vergangenheit verschieden stark, bleibt teilweise auktorial-distanziert, interpretiert, deutet Zukünftiges an, nimmt aber teilweise auch die Perspektive seines vergangenen Ichs ein. In solchen Passagen wird szenisch erzählt, entwickeln längst vergangene Episoden neues Leben.
Blicke
Die Philosophie der Blicke, die der Roman entwickelt, ist ein komplexes Geflecht wechselseitiger versteckter und offenener Beobachtungen.
„Twins: the Gods, godlings, strikingly alike, watching the narrator across the edge of the water. Gods or devils? Heavenly twins who "laugh like demons". Who is watching whom? I am seen therefore I am.“
„Ich werde gesehen, also bin ich.“ Diese Variante auf Descartes „Cogito ergo sum“ ("Ich denke, also bin ich.") ist aber nicht die einzige philosophische Anspielung im Geflecht der Blicke. Es ist vor allem der vernichtende und objektivierende Blick des anderen, wie ihn Sartre in Das Sein und das Nichts analysiert, den der Roman mit Leben füllt.
„Mit einem Mal war sie der Mittelpunkt der Szene, der Fluchtpunkt, in dem alles zusammenlief, plötzlich war sie es, für die all die Muster und all die Schatten mit solch kunstloser Sorgfalt arrangiert worden waren: das weiße Tuch im glänzenden Gras, der blaugrüne, gebeugte Baum, das fransige Farnkraut, sogar die Wolken, die sich hoch am grenzenlosen, maritimen Himmel droben redlich mühten, Stillstand vorzutäuschen.“
Erst in der absoluten Fremdheit der „göttlichen“ Graces sieht der Erzähler sich selbst, die soziale Situation, die ihn prägt, seine Beschränktheit. Claudia Kuhland schreibt entsprechend über den Autor: „Er lebt zurückgezogen in der Nähe von Dublin am Meer - John Banville, ein Ire, der sich gerne zwischen alle Stühle setzt und die Provokation liebt. Der ehemalige Journalist ist so etwas wie ein altmodischer Existentialist.“[13]
Rezeption
John Banvilles Roman wurde in den internationalen Feuilletons überwiegend positiv besprochen, die Verleihung des Booker Price war sicher auch eine Wirkung dieses positiven Echos. Kritik traf vor allem die Komplexität des Werkes. Hier einige Stimmen:
„Dass es John Banville richtig macht, bescheinigten ihm die Kritiker schon lange. Sehr zu seinem Ärger - denn Banville will für alle schreiben - war er bislang allerdings vor allem ein Liebling der Feuilletons. Mit seinem neuen vierzehnten Roman "Die See", der im vergangenen Jahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, erreichte er erstmals viele Leser.“
„Banvilles Roman war der wohl literarischste des Finales und insofern eine bemerkenswerte Wahl. (...) Von der Kritik wurde Banville vor allem als großer Stilist gefeiert und der Roman für seine wortgewaltigen Meditationen gelobt. Eine amerikanische Bewunderin, die ihn nach der Herkunft seiner wunderbaren Sprache fragte, verwies er etwas überraschend aufs Wörterlexikon: "Webster, my dear."“
„Der Tod ist in diesem Roman immer schon vorher da. Er steht am Ende und am Anfang und John Banville nähert sich ihm in seinem Monolog gleich von mehreren Standorten und Zeitebenen. Er schreibt sich heran an dieses große saugende Nichts, das ihn in seiner Jugend, als die Zwillinge in einem Akt völliger Unverständlichkeit für immer im Meer abtauchen, und im Alter als depressiven Witwer, wie Strandgut zurücklässt. Und dennoch ist "Die See" kein morbides Alterswerk, sondern eine große Reflexion über den Verlust, die Grenzen der Wahrnehmung und die Rätsel des Lebens.“
„They departed, the gods, on the day of the strange tide. Man merkt mit dem ersten Satz, den man laut lesen muß, daß es hier jemand ernst meint mit der Sprache und der Musik. Jeder Satz dieses Buches ist klanglich und rhythmisch durchgeformt, wovon die fast schlackenlose Übersetzung Christa Schuenkes immerhin einen Eindruck vermitteln kann. Banville ist berühmt für die Fülle seiner Bilder und Details: die Wellen, die eifrig herangetrappelt kommen, um gleich wieder den Rückzug anzutreten wie eine Schar von zwar neugierigen, aber dabei auch furchtsamen Mäusen; der Wind über dem Meer, der die Wasseroberfläche in scharf gezackte, metallisch blitzende Splitter zerfetzt; der abkühlende Motor, der mißbilligend mit der Zunge schnalzt. Seine Prosa ist auf der Molekularebene ebenso meisterhaft wie als große Form. Meisterhaft sind das Spiel der Assonanzen und die Kunst des Beiworts (man lese, wie er die Augen von Teddybären beschreibt); meisterhaft ist das wellenartige Gleiten zwischen vier oder fünf Zeitschichten, die durch den medusenhaften Erzähler strömen; meisterhaft ist das Plot-Mobile von japanischer Anmut und Raffinesse.“
Sekundäres
- Michael Maar, Als die Flut kam, gingen die Götter, Ein Orkan in der Streichholzschachtel: John Banvilles meisterhafter Roman "Die See", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2006, S. L6
- Ijoma Mangold, Ein kleines Scheusal mit schmutzigen Gedanken, Was ist das Ich, wenn nicht ein Ölfleck auf den Wellen? John Banvilles erhaben feiner Roman „Die See”, Süddeutsche Zeitung 4.10.2006
Weblinks
- Übersicht über deutsche Rezensionen bei Perlentaucher
- Deutschlandradio Büchermarkt, Interview mit Banville zum Roman
- Spiegel-Rezension
- „Dipping a Toe in John Banville's The Sea“, The Literary Magazine 12 2005
- Sammellink auf englische Reviews
Text
- Originalausgabe: The Sea, (Macmillan Publishers Ltd) Juni 2005, ISBN 0330436252
- Deutsche Ausgabe: Die See, übersetzt von Christa Schuenke, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2006, ISBN 3-462-03717-X
Das Werk erhielt den Man Booker Prize 2005.
Quellen und Anmerkungen
- ↑ John Banville, Interview im Deutschlandradio, a.a.O.
- ↑ John Banville, Interview im Deutschlandradio, ebd.
- ↑ John Banville, Interview im Deutschlandradio, ebd.
- ↑ „Instead, Max recounts with impossible exactness the passing of that summer and his own sensations of remembering. "Memory dislikes motion," Max says as he begins, with painterly care. (...) It seems that Max (and his maker) are engaged not in the working out of a character's actions through time -- the usual business of a novel -- but in the limning of moments of stillness, as a poem or a painting might.“, John Crowley, Art and Ardor, Washington Post vom 13. November 2005
- ↑ Die See, S. 9
- ↑ John Banville, Die See, S. 197
- ↑ vgl. Die See, S. 15: „... das Unheimliche sei mitnichten etwas Neues, sondern vielmehr etwas Wohlbekanntes, das nur in veränderter Gestalt zu uns zurückkehrt, das zum Wiedergänger wird“
- ↑ Die See, S. 20f.
- ↑ Die See, S. 22
- ↑ Interview zum Roman im Deutschlandradio, a.a.O
- ↑ Die See, S. 21
- ↑ John Crowley, Art and Ardor, Washington Post vom 13. November 2005
- ↑ Claudia Kuhland, Erinnerte Liebe: Der meisterhafte Roman "Die See" des Booker-Preisträgers John Banville, WDR-Kritik vom 2.10. 2005