Der grüne Heinrich

Der grüne Heinrich von Gottfried Keller ist ein teilweise autobiographischer Roman, der neben Goethes Wilhelm Meister und Stifters Nachsommer als einer der bedeutendsten Bildungsromane der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts gilt. 1993 ist er in der Schweiz verfilmt worden. (Der Titel erinnert, vielleicht nicht zufällig, an das berühmte mittelalterlichen Epos „Der arme Heinrich" von Hartmann von Aue. Statt von Epos und Bildung könnte man auch von gescheiterter Selbstverwirklichung sprechen, wie es manche Autoren tun. Aber dies ist bereits Interpretation und nur vordergründig wahr.)
Entstehung
In der Tat: Gottfried Keller begann seinen Roman zu planen, nachdem er 1842, als Maler gescheitert, aus München nach Zürich zurückgekehrt war. Mit der schriftlichen Ausarbeitung begann er erst Jahre später, als ihm ein Stipendium Aufenthalte in Heidelberg und Berlin ermöglichte. 1854 erschienen die ersten drei Bände, 1855 der vierte Band der ersten Fassung. Die zweite Fassung des Grünen Heinrich erarbeitete Keller Ende der 70er Jahre, sie erschien 1879/80.
Stilistisches
Kellers Sprachstil ist an dem der deutschen Klassiker geschult: er schreibt lange, reich gegliederte und rhythmisch gut ausgewogene Sätze („ Perioden“), zusätzlich gewürzt mit viel Ironie. In der folgenden Textprobe ist die Rede davon, wie ungelehrte Handwerker zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Dichtung Friedrich Schillers aufnehmen. Im Freundeskreis des Steinmetzen und Baumeisters Lee, Vater des grünen Heinrich, werden Schillersche Schriften gelesen und sogar eines seiner Dramen auf die Bühne gebracht:
- Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische Rechenschaft, die jener Große sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Aehnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte. Seine gleichmäßige Glut und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes, bescheidenes Treiben, als für das Wesen mancher Schillerverehrer der gelehrten heutigen Welt. Aber einfach und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lectüre im Schlafrock; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen, und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht die Rede war, so entschlossen sie sich, wiederum angefeuert von Lee, kurz und spielten selbst Comödie, so gut sie konnten. („Der grüne Heinrich“, Bd. I, Kap. 4 der Erstfassung; Bd. I, Kap. „Vater und Mutter“ der endgültigen Fassung).
Handlung
Erste Fassung
- Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Roman. Braunschweig: Vieweg 1854 / 1855 4 Bde.: 396 S., 456 S., 359 S., 483 S.
In seiner ersten Fassung beginnt der Roman mit dem Auszug Heinrichs aus der Schweiz. Seine Mutter packt ihm den Koffer, er nimmt Abschied von den Handwerkern, die im Haus der Mutter wohnen, es wird deutlich, dass sie alleinstehend ist. Auf der Reise begegnet er in Süddeutschland einem Grafen mit Frau und Tochter, "überbürgerlichen Wesen", die ihn faszinieren. In München findet er ein Zimmer, packt seinen Koffer aus - und in demselben befindet sich ein Manuskript, in dem Heinrich seine Kindheitserinnerungen festgehalten hat, und die werden nun eingeblendet (de facto wird zurückgeblendet, wie heute in fast jeder Filmbiografie).
Heinrichs Jugendgeschichte
Der Protagonist, Heinrich Lee, trägt den Spitznamen „Grüner Heinrich“, weil seine Kinderkleidung aus den grünen Uniformen seines früh verstorbenen Vaters geschneidert wurde. Er wächst bei seiner Mutter in einfachen Verhältnissen auf, besucht mehrere Schulen und wird im Alter von fünfzehn Jahren aufgrund eines Schülerstreichs der Schule verwiesen. Ohne Schulabschluss schickt ihn seine Mutter einen Sommer lang aufs Land zu Verwandten, damit er sich über seine Zukunft klar werden kann. Dieser Besuch ist von zwei Ereignissen geprägt, die sein späteres Leben beeinflussen sollen. Zum einen trifft er die Entscheidung, Landschaftsmaler zu werden, zum anderen lernt er zwei Frauen kennen, Anna, die Tochter eines Lehrers, ein Mädchen in Heinrichs Alter, und Judith, eine etwa dreißigjährige schöne Witwe. Zwischen beiden Frauen ist er hin- und hergerissen. Anna erfüllt ihn mit romantischer, verklärender und idealisierender Liebe, Judith erweckt seine Sinnlichkeit. Die Verhältnisse enden zwei Jahre später, als Anna stirbt und Judith nach Amerika auswandert.
Seine Ausbildung zum Maler beginnt er im Atelier Habersaat, in welchem Bilder industriell hergestellt werden, weshalb Meister Habersaat relativ wenig Interesse am Künstlerischen zeigt. Erst durch die zufällige Begegnung mit einem deutschen, einst erfolgreichen Künstler namens Römer und nach mehreren Monaten in seiner Lehre lernt Heinrich, genauer zu sehen und Bilder zu malen, welche sich verkaufen lassen. Römer leidet allerdings an Wahnvorstellungen und lebt von geliehenem Geld, das er nicht zurückzahlen kann. Er steht deshalb in gespanntem Verhältnis zu seiner Umgebung, weshalb er trotz großen Talents keine Bilder verkaufen kann. Als ihm das nach einem halben Jahr doch einmal gelingt, reist er nach Paris, wo er in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Erwähnenswert ist, dass sich sein gestörtes Verhältnis zum Geld schon in seiner Jugend gezeigt hat.
Heinrich nutzt den Militärdienst, um seine Jugendgeschichte aufzuschreiben, und verlässt dann die Schweiz, um in München als Maler sein Glück zu suchen.
Heinrichs Aufenthalt in Deutschland und Rückkehr
In München muss Heinrich feststellen, dass er nicht das nötige Talent besitzt und auch nicht die gewünschte Kunstrichtung trifft, um von der Malerei leben zu können. Als das Geld seiner Mutter ausgeht, macht er während eines Jahres Schulden, welche er durch eine erneute Geldsendung seiner Mutter begleichen kann. Als er nun ein weiteres Jahr lang Schulden macht, verpfändet seine Mutter ihr Haus, um auch diese zu begleichen. Heinrich begreift nun, dass er nicht weiter von Schulden leben kann, und macht, mangels Einkommen, seine Habe zu Geld: Erst verkauft er seine Flöte, dann nach und nach seine achtzig Zeichnungen, zum Teil noch in der Schweiz entstanden, weit unter Wert, alles an einen Trödler, der u.a. auch mit Kleinkunst handelt und anscheinend für Heinrichs Zeichnungen einen guten Abnehmer hat. Als auch diese ausgehen, verdient Heinrich seinen Lebensunterhalt mit dem Bemalen der Stangen der zahllosen Fahnen, die der Trödler anläßlich eines Festtages zum Verkauf gewerbsmäßig herstellen lässt. Alles das wird mit einem Schuss großer Ironie (auch Selbstironie) beschrieben. Heinrichs Überleben wird jetzt immer schwieriger, und als ihn ein verzweifelter Brief seiner Mutter erreicht mit der Bitte, er möge heimkehren, und als er zusätzlich noch aus seiner Wohnung vertrieben wird, tritt er den Heimweg zu Fuß an.
Sein Aufenthalt in München dauerte insgesamt sieben Jahre. Nach zwei Tagen Marsch trifft er, ausgehungert und durchnässt, auf das Haus eines Grafen, den er schon auf seiner Hinreise kennengelernt hat, und findet heraus, dass er es war, der seine Zeichnungen kaufte. Der Graf bezahlt ihm nun nachträglich einen hohen Preis für seine Zeichnungen und bestellt zwei große Bilder. Während Heinrich an diesen arbeitet, verliebt er sich in Dortchen, die Adoptivtochter des Grafen. Nach einem halben Jahr Aufenthalt trifft er wieder in Zürich ein und kommt gerade rechtzeitig, um der Beerdigung seiner Mutter beizuwohnen. Diese wurde inzwischen ihres Hauses verwiesen und fristete ihr Dasein in großer Armut. Der Schmerz dieses Verlustes und der Liebeskummer um Dortchen überwältigen Heinrich derart, dass er stirbt.
Zweite Fassung
Die zweite Fassung unterscheidet sich von der ersten vor allem dadurch, dass sie chronologisch durcherzählt ist und dass nicht nur Heinrichs Jugendgeschichte, sondern auch sein Aufenthalt in München und seine Rückkehr in die Schweizer Heimat in der Ich-Form dargestellt werden. Außerdem tritt an die Stelle des tragischen Endes ein versöhnlicheres: Heinrich kommt gerade noch früh genug, um die Verzeihung der sterbenden Mutter zu erlangen, bekommt ein geregeltes, aber anspruchloses Amt. Judith kehrt aus Amerika zurück und beide verbringen gemeinsame Zeit, mal nahe beeinander, mal über längere Zeit örtlich getrennt, in wilder Ehe miteinander - bis zu Judiths Tod nach 20 Jahren. Erst mit diesem versöhnlicheren Schluss, in dem sich Kellers Absicherung durch die Stellung als Staatsschreiber der Republik Zürich spiegelt (er hatte diese Stellung von 1861 bis 1876 inne), wurde der Roman zum Erfolg. Die frischere und ursprünglichere Version ist jedoch ohne Frage die erste.
Politisches
In beiden Fassungen äußert der Held des Romans bei der Heimkehr in die Schweiz, angesichts der konfessionellen Verschiedenheit ihrer Kantone und der 1847/1848 erfolgten Umwälzungen, kluge Gedanken zum wechselseitigen Verhältnis von Mehrheit und Minderheit in demokratischen Gesellschaftsstrukturen:
- ... und rüstig drauf auf ist, das edle Wild der Mehrheit erjagen zu helfen, von der er selbst ein Teil, die ihm aber deswegen nicht teurer ist als die Minderheit, die er besiegt, weil diese hinwieder mit der Mehrheit vom gleichen Fleisch und Blute ist ...
- und weiter:
- ... dass große Mehrheiten von einem einzigen Menschen vergiftet ... dass eine Mehrheit, die einmal angelogen, fortfahren kann, angelogen werden zu wollen ... dass endlich das Erwachen des Bürgers und Bauersmanns aus einem Mehrheitsirrtum ... nicht so rosig ist... , das alles bedachte und kannte ich nicht.
Ferner ist nicht die Rede vom Wechsel zwischen Mehrheits- und Minderheitsmeinung. Aber sonst: zeitlos, nicht nur in sprachlicher Hinsicht!
Aktuelle Ausgaben
Historisch-kritische Gottfried Keller-Ausgabe, Band 11. Der grüne Heinrich (1854/55) Bände 1 und 2, hrsg. von Walter Morgenthaler ... 2005
Historisch-kritische Gottfried Keller-Ausgabe, Band 12. Der grüne Heinrich (1854/55) Bände 3 und 4, hrsg. von Walter Morgenthaler ... 2005
Carl Hanser Verlag, München / Wien 1981 Sonderausgabe Die Bibliothek deutscher Klassiker, Band 54 Harenberg Kommunikation, 1982 768 Seiten
Sekundärliteratur
- G. Gullaksen, Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“. Entwicklung und Bildung im Spiegel der Erzählweise; Bergen 1982
- T. Heckendorn, Das Problem des Selbst in Gottfried Kellers Grünem Heinrich; Bern u. a. 1989
- C. Heselhaus, Nachwort zu Keller, „Der grüne Heinrich“; München 1977
- F. Hunziker, Glattfelden und Gottfried Kellers Grüner Heinrich; Zürich und Leipzig 1911
Verfilmung
- Der grüne Heinrich, Film von Thomas Koerfer nach Motiven des Romans von Gottfried Keller, Schweiz 1994
Weblinks
- Synopse der beiden Fassungen des Grünen Heinrich auf der Keller-Seite von Walther Morgenthaler, des Projektleiters für die historisch-kritische Ausgabe der Werke Kellers (verwendet javascript)
- Der grüne Heinrich (zweite Fassung) als Online-Text bei Projekt Gutenberg
zum Film: