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Bellsches Raumschiffparadoxon

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Das bellsche Raumschiffparadoxon ist ein scheinbares Paradoxon zur Längenkontraktion in der Relativitätstheorie, das 1976 von John Stewart Bell beschrieben wurde. Die zugrunde liegende Fragestellung wurde allerdings schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts analysiert.

Die Längenkontraktion

Die Längenkontraktion, auch Lorentzkontraktion genannt, ist ein Phänomen der speziellen Relativitätstheorie. Danach erscheint ein Maßstab verkürzt, wenn er sich relativ zu einem Beobachter in Längsrichtung bewegt. Diese Verkürzung entzieht sich unserer Alltagserfahrung, da sie sich erst bei Geschwindigkeiten bemerkbar macht, die im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit ins Gewicht fallen.

Das Paradoxon

John Bell betrachtete dazu das folgende Gedankenexperiment: Zwei Raumschiffe beginnen gleichzeitig aus dem Stand heraus zu beschleunigen und zwar in die selbe Richtung längs ihrer Verbindungslinie. Zwischen beiden ist ein Seil gespannt, das bei der geringsten Dehnung reißt. Reißt das Seil, wenn die Raumschiffe in genau gleicher Weise bis zur selben Endgeschwindigkeit beschleunigen?

Die Analyse zeigt, dass das Seil reißt: Für den ruhenden Beobachter bleibt der Abstand der Raketen unverändert. Dieser Umstand ist die Folge des fundamentalen Naturgesetzes, wonach zwei identische Experimente unabhängig vom Ort, an dem sie durchgeführt werden, genau gleich ablaufen. Damit bleiben auch die Abstände einander entsprechender Punkte, wie beispielsweise der beiden Raketenspitzen im hiesigen Gedankenexperiment, konstant. Das Seil dagegen unterliegt der Längenkontraktion. Es kann daher die Stecke nicht mehr überbrücken und reißt.

Dabei erscheint paradox, dass das Seil der Längenkontraktion unterliegen soll, der Abstand der Raketen aber scheinbar nicht. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs besteht darin, dass aus der Sicht der Raumschiffbesatzungen der Abstand der Raumschiffe während der Beschleunigung zugenommen hat. Dieser vergrößerte Abstand gemessen mit Maßstäben im bewegten System erscheint nun aber aus Sicht des ruhenden Beobachters längenkontrahiert und zwar genau soweit, dass sich für ihn wieder der ursprüngliche Abstand ergibt.

Die Sicht eines mitbewegten Beobachters

Die Zunahme des Abstandes der Raumschiffe aus der Sicht der Raumschiffbesatzungen lässt sich anhand der Relativität der Gleichzeitigkeit erklären. Danach hängt in der Relativitätstheorie die Beurteilung, welche Ereignisse gleichzeitig stattfinden, von der Geschwindigkeit der Beobachter ab. So scheinen für den ruhenden Beobachter die Borduhren beider Raketen synchron zu laufen. Aus der Sicht der Besatzung des hinteren Raumschiffes beispielsweise geht die Uhr des vorderen jedoch während der Beschleunigungsphase schneller. Damit scheinen alle Vorgänge dort im Zeitraffer abzulaufen mit der Folge, dass auch die Beschleunigung des vorderen Raumschiffes größer erscheint als die eigene. Der Abstand beider Raumschiffe nimmt daher zu.

Längenkontraktion als Vorgang

Das Gedankenexperiment beleuchtet dem Umstand, dass eine Längenkontraktion im Sinne eines Vorgangs während einer Beschleunigung aus dem Stand heraus nur bei materiellen Objekten auftritt, deren Länge aus der Sicht eines mitbewegten Beobachters konstant bleibt. Dazu sind jedoch objektinterne Kräfte nötig, die für den mechanischen Zusammenhalt sorgen. Diese Kräfte werden bei dem Seil und auch bei den einzelnen Raketenkörpern durch die Elastizität des Materials aufgebracht. Zwei Raketen, zwischen denen keine solchen Kräfte wirken, driften aus der Sicht der Besatzungen dagegen auseinander, während ihr Abstand im Ruhesystem konstant bleibt. In beiden Fällen ist der Unterschied der Längen gemessen im ruhenden und im mitbewegten System nach Erreichen der Endgeschwindigkeit jedoch durch den selben Faktor der Längenkontraktion gegeben.

Geschichte

Das Ergebnis wurde in von Zeit zu Zeit wieder aufkommenden Debatten in Frage gestellt. Noch 1962 veröffentlichte das American Journal of Physics einen Aufsatz von P. J. Nawrocki, der einer vorher veröffentlichten Behandlung widersprach. 1976 und 1987 beschrieb J. S. Bell das Problem, das seitdem das bellsche Raumschiffparadoxon genannt wird. T. Matsuda und A. Kinoshita berichteten 2004 von einer regen Kontroverse in japanischen Physik-Journalen, nachdem sie dort eine Beschreibung des Paradoxons und die Standarderklärung veröffentlichten. Im gleichen Jahr schrieb der Physiker J. H. Field in einem Aufsatz, dass sowohl die Länge des Seils als auch der Abstand der beiden Raumschiffe im mitbewegten Bezugssystem konstant bleibe. Das bedeute, dass durch die Lorentzkontraktion das Seil und der Abstand der Raumschiffe für den ruhenden Beobachter gleich verkürzt seien und das Seil nicht reiße. Dieser Aufsatz und weitere Arbeiten von Field, die Standardergebnisse der speziellen Relativitätstheorie in Frage stellten, wurden aber nicht zur Veröffentlichung angenommen.

Literatur

  • J. S. Bell, How to teach special relativity. Progress in Scientific Culture, Bd. 1, Nr. 2 (1976)
  • J. S. Bell, Speakable and unspeakable in quantum mechanics. Cambridge University Press (1987), ISBN 0521523389 (enthält den obigen Aufsatz von Bell von 1976)
  • H. Nikolic, Relativistic contraction of an accelerated rod. Am. J. Phys. 67, S. 1007 (1999), physics/9810017
  • T. Matsuda and A. Kinoshita: A Paradox of Two Space Ships in Special Relativity . AAPPS Bulletin, Bd. 14, Nr. 1, S. 3-7 (2004), PDF

Nicht angenommener Artikel

  • J. H. Field, On the Real and Apparent Positions of Moving Objects in Special Relativity: The Rockets-and-String and Pole-and-Barn Paradoxes Revisited and a New Paradox. physics/0403094