Lebensreform
Lebensreform ist der Oberbegriff für verschiedene seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Deutschland und der Schweiz ausgehende Reformbewegungen, deren gemeinsames Merkmal die Kritik an Industrialisierung und Urbanisierung war und das Leitmotto „Zurück zur Natur“. Eine übergreifende Organisation besaßen die verschiedenen Bewegungen nicht. Ob die Reformbewegungen der Lebensreform eher als modern oder als anti-modernistisch und reaktionär einzuordnen sind, ist in der Literatur umstritten. Es gibt für beide Thesen Belege.
Allgemeines
Die einzelnen Bewegungen entstanden als Reaktion auf Entwicklungen der Moderne, die sie nicht als Fortschritt, sondern als Verfallserscheinungen ansahen. Wesentlich für ihre Entstehung war die Befürchtung, dass die moderne Gesellschaft beim Einzelnen zu „Zivilisationsschäden“ und Krankheiten führe, die durch eine Rückkehr zu „naturgemäßer Lebensweise“ vermieden und geheilt werden könnten. „Der Mensch in seiner zivilisationsbedingten Not sollte allerdings nicht im banalen Sinne geheilt werden. Die Lebensreform wollte sein Heil, seine Erlösung. (...) Die Weltanschauung der Lebensreform beinhaltet im Kern eine säkularisierte gnostisch-eschatologische Erlösungslehre.“[1]
Vertreter der Lebensreform propagierten eine naturnahe Lebensweise, Ökologische Landwirtschaft, Vegetarismus, Reformkleidung, Naturheilverfahren etc. und reagierten damit auf die aus ihrer Sicht negativen Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert. Auch die Reformhäuser entstanden auf Initiative von Lebensreformern.
In geistiger Hinsicht wandte sich die Lebensreform neuen religiösen und spirituellen Anschauungen zu, unter anderem Theosophie, Mazdaznan und Yoga.
Ihre bauliche Ausprägung erhielt die Lebensreform zunächst in Siedlungsexperimente wie dem Monte Verità und später in der Gartenstadtbewegung, wie der Siedlung Hellerau und viele anderer, deren bekanntester Vertreter der Architekt Heinrich Tessenow war. Die erste Gründung in Deutschland war im Jhre 1893 die Obstbau - Genossenschaft Eden bei Oranienburg.
Die Lebensreform war eine hauptsächlich bürgerlich dominierte Bewegung, an der auch viele Frauen teilnahmen. In der Körperkultur ging es darum, unter dem Einduck von Industrialisierung und Verstädterung den Menschen viel frische Luft und Sonne zu verschaffen.
Einige Bereiche der Lebensreformbewegung, wie z. B. die Naturheilkunde oder der Vegetarismus waren in Vereinen organisiert und erfuhren regen Zulauf, was sich in den Mitgliederzahlen widerspiegelt (siehe Barlösius: Naturgemäße Lebensführung). Zur Verbreitung ihrer Inhalte und Prinzipien gaben sie Zeitschriften wie „Der Naturarzt“ oder „Die vegetarische Warte“ heraus.
Teil der Lebensreform waren die Freikörperkultur (FKK), Naturismus und die Naturheilkunde sowie die Turnbewegung. Es bestehen auch enge Kontakte zur Bodenreformbewegung (Adolf Damaschke u. a.), zur Freiwirtschaftsbewegung Silvio Gesells, zur frühen Jugendbewegung sowie zu anderen sozialreformerischen Bewegungen.
Einzelne Reformbewegungen
Naturheilkunde
Die Grundgedanken der Naturheilkundebewegung des 19. Jahrhunderts stammen von Jean-Jacques Rousseau, der seinen Erziehungsroman Emil oder über die Erziehung 1762 mit dem Satz einleitete: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen“. Er forderte eine Rückkehr zu naturgemäßer Lebensweise, postulierte eine körpereigene „Naturkraft“, die durch Abhärtung zu fördern sei und lehnte Medikamente ab.
Als erste Vertreter der Naturheilbewegung gelten Vinzenz Prießnitz und Johannes Schroth, beide Landwirte und medizinische Laien. Sie setzten bei den nach ihnen benannten Kuren nur auf natürliche Heilmittel wie Wasser, Wärme und Luft und wurden bald als „Wunderdoktoren“ bezeichnet, wobei sie dieselben Krankheiten teilweise völlig gegensätzlich behandelten. Wesentliches Merkmal der entstehenden Naturheilkunde war die Überzeugung, dass der Körper über Selbstheilungskräfte verfüge, die lediglich angeregt und unterstützt werden müssten. Diese Ansicht ging auf Paracelsus zurück. Der bekannteste Naturheiler des 19. Jahrhunderts war Sebastian Kneipp. Im deutschen Sprachraum wurden so genannte Naturheilanstalten gegründet. 1891 waren 131 davon im Dachverband der Naturheilvereine organisiert.[2]
Zentrale Ansichten der Naturheilkunde nannte Meyers Konversationslexikon Ende des 19. Jahrhunderts: „Die Krankheitsvorgänge betrachtet sie als Heilsvorgänge, durch welche die den Lebensakt störenden Stoffe unter den Zeichen des Fiebers, der Entzündung, der Gärung und Fäulnis, d. h. durch Zersetzungsprozesse, unschädlich gemacht werden. Auf diesem Weg ist die Naturheilkunde so weit gekommen, beispielsweise Masern, Pocken, Scharlach für von der Natur für ein bestimmtes Lebensalter eingesetzte Reinigungsprozesse zu erklären, deren Lebensgefährlichkeit erst durch das hinfällige Menschengeschlecht sowie durch die Arzneiheilkunde selbst geschaffen worden sei.“[3]
1883 wurde der Deutsche Verein für Naturheilkunde und für volksverständliche Gesundheitspflege gegründet. Im Jahr 1900 benannte er sich um in Deutscher Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise. 1889 waren in diesem Dachverband 142 Ortsvereine mit etwa 19.000 Mitgliedern organisiert, 1913 waren es bereits 885 Vereine mit 148.000 Mitgliedern. Der Verband besaß einen Verlag, der die Zeitschrift Der Naturarzt herausgab. In den 1920er Jahren verlor die Naturheilkunde aber insgesamt an Popularität, der Zenit dieser Bewegung war überschritten. Eine Ausnahme bildete nur der 1897 gegründete Kneipp-Bund, der in den 1960er Jahren etwa 65.000 Mitglieder hatte.[2]
Nach 1933 wurde die „Deutsche Lebensreform-Bewegung“ gleichgeschaltet und ging in der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweise der NSDAP auf. „Die Nationalsozialisten erhofften sich durch die Imstrumentalisierung von Lebensreform und naturgemäßer Heilkunde die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, seine 'rassische' Gesundheit und physische Robustheit zu steigern.“[4] Die NSDAP propagierte die Einbeziehung von Naturheilverfahren in die allgemeine Medizin unter dem Begriff Neue Deutsche Heilkunde (NDH). Die entsprechenden Pläne scheiterten aber letztlich am Widerstand der Ärzteschaft.[2]
Kleidungsreform
Im Umfeld der Lebensreform-Bewegungen gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland mehrere Ansätze zu einer Reform der Kleidung, wobei sich die ersten Überlegungen auf die Männerkleidung bezogen. Heftige Kontroversen gab es zur Frage, welches Material der Gesundheit besonders zuträglich sei. Gustav Jäger hielt ausschließlich Wolle für geeignet, während Heinrich Lahmann Baumwolle befürwortete und Sebastian Kneipp vor allem Leinen. Jäger gründete ein eigenes Bekleidungsunternehmen für die von ihm entworfene so genannte Normalkleidung für Männer, die einige Jahrzehnte lang recht erfolgreich auf dem Markt war, nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in England. Er gründete einen eigenen Verein und gab eine monatliche Zeitschrift heraus.[5]
Bei den Reformansätzen der Frauenkleidung ging es vor allem um die Abschaffung des Korsetts, die nicht nur von Frauenrechtlerinnen, sondern auch von einigen Medizinern nachdrücklich gefordert wurde. Der Arzt Samuel Thomas Sömmering hatte schon 1788 einen Aufsatz mit dem Titel „Über die Schädlichkeit der Schnürbrüste“ geschrieben. In der Folgezeit häuften sich öffentliche Vermutungen, die starke Einschnürung führe zur Deformierung innerer Organe und vor allem zur Schädigung der Gebärmutter, begünstige Verstopfung und könne zu einer Schnürleber führen. Tatsächlich nachweisbar waren Atemnot und eine Neigung zu Ohnmachten sowie eine stark eingeschränkte Beweglichkeit.[5]
In den USA gehörte Amelia Bloomer zu den ersten Frauen, die um 1850 ein Reformkleid forderte und auch einige Zeit trug. Die amerikanische Reformbewegung scheiterte jedoch. 1881 wurde in England die Rational Dress Society gegründet, 1896 folgte in Deutschland der Allgemeine Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung mit zunächst 180 Mitgliedern. Im Jahr 1900 entwarfen bekannte Künstler so genannte Künstlerkleider ohne Korsett, unter anderem Henry van de Velde. Diese Modelle waren aber nicht für die Massenproduktion gedacht. 1903 entstand die Freie Vereinigung für Verbesserung der Frauenkleidung, die 1912 in Deutscher Verbund für Frauenkleidung und Frauenkultur umbenannt wurde. Nach 1910 verzichtete die Haute Couture auf das Korsett, ohne dass die Damenmode dadurch bequem wurde. Erst der Stoffmangel und ein verändertes Frauenbild zur Zeit des 1. Weltkriegs sorgten für eine starke Veränderung der Frauenkleidung im Sinne der Reformer.[5]
siehe Artikel Reformkleidung
Freikörperkultur
Auch die FKK-Bewegung entstand als Teil der Lebensreform-Bewegungen. Der Schweizer Arnold Rikli gründete bereits 1853 eine „Sonnenheilanstalt“ und verordnete seinen Patienten „Lichtbäder“ ohne jede Bekleidung. 1906 gab es in Deutschland 105 so genannte Luftbäder.
1891 veröffentlichte Heinrich Pudor eine Schrift mit dem Titel Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft, in der er Nacktheit als Gegenmittel gegen die angebliche Degeneration der Menschen als Folge der Zivilisation preist. „Pudors Kombination aus Gesundheitsratschlägen, Kleiderreform, Vegetarismus, Antimodernismus und Antisemitismus fand in den folgenden Jahren zahlreiche Nachahmer.“[6] Auch der FKK-Aktivist Richard Ungewitter vertrat völkisch-antisemitisches Gedankengut. Er gründete 1910 die Loge für aufsteigendes Leben und warb für „strenge Leibeszucht“ und „nackte Gattenwahl“ mit dem Ziel, gesunde und „rassereine“ Nachkommen zu zeugen.[6] Zitat: „Würde jedes deutsche Weib öfter einen nackten germanischen Mann sehen, so würden nicht so Viele exotischen fremden Rassen nachlaufen. Aus Gründen der gesunden Zuchtwahl fordere ich deshalb die Nacktkultur, damit Starke und Gesunde sich paaren, Schwächlinge aber nicht zur Vermehrung kommen.“[7]
Von Pornografie und freier Sexualität distanzierten sich die führenden Vertreter der Freikörperkultur entschieden. „Bis in die 20er Jahre hinein gab es eine breite Bewegung in der FKK-Kultur, die sehr viel stärker auf Disziplinierung, Körperkontrolle, Selbstkontrolle abzielte, (...) Werte, die durchaus kompatibel waren mit der NS-Ideologie", so der Historiker Hans Bergemann.[7] Die bürgerlichen FKK-Vertreter kritisierten zwar heftig die allgemeine Prüderie, vertraten jedoch selbst keine liberalen Ansichten, sondern definierten den Begriff der „Unmoral“ um. Für sie war der bekleidete Mensch unmoralisch. Hans Bergemann: „Sie haben einfach gesagt: es ist die Kleidung, die den Körper sexualisiert und erst das schwüle Begehren schafft, und dem gegenüber müsste man sich nackt ausziehen, das würde dann das sexuelle Begehren mindern bzw. man könnte es besser kontrollieren.“[7] So heißt es in einer FKK-Publikation: „Und endlich muss an dieser Stelle auch die moderne Badehose erwähnt werden, dieses unanständigste Kleidungsstück, das sich denken lässt, weil sie den Blick mit Gewalt auf diese gewisse Stelle lenkt und mit Fingern auf sie zeigt (...)“[7].
Die Anhänger der FKK-Bewegung gehörten jedoch verschiedenen ideologischen Richtungen an, auch wenn die bekanntesten Publizisten völkisch-national waren. Gefördert wurde die Nacktkultur durch die Wandervogel-Bewegung, die damit sportliche Aktivitäten verband. Der Gymnastiklehrer Adolf Koch gehörte politisch dem Lager des Sozialismus an und verfolgte sozialreformerische Ziele innerhalb der Arbeiterschaft. Er bemühte sich auch um Sexualaufklärung, körperliche Kräftigung und medizinische Beratung. Koch gründete so genannte „Körperschulen“, die in den 1920er Jahren deutlich mehr Anhänger hatten als die bürgerlichen FKK-Gruppen.[8] 1932 gab es im Deutschen Reich rund 100.000 organisierte FKK-Anhänger, davon etwa 70.000 in den Körperschulen.
Die konservativen FKK-Gruppen gründeten 1923 die Arbeitsgemeinschaft der Bünde deutscher Lichtkämpfer, die sich ab 1926 Reichsverband für Freikörperkultur (RFH) nannte. Die sozialistischen Gruppen bildeten den Bund für sozialistische Lebensgestaltung und Freikörperkultur. Im März 1933 wurde ein Erlass zur Bekämpfung der „Nacktkulturbewegung“ herausgegeben. Nachdem sich der RFH zum NS-Staat bekannt hatte, folgte die Gleichschaltung und die Umbenennung in Kampfring für völkische Freikörperkultur.[8]
siehe Artikel Freikörperkultur
Bekannte Lebensreformer
- Friedrich Eduard Bilz
- Maximilian Bircher-Benner
- Wilhelm Bölsche
- Otto Buchinger
- Karl Buschhüter
- Adolf Damaschke
- Hugo Höppener
- Sebastian Kneipp
- Heinrich Lahmann
- Arnold Rikli
- Karl Schmidt-Hellerau
- Daniel Gottlob Moritz Schreber
- Johannes Ude
- Fritz Wartenweiler
- Bruno Wille
Quellen
- ↑ Wolfgang R. Krabbe, Lebensreform/Selbstreform, in: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, S. 74
- ↑ a b c Wolfgang R. Krabbe, Naturheilbewegung, in: Kerbs/Reulecke (Hg): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, S. 77 ff.
- ↑ Artikel Naturheilkunde in Meyers Konversationslexikon, ca. 1895
- ↑ Wolfgang R. Krabbe, Naturheilbewegung, S. 82
- ↑ a b c Karen Ellwanger/Elisabeth Meyer-Renschhausen, Kleidungsreform, in: Kerbs/Reulecke (Hg): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, S. 87 ff.
- ↑ a b Rolf Koerber, Freikörperkultur, in: Kerbs/Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, S. 105
- ↑ a b c d Arna Vogel: Wenn die Hüllen fallen - Geschichte der Freikörperkultur
- ↑ a b Rolf Koerber, Freikörperkultur, in: Kerbs/Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, S. 103 ff.
Literatur
- Bernd Wedemeyer-Kolwe: "Der neue Mensch". Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
- Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt/M.; New York 1997
- Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Herausgegeben von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert. Katalog zur Ausstellung im Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Häusser Verlag und anabas Verlag, Darmstadt 2001, ISBN 3-89552-081-0
- Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 bis 1933, Verlag Hammer, 1998, ISBN 3-87294-787-7
- Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974
- Wolfgang R. Krabbe: "Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreformbewegung ist der Nationalsozialismus". Zur Gleichschaltung einer Alternativströmung im Dritten Reich. In: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 431-461
- Ulrich Linse: Das "natürliche" Leben. Die Lebensreform, in: Richard van Dülmen (Hrsg.): Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien 1998, S. 435-456.
- Ulrich Linse: Barfüßige Propheten : Erlöser der Zwanziger Jahre. Berlin 1983. ISBN 3-88680-088-1