Christliche Mystik
Die christliche Mystik ist eine Bewegung innerhalb der christlichen Religionen, in der die unmittelbare Einswerdung mit Gott (Unio Mystica) angestrebt wird. Zu diesem Zweck verwendet sie unterschiedliche Mittel, vor allem die Kontemplation, aber auch Askese und Bußübungen, Gebete und Gesänge u.a. Das Ich wird - im Gegensatz zu fernöstlichen Philosophien - in der Einswerdung mit Gott nicht aufgegeben, sondern gerade in dieser geheimnisvollen Einung besteht eine ureigene Individualität, man könnte geradezu sagen, es kommt in dieser Vereinigung gerade besonders zu einer echten und tiefen Selbstfindung des wahren Ich, wie es von Gott her gedacht und geschaffen ist. Entscheidend ist das persönliche Erleben, die Erfahrung durch Reflexion in der Hl. Schrift sowie die gelebte Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. Jesus selbst sagte von sich: "Ich und der Vater sind eins." (Joh 10,30) und verwies dabei unmittelbar auf seine Werke. Der Kirchenvater Origenes spricht von der Geburt Gottes in des Menschen Seele.
Die christliche Mystik basiert auf dem Neuplatonismus in seiner christlichen Umprägung. Die wichtigsten Philosophen, die den spätantiken christlichen Neuplatonismus ins Mittelalter weitergaben, waren hl. Augustinus und Dionysius Areopagita. In der orthodoxen Kirche hat die Mystik eine lange Tradition. In der Mönchsbewegung Hesychasmus (von griechisch "hesychia": Ruhe, Stille) wird die Mystik praktiziert durch das Jesusgebet (auch Herzensgebet genannt) und die Nabelschau. Im Westen waren ebenfalls die Klöster die Zentren der Mystik. Nonnen und Mönche verschiedener Orden widmeten sich der Kontemplation und schrieben Texte über ihre Erfahrungen. Ihre Hochblüte hatte die christliche Mystik im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Obwohl die Reformation mit der Tradition der katholischen Kirche brach, kam es bald auch in den protestantischen Gebieten zu mystischen Bewegungen. In der modernen Theologie findet sich der Gedanke der Mystik in den Überlegungen zum Pantheismus (Gott und Welt sind eins) und zur negativen Theologie. Letztere weist darauf hin, dass Gott nur erfahren und nicht beschrieben werden kann.
Während der Weg zu diesem Zustand und auch dessen Ausdruck sich kulturell am Christentum ausrichtet, ist das Erleben desselben ähnlich den mystischen Zuständen in anderen Religionen: Sufismus (Islam), Zen (Buddhismus), Tantrismus (Hinduismus/Buddhismus) oder Kabbalistik (Judentum). Die moderne Mystik kann auch eine Mixtur von mystischen Elementen aus verschiedenen Religionen sein und wird dadurch von vielen als eine ersehnten Universal-Religion empfunden, gerade weil sie auf persönlichem Erleben beruht und deshalb keine einheitlichen Begriffe und Konzepte liefern kann. Ein Beispiel dafür ist die Lehre vom Enneagramm.
Mystiker
Die deutsche Frauenmystik des Mittelalters ist geprägt von hl. Hildegard von Bingen, hl. Gertrud von Helfta, Mechthild von Magdeburg und Mechthild von Hackeborn. Die letzteren drei lebten alle im Zisterzienserinnenkloster Helfta in Eisleben (Sachsen-Anhalt). Bekannte katholische Exponenten der christlichen Mystik im 16. Jh. sind hl. Teresa von Ávila und hl. Johannes vom Kreuz, welche den Frauen- und Männerorden der barfüssigen Karmeliten gegründet haben und von der katholischen Kirche als Kirchenlehrer den Ehrentitel Doctor mysticus (Lehrer der Mystik) erhalten haben. Weitere katholische Mystiker sind hl. Bernhard von Clairvaux (Kirchenlehrer), hl. Thomas von Aquin (einer der bedeutendsten katholischen Kirchenlehrer), hl. Franz von Assisi, hl. Johannes Bonaventura (Kirchenlehrer, "Fürst aller Mystiker"), hl. Franz von Sales (Kirchenlehrer), sel. Heinrich Seuse, Meister Eckhart, Angelus Silesius, Johannes Tauler (vgl. Devotio moderna) und im 16. Jh. hl. Ignatius von Loyola mit seinen Exerzitien.
Wichtige protestantische Mystiker sind Valentin Weigel, Sebastian Franck, Gerhard Tersteegen und Jakob Böhme. Johann Valentin Andreae war der Begründer der heute mehr esoterischen als christlichen Rosenkreuzer. Emanuel Swedenborg formulierte ein eigenes Lehrsystem, welches später zur Gründung der Neuen Kirche (Kirche des neuen Jerusalem) führte.
Bekannte moderne christliche Denkerinnen und Denker, die von der Mystik stark beeinflusst wurden, sind beispielsweise Pierre Teilhard de Chardin, Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, Anselm Grün, Dag Hammarskjöld, Willigis Jäger, Dorothee Sölle, David Steindl-Rast oder Jörg Zink.
Kennzeichen eines Mystikers ist die Ergebenheit in den Willen Gottes: "Nicht mein, sondern dein Wille geschehe" (Lk 22,42), wie er sich im Gebot der Gottes- und Nächstenliebe äußert, wodurch im Christentum gleichzeitig die Anerkennung von Christus als Erlöser der Welt deutlich wird.
Mystische Musik
Musik ist ein verbreitetes Medium, um Mystik erfahrbar zu machen. In den gregorianischen Gesängen, der Gregorianik, findet die christliche Mystik des Mittelalters einen Höhepunkt. Inspiriert wurden aber auch zeitgenössische klassische Komponisten, etwa Arvo Pärt, Henryk Mikolaj Górecki oder Olivier Messiaen.
Zitat
„Der Fromme von Morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ (Karl Rahner, Schriften, VII 22)
Siehe auch
- Mystik, Mystische Erfahrung, Philosophia perennis
- Kontemplation
- Brüder und Schwestern des freien Geistes
Weblinks
- Einführung in die christliche Mystik von Josef Weismayer
- "Wider die Tyrannei der Vernunft" - Essay im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt
Literatur
- Gerhard Wehr: Die deutsche Mystik: Leben und Inspiration gottentflammter Menschen in Mittelalter und Neuzeit. Anaconda, Köln 2006, ISBN 3-938484-86-1
- Gerhard Ruhbach, Josef Sudbrack (Hrsg.): Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden. Beck, München 1989, ISBN 3-406-33622-1
- Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. 5 Bde. Beck, München 1990-1999.
- Uta Störmer-Caysa: Einführung in die mittelalterliche Mystik. Neuausg. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-017646-8
- Otto Langer: Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung - Stationen eines Konflikts. WBG, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-04527-0
- Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Wörterbuch der Mystik. 2. Aufl. Kröner, Stuttgart 1998, ISBN 3-520-45602-8
- Max Heindel: Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder Mystisches Christentum, ISBN 3906414000, www
- Götz, Thomas Josef, Gerold, Thomas (Hrg.), Die Mystik im Buddhismus und im Christentum. Und Aspekte des interreligiösen Dialogs. ISBN 3-8306-7232-2, EOS-Verlag St. Ottilien.
- Franz Bernhard Ammann: “Im Lichte der Mystik" – Eine Sammlung wahrer und tiefer Gedanken mystischer Dichter aus Ost und West. Aurora-Verlag, Stäfa 2003, ISBN 3-9521793-1-0