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Der Findling (Kleist)

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Der Findling ist eine Novelle von Heinrich von Kleist, die zum ersten Mal im zweiten Band seiner Novellen 1811 erschienen ist. Lange Zeit herrschte größere Diskussion darüber, ob das Werk wirklich erst für diese Veröffentlichung geschrieben wurde, oder, ob es sich nicht um ein sehr frühes Werk handelt. Heute geht die Forschung von der Spätdatierung aus.

Handlung

Antonio Piachi, wohlhabender Güterhändler und zum zweiten Mal verheiratet mit Elvire, reist mit seinem Sohn Paolo (Sohn seiner 1. Frau) nach Ragusa. Dort herrscht eine pestartige Krankheit. Aus Sorge um sein Kind will er wider kaufmännische Interessen wieder abreisen. Bei der Abreise nimmt er aus Mitleid einen angesteckten Waisenknaben mit, obwohl es ihm zu Anfangs widerstrebt: Er „weiß nicht, was er mit ihm soll“. In einem Wirtshaus wird er von der Polizei festgenommen und aus Quarataineschutz nach Ragusa transportiert. Im dortigen Krankenhaus bleibt Piacchi gesund, sein eigener Sohn aber stirbt und Nicolo (erst jetzt wird der Name eingeführt) erholt sich . Nicolo will Abschied nehemen, da fragt Piachi ihn, ob er nicht mitreisen will. Erst jetzt besieht Piacchi ihn richtig.

In Rom zurück trauert Elvire um den toten Paolo, setzt Nicolo aber schnelle an seine Stelle. Er bekommt dessen Kleider, Zimmer, ja seine ganze Rolle. Elvire glaubt von Piachi selbst keine Kinder mehr zu bekommen. Nicolo erhält gute Schulbildung, der Vater gewinnt ihn lieb, je mehr er in ihn investiert hat. Zuletzt adoptiert ihn und setzt ihn als Kommis im seinem Geschäft ein.

Er ist zufrieden mit seinem „Sohn“ bis auf zwei Laster Nicolos: 1.) Nicolo hat Umgang mit den Karmelitermönchen (die vor allem an dem künftigen Erbe des Jungen interessiert sind) 2.) Nicolo hat ein frühes Interesse am weiblichen Geschlecht. Mit 15 hat er eine Affäre mit Xaviera Tartini, der „Beischläferin des Bischofs“. Mit 20 wird Nicolo an Constanze Parquet, eine Nichte Elvierens, im Interesse der Eltern verheiratet. Mit 60 Jahren geht der Vater in den Ruhestand und Überschreibt den Großteil seines Vermögens und das Geschäft an den Sohn.

Es folgt eine Rückblende, die Elivrens Vorgeschichte in Form ihrer Erinnerung berichtet: Vater Phillippo Parquet, ein bemittelter in Genua wohnhafter Tuchhändler , hatte wegen seines Berufs ein Haus am Meer. Es brach ein Feuer im Haus aus, als Elvira 13 Jahre alt ist. Sie rettete sich auf einen Balken über hoch über dem Meer, der aber bald auch Feuer fing. Kurz bevor sie in den Tod springen wollte, wurde sie von einem jungen Genueser, Sohn des Marquis, gerettet. Dieser zog sich dabei aber so schwere Verletzungen zu, dass er nach drei Jahren Krankenlager starb. Die von Liebe ergriffene Elvire pflegte ihn während seiner Krankheit und lernte in seinem Haus auch Piachi kennen, der mit dem Marquis Handelskontakte unterhielt. Nach dem Tod des Genuesers heiratete sie Piachi, konnte den Tod ihres Retters aber nie überwinden. Piachi respektiert Elvira und hütet sich, mit ihr über den Genueser zu sprechen.

Nicolo unterhält sein Verhältnis mit Xaviera Tartini auch nach der Hochzeit weiter und betrügt seine Frau. Elvire will, um einer Unpässlichkeit ihres Gatten abzuhelfen, Medizin holen. Nicolo kehrt in dem Karnevalskostüm eines Genueser Ritters von seinem Liebsgeschäft zurück. Nicolo hatte freilich seine Gattin nicht über seinen „Ausflug“ unterrichtet, insofern bekommt er leicht Panik, als er die Schafzimmertür verschlossen findet. Elvire erschreckt über die Masquerade und stürzt von einem Stuhl (den sie als Leiter benutzt hatte) „wie vom Blitz getroffen“. Um seine amourösen Abenteuer zu verdecken und keinen Rüffel von seinem Vater zu erhalten, entreißt er Elvire den Schlüssel, legt seinen Schlafrock an und stellt sich, als Piachi kommt, überrascht. Elvire steht unter Schock: sie erholt sich wieder, bleibt aber in der Folgezeit schwermütig.

Ein Jahr später stirbt Constanze, Nicolos Gattin, und ihr Kind bei der Niederkunft. Bigotterie und Hurerei Nicolos beginnen wieder. Noch ehe Constanze unter der Erde ist, erwischt Elvire Nicolo mit Xaviera im Bett. Sie verrät aber nichts. Piachi riecht den Braten, als er ein Mädchen mit einem Brief von Nicolo an Xaviera betreffs eines Termins für ein Stelldichein zufällig abfängt. Piachi beantwortet den Brief im Namen der Frau und gibt Nicolo die Magdalenenkirche als Treffpunkt an. Piachi lässt das Begräbnis Constanzes am nächsten Tage absagen und ordnet einen Leichenzug zum Gewölbe der Magdalenenkirche, wo sie bestattet werden soll, für sofort an. Nicolo fragt dort, wen man bestatte und man sagt ihm: Xaviera Tartini. Nicolo weiß aber, dass es sich um seine Frau handelt. Nicolo verfällt in Hass gegen Elvire, weil er glaubt, sie habe ihm diese Schande bereitet und ihn verraten. Piachi spricht kein Wort mehr mit Nicolo. Nicolo will –ohne wirkliche Absicht- Piachi die Auflösung des Verhältnisses mit Xaviera versprechen. Elvire erregt nun sein Begehren, zugleich will er Rache an ihr nehmen.

Nicolo glaubt Elvira bei einem Verhältnis durch das Schlüsselloch zu beobachten, doch stellt sich heraus, dass sie vor nichts weiter als einem Stück selbstgewebter Leinwand „in Stellung der Verzückung“ gekniet war. Nicolo dringt, nachdem sie es verlassen hat, in ihr Gemach ein und stellt fest, dass es sich um das Bild eines jungen Ritters handelt. Nicolo erzählt Xaviera die sonderbare Begebenheit. Xaviera will Elvira stürzen und das Bild sehen. Sie und ihre kleine Tochter Klara, deren Vater der Bischof ist, sehen das Bild und das Kind. Die Kleine ruft plötzlich: Das sind sie, Signor Nicolo. Xaviera reagiert eifersüchtig, Nicolo erregt. Die geglaubte Leidenschaft Elvirens erregt ihn fast wie das Gefühl der Rache an ihr.

Nicolo spielt mit Buchstaben aus seiner Kinderzeit und entdeckt das Anagramm Nicolo = Colino (der Mann auf dem Bild). Auch Elvira sieht das Anagramm, weint errötet. Nicolo glaubt an seinem Liebesziel und will ihr in ihr Schlafzimmer folgen. Piacchi kommt und stört ihn. Nicolos „schändliche Freude“ wird zerstört durch ein Billett von Xaviera: Neuigkeiten über Elvira durch eine Beichte Elviras bei den Karmelitterinnen, die es dem Bischof gesagt haben, der es Xavira verraten hat: Gegenstand von Elviras Liebe ist der schon seit 12 Jahren tote Aloysius, Marquis von monferat, genannt Colino. Dieser ist auch auf dem Bild. Dieses Wissen solle Nicolo aber geheim halten.

Bei Nicolo vereinigen sich Rache und Wollust. Nicolo plant einen Betrug, einen „satanischen Plan“ gegen die „reine Seele“ Elvirens. Nicolo schleicht sich in seiner Colino-Verkleidung in Elvirens Gemach. Elvira will ihn nackt „vergotten“. Er versinkt in Anschauung ihrer Reize. Sie sinkt vom Kuss des Todes erbleicht nieder. Er bedeckt sie mit Küssen. Piacchi kehrt in diesem Moment heim. Nicolo enttarnt sich, bittet um Vergebung. Elvira bricht zusammen.

Sie erholt sich bald, und Piacchi ist bereit die Angelegenheit im Stillen zu klären. Er holt die Peitsche. Nicolo droht plötzlich aufgrund von Dokumenten, dass ihm doch das Haus gehöre und der "Vater" hier gar nichts zu sagen habe. Er verweist Piacchi und Elvira des Hauses. Ein Rechtsstreit geht zu Gunsten Nicolos aus, weil der Bischof, der auf einen späteren Erbanteil für die Kirche hofft, sich für diesen einsetzt. (Dazu kommt noch, dass der Bischof froh ist, weil Nicolo ihm die lästig gewordene Xavira abnehmen und heiraten will.) Piacchi bricht beim Rechtsanwalt zusammen. Elvira stirbt an den Folgen des Vorfalls. Piacchi ermordet Nicolo. Er wird ohne Absolution hingerichtet, da er "Nicolo auch noch in der Hölle verfolgen will".

Deutung

Die Frühdatierung des Textes wurde unter anderem aufgrund von "Brüchen" in der Handlung bzw. "wenig psychologischer Motivierung der Handlung" erwogen. Jürgen Schröder hat versucht die Handlung mit Rückgriff auf soziophysikalische Überlegungen Kleists zu motivieren. Im "Allerneusten Erziehungsplan" oder auch in dem Essay "Über die allmählige Verfertgung der Gedanken beim Reden" äußert Kleist den Gedanken einer "seltsamen Übereinstimmung der moralischen und der physikalischen Natur des Menschen".

Die soziophysklaische Lesart sieht den Text, wie es für die meisten Texte Kleists in der neueren Forschung bedacht wird, als Versuchsanordnung. Der Findling scheint am Anfang neutral geladen. Die Erregung des Vaters über den Tod seines leiblichen Sohnes polarisiert ihn positiv und komplementär Nicolo negativ. Dies drückt sich darin aus, dass er keinerlei Anteilnahme oder Mitleid zeigt, sondern in sich gekehrt dasitzt und "Nüsse knackt". Elvira hat durch ihre sexuelle Inaktivität ein Liebesvakuum und kann daher als negativ polarisiert angesehen werden. Nicolo baut durch den Mangel an Liebe in seinem "Elternhaus" frühe sexuelle Aktivität auf, was man als positive Polarisierung verstehen kann. Seine Frau Constanze vermag diese Ladung etwas zu binden. Als Nicolo (als Colino verkleidet) Elvira nachts begegnet, kommt es zu einer elektrischen Entladung. Es blitzt und Elvira sinkt ohnmächtig zusammen. Als Constanze gestorben ist, wird die Polarität Nicolos frei. Sie polarisiert Antonio Piacchi komplementär, dass dieser auf Rache sinnt. Dies polarisiert Nicolo gegen Elvira. Sein sexuelles Begehren an ihr und zugleich der Wunsch nach Rache deutet Schröder als Oszillieren zwischen zwei Polaritätszuständen. Dieser Spannungsaufbau implodiert, als Antonio Piacchi eintritt und der Fast-Liebesszene ein Ende setzt. Nicolo bricht zusammen. Als Antonio Piacchi nun die Peitsche zückt, polarisiert dies wiederum Nicolo gegen ihn, was plausibel macht, wieso er ihn so plötzlich aus dem Haus wirft.

Sekundärliteratur

  • Schröder, Jürgen (2003): Kleists Novelle „Der Findling“. Ein Plädoyer für Nicolo. In: Anton Philipp Knittel / Inka Kording (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt. S. 40-58.