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Scheunenviertel (Berlin)

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Stadtviertel in Berlin-Mitte: Altkölln (Spreeinsel) [1] (mit Museumsinsel [1a], Fischerinsel [1b]), Altberlin [2] (mit Nikolaiviertel [2a]), Friedrichswerder [3], Neukölln am Wasser [4], Dorotheenstadt [5], Friedrichstadt [6], Luisenstadt [7], Stralauer Vorstadt (mit Königsstadt) [8], Gebiet Alexanderplatz (Königsstadt und Altberlin) [9], Spandauer Vorstadt [10] (mit Scheunenviertel [10a]), Friedrich-Wilhelm-Stadt [11], Oranienburger Vorstadt [12], Rosenthaler Vorstadt [13]

Das Scheunenviertel liegt in Berlin-Mitte, unweit des historischen Stadtkerns. Mit diesem Namen wurde früher ein Gebiet nördlich der Stadtmauer zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz bezeichnet. Heute wird gelegentlich (und fälschlich) damit auch ein Gebiet zwischen der Friedrichstraße und der Karl-Liebknecht-Straße bezeichnet, welche im Süden durch die die Stadtbahn (ungefähr der Verlauf der alten Stadtmauer) und die Spree sowie im Norden durch die Linienstraße bzw. Torstraße begrenzt ist. Vielmehr bezeichnet das Scheunenviertel den östlich der Rosenthaler Straße gelegenen Teil der Spandauer Vorstadt.

Geschichtliches

Preußen

Die Bezeichnung Scheunenviertel geht zurück auf die 27 Scheunen, die der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm aus Brandschutzgründen um 1672 in unmittelbarer Nähe der damaligen Stadtmauer errichten ließ. Der heutige Alexanderplatz war zu jener Zeit ein Viehmarkt, für dessen Betrieb große Mengen Heu und Stroh benötigt wurden. Da die Brandschutzordnung das Lagern derart feuergefährlicher Materialien innerhalb der Stadtmauer verbot, wurden die Scheunen außerhalb der Mauer errichtet. Nördlich der heutigen Dircksenstraße, die deren ungefähren Verlauf vor der barocken Stadtbefestigung markiert, befanden sich ausgedehnte, landwirtschaftliche Nutzflächen. Das Scheunenviertel diente zudem als Heimstatt für die dort beschäftigten Landarbeiter. Nach dem Abriss der Stadtmauer wurde das Gebiet bebaut, behielt aber im Volksmund seinen alten Namen. Im Jahr 1737 befahl Friedrich Wilhelm I. allen Berliner Juden, die kein eigenes Haus besaßen, ins Scheunenviertel zu ziehen. Dieses Gesetz und die Regelung, dass Juden nur durch die beiden nördlichen Stadttore die Stadt betreten durften, führten dazu, dass an dieser Stelle ein Viertel mit starken jüdischen Kultureinflüssen entstand. Die Synagoge Heidereutergasse und die ersten Friedhöfe entstanden in unmittelbarer Nähe zum Scheunenviertel an der Großen Hamburger Straße und später im Norden an der Schönhauser Allee. Für viele ostjüdische Einwanderer war es angesichts dieser Bedingungen naheliegend, sich hier ebenfalls anzusiedeln, als sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Berlin kamen.

Zeit der Industrialisierung

Der Prozess der Industrialisierung hinterließ im Scheunenviertel gravierende Spuren. Nach der Gründung des Deutsches Reichs 1871 wurde Berlin zur größten Industriestadt Europas. Die Bevölkerungsdichte stieg innerhalb weniger Jahre rapide an, der Wohnraumbedarf der zuziehenden Arbeiter wurde nur verspätet und unzureichend durch den Bau von Mietskasernen in den neu entstehenden Stadtteilen gemindert. In den kleinteiligen Altbauten des Scheunenviertels herrschte drangvolle Enge. Viele Neuankömmlinge fanden hier ihre erste Wohnstatt. Die knappen Schlafplätze in den untervermieteten Wohnungen wurden oftmals analog zu den Schichten in den nahe gelegenen Borsigwerken geteilt. Wer nicht schlief oder arbeitete, hielt sich in den Straßen auf oder verbrachte die wenige Freizeit in einer der zahlreichen Kneipen des Viertels (z. B. in der um die Mulackstraße gelegene sogennannten „Mulackei“ oder „Mulackritze“).

Wegen der katastrophalen baulichen und sozialen Situation beschloss der Berliner Magistrat, das Viertel ab 1906/07 komplett umzugestalten. Waren bis dahin noch 4 der ursprünglich 8 Scheunengassen vorhanden, wurde nach dem Abriss vieler Gebäude das Straßennetz rund um den Rosa-Luxemburg-Platz neu gestaltet:

  • Erste Scheunengasse - heute überbaut
  • Zweite Scheunengasse - heute Rosa-Luxemburg-Straße
  • Dritte Scheunengasse - heute Zolastraße
  • Vierte Scheunengasse - heute Weydinger Straße
  • Kleine Scheunengasse - heute überbaut

Wegen des Ersten Weltkriegs wurde die Umgestaltung des gesamten Viertels jedoch abgebrochen, sodass im westlichen Bereich noch die alte Bausubstanz vorhanden ist, während am Platz moderne Gebäude aus den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts dominieren.

Die Namensverwechslung

Heute wird das Scheunenviertel häufig mit der Spandauer Vorstadt gleichgesetzt. Dies hat einen historischen Hintergrund: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich das Scheunenviertel zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Das Viertel war geprägt durch Armut, Prostitution, Kleinkriminalität und hatte bei der Berliner Bevölkerung einen entsprechenden Ruf. Im westlich angrenzenden Teil der Spandauer Vorstadt hatte sich dagegen ein gut-bürgerliches, jüdisch geprägtes Milieu etabliert. Hier hatte auch die Reformierte Jüdische Gemeinde mit der Neuen Synagoge (Oranienburger Straße) ein bedeutendes Zentrum. Um die in der westlichen Spandauer Vorstadt ansässigen Juden zu verunglimpfen, dehnten die Nationalsozialisten den in Verruf geratenen Namen Scheunenviertel auf die gesamte Spandauer Vorstadt aus.

Heute hat die Bezeichnung Scheunenviertel die negative Konnotation längst abgelegt. Das Scheunenviertel gilt als touristischer Schwerpunkt und Kneipenviertel. Die Auguststraße ist heute ein Zentrum für zeitgenössische Kunst. Erwähnenswerte Gastronomie befindet sich nicht nur um den Hackeschen Markt herum, und viele Vertreter des sich jüngst etablierenden Berliner Mode-Designs findet man im Viertel. Vor allem aber die überwiegende Altbausubstanz mit unzähligen architektonischen Kleinoden vom Barock bis zum Dekonstruktivismus sowie die unmittelbare Nähe zur Museumsinsel und der Friedrichstadt machen das Scheunenviertel attraktiv. Die hiesige, mittlerweile größte deutsche jüdische Gemeinde verleiht ihm zusätzlichen Charme.

Literatur

  • Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Ein Roman aus dem Berliner Scheunenviertel. (Mit einem Essay und einem Nachruf von Eike Geißel). Frankfurt am Mai: Eichborn Verlag, 2000; ISBN 3-8218-4190-7. (Die Erstausgabe des Romans erschien 1965 im Heinrich Scheffler Verlag, Frankfurt a.M.)
  • Eike Geißel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente. (Mit einem Vorwort von Günter Kunert). Berlin: Verlag Severin & Siedler, 1981; ISBN 3-88680-016-4.
  • Hans Jörgen Gerlach: Krankheitsherd oder Märchen-Schtetl. Martin Beradt blickt auf beide Seiten einer Straße; in: "Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands", 20. Jg., Nr. 2; Wien: September 2003; S. 74/75. ISSN 1606-4321
  • Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Biografien - Orte - Begegnungen. (Hrsg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e.V.). Berlin: trafo verlag Wolfgang Weist, 2000; ISBN 3-89626-019-7.
  • Einige Feuilletonartikel des Journalisten Joseph Roth beschreiben das Scheunenviertel in den Zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.
  • Ulrike Steglich, Peter Kratz: Das falsche Scheunenviertel - Ein Vorstadtverführer; Berlin, Altberliner Bücherstube, Verlagsbuchhandlung, Oliver Seifert, Berlin; 1993. Link: www.ab-verlag.de/falsche.htm

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