Charakterstück
Charakterstücke sind bestimmte musikalische Werke.
Begriffsbildung
Der Begriff ist nicht eindeutig, unter ihm wird im Laufe der Musikgeschichte Unterschiedliches verstanden. Anstelle von Charakterstück wird gelegentlich auch der Begriff Genrestück verwendet. Als Charakterstücke sind daher jedenfalls und vor allem diejenigen musikalischen Werke anzusehen, die der Komponist selbst als Charakterstück bezeichnet oder mit dem Attribut charakteristisch (charakteristisches Stück, charakteristische Etüde, charakteristische Ouvertüre) belegt hat. Dabei handelt es sich vorwiegend um Kompositionen für Klavier. Charakterstücke beschäftigen sich mit der Darstellung von Zuständen außerhalb der Musik.
Schon Beethoven artikulierte die Aufgabe des Charakterstücks wie folgt: "mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei". Anders formuliert soll mehr die Idee des Künstlers als das Ergebnis an sich in den Vordergrund treten. Es werden mehr die Zustände von Dingen als die Gegenstände selbst beschrieben. Die Empfindungen, die vom Beschriebenen auf den Betrachter/Hörer übergehen, werden in ihren seelisch-psychologischen Wirkungen charakterisiert und dargelegt. Hugo Riemann sah die Aufgabe des Charakterstücks darin, "für die geheimsten Regungen eines gesteigerten Empfindungslebens und die magischen Bilderkreise phantastisch-poetischer Vorstellungen adäquate Ausdrucksmittel zu finden". Damit erklärt sich auch die Bedeutung dieses Stückes in der Romantik, welche dem lyrischen Stück in seiner darstellenden Form zum ersten Mal große Bedeutung zukommen ließ. Dennoch versuchte sich das Charakterstück von anderen bedeutenden Strömungen der Romantik abzugrenzen und eigene Wege zu beschreiten. Der Begriff wird ab dem frühen 19. Jahrhundert häufiger verwendet (z. B. von dem ungarischen Komponisten Stephen Heller).
Abgrenzung von der Programmmusik
Von den Charakterstücken abzugrenzen ist die Programmmusik. Diese beschäftigt sich mit der musikalischen Nachbildung von Gegenständen außerhalb der Musik, mitunter auch als Tonmalerei zu bezeichnen. Auf Musikwerke, die durchaus auch "Charakter" haben können, und die etwa zu einem bestimmten Anlass komponiert worden sind (z. B. die Wassermusik oder die Feuerwerksmusik von Händel) oder auf umfangreichere musikalische Werk, deren Komposition ein bestimmtes Programm zugrundeliegt, etwa der Anstieg auf und der Abstieg von einem Alpengipfel in "Eine Alpensinfonie op. 64" von Richard Strauss (Programmmusik), wird die Bezeichnung Charakterstück üblicherweise nicht angewendet.
Musikalische Entstehung
Das Charakterstück steht, anders als die Sätze einer Sonate oder Suite, für sich allein. Mehrere lyrische Stücke vereinen sich jedoch oftmals untereinander zu Zyklen, z.B. bei ähnlichen Themen. Als Vorlage dienen Tanz-, Lied- und Rondoformen, seit der Romantik fanden vor allem die Liedformen Verwendung als Gestaltungsgrundlage. Mit der Zeit ergab es sich, dass sie die geeignetste Rahmenform für das lyrische Stück sind.
Entwicklung früher Formen des Charakterstücks
Als Genrestück bezeichnet man vor allem die Werke französischer Clavecinisten im 18. Jahrhundert. Dazu zählen Stücke von François Couperin, die als frühe Vorläufer des späteren lyrischen Stücks bezeichnet werden können. Hierbei wurden seelische Vorgänge beschrieben, die in diesen Werken ihre musikalische Artikulation fanden. Zu dieser Zeit wurden Genrestücke oftmals noch im Suitenzusammenhang geschrieben. Seit etwa 1760 wurden diese Genrestücke auch in Deutschland bekannt, vor allem durch die Werke von F. Couperin und Jean-François Dandrieu. Sie regten vornehmlich Komponisten aus Norddeutschland zur Nachahmung an. Im 18. Jahrhundert brachte die Affektenlehre neue Einflüsse; sie sorgte dafür, dass Gefühle wie Trauer, Schwermut, Sehnsucht, Stolz usw. Einzug in die Charakterstücke hielten. Dabei sollte schon durch Überschriften deutlich werden, dass es sich um lyrische Stücke handelte. Den Nachfolger des Genrestücks bildete das "charakteristische Klavierstück als bedeutende Vorstufe des Klavierstücks in der Romantik. Als spätere Formen des charakteristischen Klavierstücks kann man die Charakteristischen Studien für das Pianoforte von Ignaz Moscheles bezeichnen. Die darin vorkommenden Überschriften bewegten sich auf ähnlichem Terrain wie vorangegangene Werke: "Zorn, Widerspruch, Zärtlichkeit, Angst". Im 18. Jahrhundert versuchten zahlreiche Komponisten die zyklischen Bildungen der Klaviermusik zu beseitigen. Man versuchte sich von den üblichen Kompositionsprinzipien (Suitensatzes, Sonatenform) zu entfernen. Bedarf für diese Form von musikalischen Werken ergab sich vor allem aus Liebhaberkreisen. Etwa um 1760 traten (oft sogar periodisch) immer mehr Werke der Klaviermusik auf. Für den Musikunterricht dienten sogenannte "Handstücke", die Vorläufer späterer (Klavier-) Etüden des 19. Jahrhunderts Sie dienten häufig als Übungsstücke für Klavierschüler und waren meist leicht zu erlernen. Häufig deuteten schon die Titel der Stücke (z. B. Pièces détachées) an, dass diese sich immer mehr von zyklischen Formen entfernen sollten.
Im späteren 18. Jahrhundert lässt sich der Übergang vom gesungenen Lied zum Spiellied erkennen. Letzteres wurde auch zum Lied ohne Worte, das später für die reinen Klavierstücke in der Romantik als Vorlage verwendet wurde. Ab diesem Zeitpunkt könnte man bereits von echten lyrischen Stücken sprechen. Die Werke von J.P.A. Schulz („Six diverses Pièces pur le clavecin ou pianoforte”, 1778 / 79) sind die ersten Charakterstücke, wobei sie nur vereinzelt auftraten. Erst die beginnende Romantik schuf neue Voraussetzungen für die lyrischen Stücke. Entscheidend war in dieser Zeit, dass die Sonate nicht mehr als die repräsentative Gattung der Klavier-Musik angesehen wurde. Vielmehr wurde das Prinzip der liedhaften, lyrischen Gestaltung die neue Grundlage für die Instrumentalmusik dieser Epoche. Das Charakterstück mit seinen poetischen Neigungen wurde nun in der Romantik zu seiner vollständigen Entfaltung gebracht. Durch die Verschmelzung von Poesie und Lyrik auf musikalischer Ebene konnten die Elemente der Affektenlehre nun vollständig umgesetzt und ausgereizt werden.
Als einer der ersten Vertreter des Charakterstücks schrieb der Prager W.J. Tomaschek ab 1807 im Laufe von über 30 Jahren insgesamt 10 Publikationen mit ausgeprägten Charakterstücken, die meist in dreiteiliger Liedform vorlagen. Diesen seit 1810/1811 veröffentlichen Eklogen folgten später noch Rhapsodien. Tomaschek wollte damit einer neuen Tendenz entgegenwirken. Er sah in den modischen Variationen und Opernfantasien eine „Verflachung” der Musik. Daher wollte er mit seinem Schaffen abseits der Sonatenform diesem Trend entgegenwirken. Seinem Lehrer Tomaschek folgt Jan Václav Voříšek. Er war es auch, der mit seinen Sammlungen von Rhapsodien (1818) den Titel „Inpromptus” in die Klavierliteratur einführte. An dieser Stelle knüpft Schubert an, als er sich 1827 erstmals in größerem Umfang dem Charakterstück widmet. In Schuberts Werken bleibt der Einfluss von W.J. Tomaschek und Jan Václav Voříšek in vielen Details nachweisbar (vgl. Inpromptu-Sammlung op. 90, 142, „Drei Klavierstücke”).
Einfluss der Klaviertechnik auf die Musik
Im Gegensatz zu den üblichen Klavieren Wiener Bauart hatten die englischen Klaviere einen tieferen Tastenfall. Dadurch konnten Töne nach dem Anspielen länger gehalten werden. Diese Technik wurde in Norddeutschland von den Instrumenten-Konstrukteuren übernommen. Dies führte dazu, dass sich die akustischen Charakteristika der Musik änderten. Durch die Weichheit der Tongebung wurden z.B. die monotonen und trockenen Albertibässe in ihrem Klang veredelt. Der Gesamtklang wurde geschmeidiger und passte sich somit auch der Thematik der Stücke an. Sie bereicherten das Charakterstück für Klavier um einen neuen Typus. Die Vollendung des Charakterstücks fand unter Frederic Chopin statt.
Entwicklungen aus dem vollendeten Charakterstück
Aus den von früher bekannten „Handstücken” wurde mit der Zeit technisch anspruchsvollere Etüden. Hier finden sich wesentliche Ausgangspunkte für die Werke spätere Künstler, darunter auch Felix Mendelssohn Bartholdys Lieder ohne Worte, Sieben charakteristische Stücke op. 7 (1827). Diese stehen ganz im Zeichen ihrer Vorgänger (Berger, Moscheles). Anders als Schubert fand Franz Schubert seine musikalischen Vorlagen hauptsächlich in der Gesangsmusik. Bei Schumann wird das poetisierende Element häufig durch entsprechende Überschriften bestätigt (Waldszene, Kinderszenen, Nachtstück, Fantasiestück, Albumblätter...). Beispiele hierfür sind 18 Davidsbündlertänze op. 6 von Robert Schumann (1837, als "Charakterstücke" werden sie jedoch erst in der 2. Ausgabe von 1850/51 bezeichnet). Hier wird deutlich, welche differenzierten Abstufungen des Charakterstücks sich zu dieser Zeit herausgebildet hatten. In der Nachfolge Schumanns standen Künstler wie Stephen Heller, Theodor Kirchner (Neue Davidsbündlertänze op. 17 und die Charakterstücke op. 61, 1874) und Adolf Jensen. Dabei dehnte sich das Charakterstück immer mehr zu einer Art Schablone für spätere Kompositionen aus, bei denen die Eigenheiten der musikalischen Vorlage immer mehr vernachlässigt wurden. Spätere Künstler wie Brahms und Edvard Grieg entwickelten ihren eigenen Stil basierend auf den Vorlagen der vorangegangenen Komponisten. Beispiele dafür sind die zwischen 1866 und 1901 entstandenen Lyrischen Stücke von Edvard Grieg (z. B. Hochzeitstag auf Troldhaugen [Bryllupsdag på Troldhaugen] aus op. 65 [1897]).
Ab dem Ende des 19. Jhdt./Anfang des 20. Jhdt. werden auch Werke der Salon- und Unterhaltungsmusik als Charakterstücke bezeichnet. Der Begriff Charakterstück bekommt dadurch einen etwas schillernden Charakter und wird von manchen auch abwertend gebraucht. Bei den Charakterstücken dieser Epoche steht die Erzielung eines überraschenden, meist einzigen Effekts mit musikalischen Mitteln im Vordergrund. Beispiele hierfür sind die Petersburger Schlittenfahrt (es gibt Aufnahmen mit Peitschenknallen und Hundegebell) und die Mühle im Schwarzwald (es gibt Aufnahmen mit Vogelgezwitscher) von Richard Eilenberg, Auf einem persischen Markt von Albert Ketèlbey und Heinzelmännchens Wachtparade von Kurt Noack.