Chorgestühl

Als Chorgestühl bezeichnet man ein- oder mehrreihige Sitzreihen an den Längsseiten des Chorraums einer Kirche. Einige Chorgestühle werden bis heute von geistlichen Würdenträgen unter anderem in Gottesdiensten und beim Stundengebet genutzt. Häufig ist das Chorgestühl durch Schnitzereien reich verziert.
Nur in wenigen Kirchen existieren noch vollständig erhaltene Chorgestühle aus mittelalterlicher Zeit, oft wurden diese Opfer von Zerstörung oder Zerfall.
Das Gestühl besteht üblicherweise aus gestuften, hölzernen Sitzreihen und ist nach hinten mit einer Rückwand (Dorsale) abgeschlossen. Die Chorstühle (volkstümlich Stallen, vom lateinischen stallae) – oft Klappsitze – haben Armlehnen (Accoudoir) und sind manchmal durch Wände voneinander getrennt, wobei die hochklappbaren Sitzbretter an ihrer Unterseite meist mit Konsolstücken, den so genannten Misericordien (lateinisch: misericordia=Mitleid, Barmherzigkeit), versehen sind, an denen man sich mit dem Gesäß abstützen und dadurch die Beine bei langem Stehen entlasten kann.
Geschichte
In frühchristlicher Zeit und im Mittelalter war das Chorgestühl zumeist die einzige Sitzgelegenheit in einer Kloster-, Stifts- oder Pfarrkirche. Während die Gläubigen dem Gottesdienst im Kirchenschiff stehend oder knieend beiwohnten dienten die Chorgestühle Mönchen und Priestern, die mehrmals täglich zum gemeinsamen Chorgebet zusammenkamen, als Ruhemöglichkeit während des Chordienstes. Zwar war für viele der kultischen Handlungen das Stehen vorgeschrieben, doch machte die Liturgie die Aufstellung von Gestühl zweckdienlich, denn es erleichterte das abwechselnde Stehen, Knieen oder Sitzen auf engerem Raum.
Schon im 4. Jahrhundert wurden in den römischen Basiliken feste, steinerne Sitzgelegenheiten für die Mönche im Altarraum eingebaut, was bereits beim Bau des Chores geschah. Diese Bänke waren noch nicht verziert, erst im 6. Jahrhundert wurden einige Marmorbänke mit einfachen Delfinvoluten am Rand abgeschlossen. Die Sitzreihen wurden teilweise ähnlich einem Amphitheater hintereinander treppenförmig angeordnet, um einer größeren Zahl an Klerikern Platz zu bieten. Die Basilika Santa Maria Assunta in Torcello verfügt über eine sechsreihige Anlage dieser Art aus dem 7. Jahrhundert.
Diese steinernen Sitzbänke sind noch bis in romanische und frühgotische Zeit zu finden. Parallel dazu kamen aber auch hölzerne Bänke auf, teilweise einzelne Hocker, Bänke und auch schon Klappstühle. Holz hatte den Vorteil, dass der Sitzende weniger von der Kälte betroffen war, zudem konnten daraus platzsparende Klappstühle gefertigt werden. Zunächst aber gab es nur recht klobige Bänke, wie im Kloster Alpirsbach erhalten. In Ratzeburg findet man im ältesten deutschen Chorgestühl Sitze aus Bohlen, in deren Übernahme der Form der steinernen Bänke sich der Übergang von Stein zu Holz als Material spiegelt.
In einer Ordensregel der Zisterzienser in Hirsau aus dem 11. Jahrhundert ("constitutiones Hirsaugensis”) wird bereits die Misericordie an Klappstühlen erwähnt, die dem Stehenden ein Abstützen erlaubte. Die in einer Reihe aufgestellten Klappstühle wurden nach vorn durch ein Pult begrenzt, das dem Auflegen der Gesansgbücher diente. Die Sitze waren teilweise durch Armlehnen voneinander getrennt, an denen sich auch Handknäufe befanden. Bis in die Barockzeit wird diese Form des Chorgestühls verwendet.
Um 1300 begann man mit der Verzierung des hölzernen Gestühl mit ornamentalen Schnitzereien. Im 14. und 15. Jahrhundert wurden die Gestühle mehr und mehr prunkvolle Einrichtungsgegenstände der Kirchen, die ähnlich den Altären und Kanzeln verziert waren. Verwendet wurde überwiegend Eiche oder im Westen auch Nussbaum, was große Anforderungen an die Schnitzer stellte. Ab dem 16. Jahrhundert verwendete man dann auch weiche Nadelhölzer für die Schnitzereien. Mit Ausnahme von Spruchbändern wurden die Möbel nicht farblich gefasst, nur die Gestühle des späten 16. Jahrhunderts ist mit farbigen Wappen oder Ranken bemalt oder die Ornamentik farblich unterlegt.
Richtete sich die Zahl der Gestühle zunächst noch nach der Zahl der Kleriker wurden später auch mehr Sitze als benötigt bereitgestellt, dies entsprach zu Beginn der Renaissance auch dem Repräsentationsbedürfnis der Bürger. So sind im Kölner Dom 104 Plätze vorhanden, im Erfurter Dom 83 und im Magdeburger Dom 56.

Im 15. und 16. Jahrhundert wurden auch im Kirchenschiff Gestühle gebaut, die allerdings nicht für die Kleriker, sondern für die Laien gedacht waren. Diese Laiengestühle gehörten nicht zu den eigentlichen Chorgestühlen, da sie ausschließlich den Bürgern als Sitzgelegenheit dienten. Die Gestühle standen an den Wänden oder wurden an die Pfeiler des Kirchenschiffes herangebaut. Neben Gestühlen der Zünfte und Gilden hatten in Städten auch die Räte ihre eigenen Gestühle. Die Laiengestühle wurden mit zunfttypischen Darstellungen geschmückt. Das Rigafahrergestühl in der Nikolaikirche der Hansestadt Stralsund zeigt Szenen aus der Pelztierjagd und dem Handel mit Pelzen und Honig und verdeutlicht das Selbstverständnis der Bürger. In den Gestühlen der Kaufleute und Bürger wurden bezahlte Messen abgehalten oder auch Geschäfte getätigt. Die Ratsgestühle gerade in den Hansestädten dienten auch der Rechtsprechung. Auch Familien ließen ihr eigenes Gestühl anfertigen. In der Augsburger Fuggerkapelle ließ Jacob Fugger zwischen 1512 und 1519 eine Grabkapelle bauen, die in Form und Gestaltung den süddeutschen Chorgestühlen entsprach. Im 18. Jahrhundert hatten diese Gestühle zumeist eine Kastenform und waren mit dem mittelalterlichen Chorgestühl kaum noch vergleichbar.
Einige Chorgestühle wurden durch Verfall des Holzes zerstört, sehr viele gingen durch Kriege, Brände oder auch im Zuge der Reformation durch Kirchenbrechen verloren bzw. entsprachen nicht der Auffassung der evangelischen Lehre und wurden netfernt.
Standorte
Das Gestühl befand sich in dem den Mönchen oder Priestern vorbehaltenen Teil der Kirche, dem Chor. Größere Kirchen verfügten zumeist über ein an der Nord- und Südseite des Chores befindliches Gestühl. In Klosterkirchen mit einem großen Konvent wie dem Doberaner Münster war auch ein Teil des Kirchenschiffes noch den Mönchen vorbehalten, daher erstreckte sich dort auch das Gestühl noch bis ins Kirchenschiff hinein. In romanischen Kirchenbauten steht das Chorgestühl an den Wänden des Chorquadrates, manchmal auch an den den Chor zum Querhaus abschließenden Chorschranken. Das seit der ottonischen Zeit übliche Chorquadrat zwischen Apsis und Querschiff bot ausreichend Platz für die Sitzgelegenheiten. In den gotischen Kirchen, die über einen Chorumgang verfügen, stehen die Gestühle auch an den Chorschranken. Diese dienen oft als Rückwand des Gestühls; steinere Chorschranken als Rückwand waren zumeist farbig bemalt oder mit Bildteppichen behängt, hölzerne Rückwände wurden zum Chorumgang hin ebenfalls verziert.
In den größeren Kirchen stehen auch im Westen entlang des Lettners Bänke. Diese hufeisenförmige Anlage trennte den Chorraum noch betonter gegen das Schiff ab und wurde vor allem in Ordenskirchen der Zisterzienser und Benediktiner verwendet, so in Cluny und in Hirsau.
Das Chorgestühl wurde zumeist bereits beim Bau geplant und für dieses z. B. steinerne Baldachine geschaffen.
Bestandteile
Das Chorgestühl besteht zumeist aus in einzelne Sitzgelegenheiten unterteilten Bänken. Die Unterteilung erfolgt durch Pultwangen. Seitlichen Abschluss bildeten teilweise reich verzierte Außenwangen.
Klappsitze wurden verwendet, um den Wechsel zwischen Stehen und Sitzen während der Liturgie zu erelichtern. Zur Unterstützung des Stehenden waren an den Klappsitzen Misericordien angebracht, die dem Stehenden Halt boten.
Die ost- und mitteldeutschen Gestühle wurden mit Dorsalen versehen, oft reich verzierten hölzernen Rückwänden. Baldachine bildeten den Abschluss nach oben.
Formen
Der französische Architekt Villard de Honnecourt zeichnete um 1240 exakte Aufrisse der üblichen hölzernen Zwischen- und Außenwände der Chorgestühle. Dazu vermerkte er: „Wenn Ihr in guter Arbeit eine reiche Chorstuhlwange machen wollt, so haltet Euch an diese.“[1].
Die Zwischenwangen, die die Bank in einzelne Sitze teilte, bestand aus einem größeren unteren Rechteck, über dem ein in der Form eines Viertelkreises angebrachte und in einem Handknauf endende hölzerne, niedrige Trennwand, in der auch das Klappbrett lief, zu einem kleineren Rechteck vermittelte. Der Knauf stellte zunächst eine Blattknole dar, später wurden auch figürliche Motive verwendet. Vor dem Wangenbrett befand sich zum Boden oft eine dünne Säule. Die einzelnen Sitze wurden mit Schulterringen (accoudoirs) versehen, die in die Armstützen auslaufen. Eine Besonderheit bildeten Chorgestühle in den Zisterzienserklöstern, da dort gemäß den Ordensregeln eine Zellenform beim Gestühl eingehalten wurde und die Zwischenwangen höher ausgeführt wurden. Somit bildete in diesen Kirchen jeder Sitz eine eigene, kleine Zelle für den jeweiligen Chorherren.

Dienten die Zwischnwangen in den meisten Ausführungen nur dem Zweck, die Sitze zu trennen und eine Armlehne zu bieten, wurden die Außenwangen überaus reichlich verziert und als Schmuckelement genutzt. Die hinteren Sitzbänke wurden mit so genannten “hohen Wangen” ausgestattet, aber auch die Außenwange der ersten Reihe wurde mit einer “Pultwange” genannten verzierten Auenwange versehen.
Die hinteren Außenwangen assen sich für die die Frühzeit in Deutschland in drei Formen unterscheiden, die in verschiedenen Landschaften verwendet wurden, nämlich die rheinisch-französische, offene Wange mit C- oder E-förmiger Volute sowie die mittel- und ostdeutsche, geschlossene Wange mit hoher Rückwand, dem Dorsal. Die Zisterziensergestühle wiesen hohe Zwischenwangen und die landschaftlich üblichen Außenwangen auf.
Die drei Formen existierten nebeneinander, ab Mitte des 14. Jahrhunderts verschmolzen sie miteinander und es entstanden neue Formen, die wiederum für bestimmte Landschaften typisch waren. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde auch in Süddeutschland ein besonderes Chorgestühl gebaut. im 15. und 16. Jahrhundert kamen zu den eigentlichen Chorgestühlen die Gestühle der Zünfte oder Ämter hinzu, die den Laien dienten und erstmals Sitzgelegenheit im Kirchenschiff boten; diese verwendeten Formen der Chorgestühle mit.
Rheinische Volutenwange
Die rheinische Volutenwange hatte Vorgänger in Frankreich und wurde später parallel zu diesen weiterentwickelt. De Honnecourt zeichnete zwei Varianten dieser Außenwange, beide zeigen die Ausprägung in der Form eines lateinischen "E". Im Xantener Dom wurden diese Skizzen um 1250 ausgeführt. Die rheinische Pultwange war meist mit einer liegenden Volute auf dem Wangenbrett verziert. Dem Bedürfnis nach weiteren prächtigen Verzeirungen entstammten dann die Varianten, die teilweise noch heute eexistieren. Die E-Volute wurde verdoppelt, vor die Öffnung der C-Volute eine kleine Säule gestellt (z. B. im Naumburger Dom), üppige Laubwerkverzierungen kamen hinzu. Aber auch figürliche Motive wurden eingefügt, wie in der Zisterzienserabtei Altenberg. Dass die Zisterzienserklöster im Rheinland im Schmuck des Gestühls den anderen Kirchen nicht nachstehen, obwohl es ein aus dem Jahr 1134 stammendes Verbot von Skulpturen und Bildern gab, ist teilweise noch heute zu sehen. Wegen der vorgeschriebenen Zellenform auch der Sitze befand sich aber auch bei Verwendung der rheinischen, offenen Wange jeweils ein Dorsal, meist mit Baldachin, an den sich die Wangen anschlossen.
Eingefügte Relieffelder an den niedrigen Abschlusswangen des Chorgestühls im Kölner Dom stellen eine weitere Sonderform der rhenischen Wange dar. Die Chorschranken über dem Gestühl sind mit einem Bilderzyklus versehen. Das um 1320/30 entstandene Gestühl trägt zudem viel Laubwerksschmuck mit darin agierenden Figuren.
Der rheinische Typ der Wangen wurde in der Zeit von ca. 1250 bis ca. 1330 verwendet. Nur wenige derartige Wangen sind außerhalb des Rheinlandes bekannt, zu ihnen zählt ein Dreisitz in der Zisterzienserabtei Schulpforte und eine Bank mit vier Sitzen im Naumburger Dom. Im Naumburger Dom wurde die Form sogar noch bis ins 16. Jahrhundert benutzt, wie an einem Gestühl im Stil der Renaissance im Ostchor zu sehen ist.
Geschlossene Wangen
Die geschlossenen Wangen entwickelten sich zeitlich parallel zu den offenen, jedoch räumlich begrenzt auf Ost- und Mitteldeutschland. Gestühle aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Kloster Loccum und im Havelberger Dom weisen einen Abschluss der Sitzreihe in Form von hohen, geschlossenen Brettern auf. Bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts wurden die geschlossenen "Stallen" (vom lateinischen "stallae", niederdeutsch "stolthe") nur mit Laubwerk verziert, hauptsächlich an den Außenseiten der Wangen. Die Pultwangen sind ebenfalls meist mit Blattornamneten versehen. Figürliche Motive werden erst etwas später verwendet, spärlich in der Klosterkirche Doberan, üppig um 1330 im Erfurter Dom.
Sonderformen
Infolge der Verschmelzung der rheinischen, offenen Form und der ost- und mitteldeutschen, geschlossenen Form entstanden zahlreiche Sonderformen.
An die Stelle der rheinischen Volutenwange trat die Fensterwange, bei der der obere Teil des Wangenbrettes in ein oder auch zwei Arkadenfelder mit flachen, reliefartigen Figuren geöffnet ist. Um 1360 wurde dieser Typ z. B. in St. Marien in Salzwedel verwendet, auch viele westfälische und niederrheinische Gestühle sind noch bis in die Spätgotik damit ausgestattet. Die Pultwangen sind meist mit frei sitzenden Figuren bekrönt, wie um 1360 in St. Marien in Salzwedel oder auch um 1430 im Stendaler Dom.
Eine weitere Sonderform ist zunächst im 14. Jahrhundert bei Kirchen der Westschweiz zu finden. Dort wurde auch das Dorsal mit Schmuck verziert, so mit Aposteln oder Propheten. Die Form wurde auch in einigen benachbarten Orten in Deutschland verwendet. Ein Dreisitz im Naumburger Dom trägt ebenfalls derartigen Schmuck, auch eine Bank im Merseburger Dom aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Das Hauptgestühl des Merseburger Doms wurde 1446 von Caspar Schoeckholz mit einem Bildband versehen, welches Szenen aus dem Alten und Neuen Testament enthält. Im selben Dom zeigt ein fünfsitziges Gestühl aus dem 16. Jahrhundert Heiligenfiguren, Stifter und Wappen im Dorsal.
Süddeutsche Sonderformen
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kamen in Süddeutschland, zunächst um 1469 im Ulmer Münster, Gestühlsformen auf, die Büsten, teilweise porträtartig, am Dorsal und am Baldachin verwenden, sogar die Pultwangen wurden mit Büsten geschmückt. Diese Form hielt sich bis zum Beginn der Renaissance. Bei den durch die Büsten dargestellten Personen handelte es sich um Personen aus dem Alten oder Neuen Testament, der Antike oder sogar um zeitgenössische Bürger. Die Büstenwange wurde außerhalb des süddeutschen Raumes nur noch im Halleschen Dom verwendet.
Umgestaltungen
Im Naumburger Dom wurden Chorgestühle nachträglich hinzugefügt, als der Bedarf stieg. Diese wurden im zeitgemäßen Stil ausgebildet und nicht den vorhandenen angepasst. Im Barock erst wurden die neuen Gestühle den alten nachempfunden. Der historisierende Sichtweise des 19. Jahrhunderts fielen viele Verzierungen, wie Misericordien oder Knäufe, zum Opfer.
Literatur
- Karl Bernhard Ritter, Art. Chorgestühl, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Auflage, I (1957), 1678f.
- Hannelore Sachs: Mittelalterliches Chorgestühl von Erfurt bis Stralsund, Verlag Lambert Schneider, Hamburg 1964.
- Dethard v. Winterfeld, Art. Chorgestühl, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Auflage, II (1999), 175f.
Quellen
- ↑ Hannelore Sachs: Mittelalterliches Chorgestühl von Erfurt bis Stralsund, S. 13