Meister Eckhart
Meister Eckhart (* um 1260 in Tambach (südlich von Gotha), † 1328 in Köln oder Avignon) war einer der bedeutendsten Theologen des christlichen Mittelalters.
Leben und Werk
Ein authentisches Bild von Meister Eckhart existiert nicht. Ebenso wenig eine überlieferte Handschrift. Auch bei seinen von fremder Hand aufgezeichneten Predigten und Traktaten ist die Zuschreibung nicht immer unumstritten. Dennoch lässt sich trotz zahlreicher Lücken in seiner Biografie Eckharts Lehre rekonstruieren.
Frühzeitig, wohl schon um 1275, tritt er in Erfurt in den Dominikanerorden ein. Um 1280 beginnt er ein insgesamt achtjähriges Studium am Studium generale der Dominikaner in Köln. Womöglich lernt er dabei noch Albertus Magnus kennen. Das Studium umfasst drei Jahre Unterweisung in den sieben freien Künsten, zwei Jahre Naturphilosophie nach der aristotelischen Physik und drei Jahre Theologie. 1293/1294 ist Eckhart Sentenzenlehrer in Paris und liest über die Sentenzen des Petrus Lombardus.
1294 wird er Prior des Erfurter Dominikanerklosters und Vikar seines Ordens für Thüringen. In dieser Zeit entstehen die "Reden der Unterweisung". 1302 lehrt er wieder in Paris, nun als Magister. In seinen "quaestiones parisienses" deutet sich erstmals der theologische Wandel von einer Substanzontologie zu einer Geistphilosophie an.
1303-1310 übernimmt Meister Eckhart die Leitung der neugebildeten Ordensprovinz Saxonia und nimmt als Provinzial seinen Sitz wieder am Erfurter Dominikanerkloster. In dieser Zeit entstehen u.a. zwei Predigten für die Generalkapitel in Toulouse und Piacenza, sowie die lectiones über Jesus Sirach, 24. Kap. In diesen Arbeiten wird die Geistphilosophie der quaestiones weiter entfaltet.
1311-1313 folgt ein zweites Magisterium in Paris, eine Auszeichnung, die zuvor nur Thomas von Aquin erfahren hat. Nun entehen die großen lateinischen Traktate: die Auslegungen zu den alttestamentlichen Büchern Genesis, Exodus und Weisheit sowie zum Johannesevangelium, ferner ein umfangreicher Corpus lateinischer Predigten.
1314 wird er Generalvikar des Dominikanerklosters in Straßburg, aus dieser Zeit entstammt ein Großteil seiner bekanntesten Schriften, der "Deutschen Predigten". 1322 übernimmt Meister Eckhart die Leitung seiner alten Ausbildungsstätte, des Studium generale in Köln. Dort erfolgt 1325 eine Denunziation durch Mitbrüder beim Kölner Erzbischof Heinrich von Virneburg wegen angeblich häretischer Glaubensaussagen. Eine Liste mit zunächst 49 inkriminierten Sätzen wird 1326 nach Überprüfung auf 28 reduziert. Um vor dem Scheiterhaufen bewahrt zu bleiben, erläßt Meister Eckhart 1327 vorsorglich einen öffentlichen Widerruf. Entweder auf einer Reise an den päpstlichen Hof zu Papst Johannes XXII. nach Avignon oder erst nach seiner Rückkehr nach Köln stirbt Meister Eckhart 1328. Einige Monate später, am 23. März 1329. erfolgt die abgestufte Verurteilung der inkriminierten 28 Sätzen durch die päpstliche Kurie.
Lehre
Gottesbild
Der Wandel von der Substanzontologie zur Geistphilosopphie bedeutet nichts weniger als eine Abkehr von der Lehre des Thomas von Aquin. Während bei Thomas Gottes Sein sein (Gottes) Denken begründet, ist das Verhältnis in den quaestiones umgekehrt: "deus est intellegere", Gottes Denken begründet sein Sein. In den Predigten vor den Generalkapiteln sowie in den lectiones zu Jesus Sirach differenziert Meister Eckhart diese Aussagen genauer aus. Das Sein steht nun nicht mehr im Unterschied zu dem Denken Gottes, sondern ist integrativer Bestandteil: deus est esse.
Der Hintergrund für diese Überlegungen war ein grundsätzliches Problem der scholastischen Theologie: Wie kann der moralische Gott mit dem Schöpfergott zusammengehen? Oder anders gefragt: Wie hat sich der die Welt begründende Gott als Ursache der Schöpfung selbst begründet? Welche Rolle hatte Gott, der erst im Selbstbezug zu dem wird, was er sein soll, zuvor eingenommen? War er, wie Thomas von Aquin geglaubt hat, eine starre, ursächliche Substanz?
Kritische Anfragen an Thomas waren bereits bei Dietrich von Freiberg laut geworden. In den quaestiones von Eckhart ist Gott jemand, der die Weltphänomene produziert, indem er aus sich herausgeht und das andere auf sich zurückbezieht. Gott ist ein eigener Denkvollzug, der seine weltschöpferische Natur freisetzt, ein allumfassendes Denken als Grundlage geschöpflichen Seins, ein Allgrund, der von aller Bestimmung frei ist. Der Schöpfungsvorgang ist bei Eckhart eine unendliche Selbstdifferenzierung.
Da Gott im Jetzt schafft, kann er mit der Schöpfung nicht aufgehört haben, d. h. andererseits, er kann niemals nicht geschaffen haben. "Es gibt da kein Werden, sondern ein Nun, ein Werden ohne Werden, ein Neusein ohne Erneuerung, und dieses Werden ist Gottes Sein", sagt Eckhart in Predigt 50. Ein tragendes Element in Eckharts Gottesbild ist die "Dynamik des ewig aus sich fließenden und in sich zurückfließendes Gottes" (N. Winkler).
Gott-Mensch-Verhältnis
In seinem "Buch der göttlichen Tröstung" schreibt Eckhart: "Gott hat die Welt in der Weise erschaffen, dass er sie immer ohne Unterlass erschafft. Alles, was vergangen und was zukünftig ist, das ist Gott fremd und fern. Und darum: Wer von Gott als Gottes Sohn geboren ist, der liebt Gott um seiner selbst willen, das heißt: er liebt Gott um des Gott-Liebens willen und wirkt alle seine Werke um des Wirkens willen."
Das dynamische Gottesbild Eckharts überträgt sich also auf den Menschen. Der Mensch ist daher gefordert, ein "homo divinus" zu sein, ein göttlicher, d. h. ein geistbestimmter Mensch. Dem geistbestimmten Menschen ist es gegeben, sich Gott vernunftgesteuert zurückzuwenden, sich in Gott so umfänglich zu erneuern, dass er den alten, irdisch bestimmten Menschen abstreift und den Status eines neuen, sich an Gott orientierenden Menschsein erwirbt. Der wahre Christ ist bei Eckhart jemand, der sich Gott in jeder Handlung permanent vergegenwärtigt.
Gottesgeburt in der Seele
Das Hauptthema in den Predigten Eckharts ist die Lehre von der Gottesgeburt in der Seele. Das Verhältnis von Gott und Seele nennt Eckhart "univok", d. h., gleichartig. Gott und Seele sind zwei Dinge, und doch dasselbe.
Eckhart gebraucht hierzu in Predigt 82 das Bild vom Feuer, das das Holz "sich selbst, dem Feuer, mehr und mehr gleich" macht, "bis dass das Feuer sich in das Holz gebiert und ihm seine eigene Natur und sein eigenes Sein übermittelt."
Die Gottesgeburt geschieht nicht im Sinne einer mystischen Entrückung, sondern beruht auf der Ansicht, dass der Intellekt seiner Natur inne wird, wenn er den göttlichen Grund in sich freilegt. Bei Thomas von Aquin ist der Geist mit dem Körper und der Sinnlichkeit verbunden, der Mensch ist daher unvollkommenes Abbild Gottes; es gibt keine vollständige Einheit zwischen Gott und menschlichem Intellekt. In der scholastischen Tradition des Anselm von Canterbury folgert Thomas daraus, dass nur eine außergeistige Kraft, die Gnadengabe Gottes, fähig ist, der Unvollkommenheit des Menschen abzuhelfen.
Ganz anders hingegen Eckhart: Nach seiner Auffassung bildet sich Gott im Intellekt vollständig ab, weil Gott in einem permanenten Schöpfungsakt (s.o.) ohne Unterlass seinen Sohn im Menschen gebiert. Die zentrale Frage Anselms von Canterbury: "Cur Deus homo? / Warum wurde Gott Mensch?" beantwortet Eckhart so: "Darum, dass ich als derselbe Gott geboren werde."
Es kann nicht genug betont werrden, dass es sich hierbei um eine gegenüber der Scholastik neue und radikale Sichtweise des Christentums handelt. Ihr gegenüber nimmt sich die Reformation Martin Luthers, die im scholastischen Rechtfertigungsdenken verhaftet bleibt, nach einem Diktum Egon Friedells wie "kleinliches Mönchsgezänk" aus.
Als wichtige Voraussetzung für die "Gottesgeburt in der Seele" muss der Mensch gelassener werden. Er gewinnt den Zustand der Gelassenheit nur in der Überwindung verdinglichter Denk- und Handlungsstrukturen, in der Aufgabe aller Weltbindungen. Erst der gelassene Mensch ist der Sohn Gottes: "Dieser Mensch", sagt Eckhart, "muss sich selbst und diese ganze Welt gelassen haben."
Gelassenheit ist nur durch eine uneingeschränkte Selbsterkenntnis zu erzielen. Einzig im Erkennen vermag der Mensch zum Grunde seiner selbst, zum göttlichen Grund durchzubrechen. Dazu muss der Mensch höchst aktiv sein und wie Gott aus seinem Inneren tätig werden. In Predigt 5A sagt Eckhart einen seiner entscheidenden Sätze: "Was ist mein Leben? Was von innen heraus bewegt wird."
Wirklich gelassen ist derjenige, der seinen Eigenwillen aufgegeben hat und durch sich Gottes Willen wirken lässt. Er muss in radikaler Weise darauf abzielen, auch in seinem Inneren nicht zu wollen. Der Zweck des menschlichen Daseins ist bei Eckhart Gott in seinem Wesen zu gewinnen, das Leben aus Gott als den reinen Selbstzweck zu begreifen.
Ethische Folgerungen
Die Forderung nach Gelassenheit hat, wie Eckhart selbst immer wieder betont, weitreichende Konsequenzen für das moralische Tun. Es findet seinen Zweck in sich selbst, wenn der Mensch den göttlichen Selbstzweck zu seiner inneren Haltung macht. Eckharts Ethik ist keine Verhaltensethik, sondern eine Haltungsethik (D. Mieth). Die Grundlage für ethisches Handeln ist die Einsicht, nicht eine normative Vorschrift. Denn der Mensch besitzt aus Gott eine moralische Autonomie.
Eine Problematik, die sich aus dieser Auffassung ergibt, hat Eckharts Schüler Heinrich Seuse deutlich erkannt und zu seinem Thema gemacht: Bei Eckhart ist das Verständnis des göttlichen Ichs an einen Erkenntnisoptimismus gebunden. Seuse betont hingegen die Irrtumsfähigkeit des Menschen als ein schwerwiegendes Problem.
In der Ethik Eckharts spielen drei Begriffe eine zentrale Rolle: Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Sünde.
Nächstenliebe ist der Wandel von einem eigennützigen zu einem uneigennützigen Leben als unmittelbare Folge von Gelassenheit.
Die Grundlage der Nächstenliebe ist die Gerechtigkeit. Hierunter versteht Eckhart keine Verhaltensgerechtigkeit, sondern den Wandel von einer Haltung des Gebens zu einer Haltung des Empfangens: Gerecht ist derjenige, der alle Dinge gleich empfängt, der mit Gelassenheit den Willen Gottes in allem, was ihm widerfährt, hinnimmt. Nur dann ist der Mensch zu einem gerechten Handeln in der Lage, wenn er mit Gott eines Sinnes ist und die göttliche Gerechtigkeit im Inneren angenommen hat.
In seiner Sündenlehre gibt Eckhart das Wiedergutmachungsdenken der scholastischen Theologie (satisfactio), auf das Luther sich noch bezieht, völlig auf. Die Bedeutung des stellvertretenden Leidens von Christus und den Märtyrern, die eine zentrale Rolle bei Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin spielt, kommt in Eckarts Schriften überhaupt nicht vor. Sünde ist bei Eckhart eine willentliche Abkehr von Gott. Sie ist aufgehoben, wenn sich der Mensch im Sinnes des "gelassenen Menschen" wieder Gott zugewandt hat, wenn er seinen Eigenwillen aufgegeben hat, um mit Gott ganz eines Willens zu sein. Eine weitere Korrektur menschlichen Verhaltens, etwa durch Strafe, ist von Gott hingegen nicht gefordert. Es geht bei Eckhart nicht darum, ob jemand schuldig ist, sondern darum, wie der Mensch individuell mit seiner Schuld umgeht.
Literatur
Eine ansprechend gestaltete Zitatesammlung findet sich hier.
Eine vorzügliche Einführung auf aktuellem Wissensstand bietet:
- Norbert Winkler: Meister Eckhart zur Einführung. Hamburg 1997, ISBN 388506944X
Um Meister Eckhart selbst zu lesen, bietet sich an:
- Meister Eckhart: Deutsche Predigen, hrsg. v. Louise Gnädinger. Zürich 2002 (Lesetipp: Predigt 6, S. 57-67, die sehr klar Eckharts Lehre wiedergibt), ISBN 3717519336