Opfer der NS-Militärjustiz
Als Opfer der NS-Militärjustiz gelten Personen, die von Gerichten im 3.Reich entgegen rechtsstaatlicher Prinzipien (reine NS-Tatbestände, Rechtsbeugung) verurteilt wurden, während sie einer militärischen Einheit angehört haben. Dazu zählen auch Militärgerichte, Feldgerichte und Ersatzgerichte. Folgende Tatbestände werden dazugezählt:[1]
- Kriegsdienstverweigerung
- Desertion / Fahnenflucht
- Unerlaubte Entfernung (Militär)
- politische Delikte
- Selbstverstümmelung
- Widersetzlichkeitsdelikte
- wehrkraftzersetzende Äußerungen
- Eigentumsdelikte
- Fälschungsdelikte
- Gewaltdelikte
Diese Delikte sind fast immer kombiniert. Diese Kategorisierung hat zum Ziel, eine Vermengung der Tatbestände und dadurch undifferenzierte Betrachtung der Tatbestände (v.A. Desertion), entgegenzuwirken.
Allgemeines
Die NS-Militärjustiz verurteilte etwa 1,5 Millionen Soldaten in ihren insg. etwa 1300 Gerichten. Sie verurteile rund 30.000 Soldaten zu Tode; vollstreckt wurden rund 23.000. [2] Bei Nichtanwendung des Todesurteils waren Bewährungskompanien und Strafarbeitslager als Strafen vorgesehen – erstere konnten einem Todesurteil nahe kommen (schlechte Verpflegung, Minenentschärfung, unbewaffnet). Es sei hier auf die schwierige Datenlage hingewiesen: Ab 1944 führte die Wehrmacht keine Statistiken mehr. Die Mehrzahl der Unterlagen soll bei Bombenangriffen verloren gegangen sein. Die vor 1990 kolportierte Zahl von rund 100.000 Fahnenflüchtigen wird von aktuellen Forschungsprojekten angezweifelt [3]
Die Verfahren der NS-Militärjustiz entsprachen anfangs formal rechtsstaatlichen Anforderungen: Recht auf Verteidiger [4], Beweisantragsrecht (Entlastungszeugen), Überprüfung des Urteils, Gnadenantragsrecht, Möglichkeit des Wiederaufnahmeverfahrens usw. Zur Unrechtsjustiz wird die NS-Militärjustiz dann, wenn NS-Unrecht die Verfahrensgrundlage war (z.B. „Wehrkraftzersetzung“). Grundlage der Wehrmachtsjustiz war das Militärstrafgesetzbuch (MStGB) von 1926 welches 1935 und 1940 grobe Änderungen erfuhr, die unter anderem das Analogieverbot außer Kraft setzte, damit waren alle "eventuell noch vorhandene Reste eines rechtsstaatlichen Prinzips aus dem Wehrmachtsstrafrecht (eliminiert)". [5] Die in Armeen demokratischer Staaten strafbare Fahnenflucht lässt sich im NS-Staat durch seine Intentionen, Praktiken und Absichten rechtfertigen (verbrecherischer Angriffskrieg, systematische Vernichtung bestimmter Gruppen, etc). Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass sich die Meinung vieler Juristen und Politiker nach dem 1.Weltkrieg, demnach der inkonsequente Umgang mit Deserteuren im 1.Weltkrieg zur Niederlage der Deutschen geführt hat, in der harten Urteilspraxis der NS-Militärrichter niedergeschlagen hat. [6]
Beispiele für die rechtliche Problematik:
1) Wehrmachtssoldat A soll sich in Russland an der Erschießung von Zivilpersonen oder Kriegsgefangenen ("Kommissarbefehl") beteiligen (Kriegsverbrechen); er begeht deswegen Fahnenflucht; B und C von der Gestapo wollen ihn festnehmen (d.h. ihm droht die Todesstrafe); A erschießt B und C. Ergebnis: A hat sich nicht strafbar gemacht, wegen der Fahnenflucht ohnehin nicht, aber auch nicht wegen der Erschießung der beiden Gestapobeamten. Denn: Der Befehl war rechtswidrig, die Fahnenflucht somit rechtmäßig, der Festnahmeversuch durch B und C daher rechtswidrig, die Erschießung von B und C durch A daher rechtmäßig (vgl. Fall bei Radbruch, 1947).
2) Aber: Soldat D erschießt, ohne anerkennenswerten Rechtfertigungsgrund, 1945 den Vorgesetzten E, um Fahnenflucht begehen zu können. Ergebnis: Strafbarer Totschlag (vgl. LG Köln 1953: 10 Jahre Gefängnis wegen Totschlags).
Desweiteren gibt die Dimension der Todesurteile einen Eindruck des Unrechts in der NS-Militärjustiz. Im 1. Weltkrieg sind zum Tode verurteilt worden:
- * In Großbritannien: 3080, davon 346 vollstreckt.
- * In Frankreich: ca. 2000, davon ca. 660 vollstreckt.
- * In Deutschland: 150, davon 48 vollstreckt.
Im 2. Weltkrieg sind zum Tode verurteilt worden:
- * In Großbritannien: 40 Todesurteile vollstreckt.
- * In Frankreich: 102 Todesurteile vollstreckt.
- * USA, Großbritannien und Frankreich insgesamt ca. 300 vollstreckte Todesurteile.
- * In Deutschland (nur heeresinterne NS-Militärjustiz): ca. 30.000, davon ca. 23.000 vollstreckt. [7]
Bei den vorstehenden Vergleichen sei auf die unklare Datenlage hingewiesen sowie die unscharfe Unterscheidung zwischen Justiz und Militärjustiz.
Geschichtliche Entwicklung
Deutschland
Nach einem entsprechenden Urteil des Bundessozialgerichts hat der Bundestag mit Stimmenmehrheit SPD/Grüne im Mai 1997 beschlossen, dass die von der NS-Militärjustiz seit dem 1.9.1939 verurteilten Wehrmachtssoldaten pauschal mit 7.500 DM pro Fall entschädigt werden können. Entschädigungsanträge konnten (allerdings nur), so der entsprechende Erlass des Bundesministeriums der Finanzen, bis zum 31.12.1999 gestellt werden [8]. Da sich nach einem halben Jahrhundert keine Untersuchungen mehr über jede einzelne Desertion anstellen ließen, sollten hier die Opfer der Wehrmachtsjustiz "deklaratorisch" mit 7.500 DM pro Fall entschädigt werden. Davon ausgeschlossen waren Fälle, die auch heute strafbar wären. (vgl. z.B. Wehrstrafgesetz)
Keine Entschädigungsansprüche waren somit z.B. bei den beiden vieldiskutierten Filbinger-Todesurteilen kurz vor Kriegsende gegeben: Erschießung des Vorgesetzten und Fahnenflucht bzw. Fahnenflucht und Meuterei. [9] D.h. Verurteilungen wegen Fahnenflucht an sich sind NS-Unrecht (verbrecherischer Angriffskrieg) und waren zu entschädigen, ebenso wegen reinen NS-Tatbeständen (z. B. „Wehrkraftzersezung“, also Äußerungen wie etwa „Hitler ist verrückt und der Krieg ist verloren“).
Kritik am Umgang in Deutschland
- Die NS-Wehrmachtsjustiz - und die etwaige Entschädigung ihrer Opfer - war jahrzehntelang in Westdeutschland wie auch in Österreich kein Thema für Justiz und Rechtswissenschaft. In der Bundesrepublik begann das öffentliche Interesse erst, als 1978 der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger - von 1943 bis Kriegsende Marinerichter und an sechs Todesurteilen "beteiligt" - deswegen zurücktreten mußte. Allerdings wurde Filbinger nach überwiegender Auffassung diesbezüglich rehabilitiert Quelle für diesen Satz?. Weiters spielten Anfang 1980 diverse Initiativen zur Errichtung von Denkmälern für NS-Deserteure (vor dem Hintergrund der Antikriegsbewegung) eine wichtige Rolle [10].
- Das eigentlich Beschämende an der Entschädigung der Opfer der NS-Militärjustiz ist die Tatsache, dass dies so spät geschah (ab Mai 1997) und - so das Bundesministerium der Finanzen - nur bis 31.12.1999 möglich war.
- Die Entschädigungszahlungen waren an eine Einzelfallprüfung gebunden. Die Motivation nach einem halben Jahrhundert beweisen zu können, stellt sich als unmöglich dar, zumal Gerichtsakten zumeist fehlen oder durch die falsche Zeugenaussage vor dem NS-Militärgericht nicht heranzuziehen sind.
- Die Urteile/Gesetzgebung machen einen Unterschied zwischen Akten der Desertion, die als hehre, politische Widerstandsaktion gewertet werden, und solchen, die zuvor und später auch strafbar waren („Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!“). Diese Auslegung fixiert sich auf die Formulierung des Straftatbestands und blendet die Umstände und (Nicht-)Verfahren aus, mit denen eine Desertion 1933 bis 1945 geahndet wurde; nämlich nach Hitlers pragmatischer Ansage in "Mein Kampf": „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben“ - woran allerdings kein Jurist zwingend gebunden war. Die NS-Militärjustiz als solche wird als Unrechtsjustiz angesehen.
Österreich
Nach dem Krieg wurden in Österreich bestimmte Opfergruppen anerkannt. Diese bildeten Opferverbände, die gesetzlich Mitbestimmungsrechte erlangten. In der Tradition des reinen Rechtspositivismus entstand 1945 das „Aufhebungs- und Einstellungsgesetz“, welches alle NS-Urteile gegen Österreicher aufhob. Diese allgemeine Amnestie wurde aber dadurch eingeschränkte, dass Urteile im Militärbereich nur dann aufgehoben wurden, wenn sie „gegen die nationalsozialistische Herrschaft oder auf die Wiederherstellung eines unabhängigen Staates Österreich gerichtet war[en]“. Da die Erbringung eines solchen Nachweises für oben aufgeführte Tatbestände bis auf Einzelfälle unmöglich ist, blieben die Urteile dieser Gruppe aufrecht. Als Konsequenz hatten sie gewisse versorgungsrechtliche Nachteile, vor allem weil die Haftzeiten nicht für die Pensionsberechnung anrechenbar waren.
Im Jahr 2005 wurden alle Urteile durch das Anerkennungsgesetz aufgehoben und Deserteuren oder deren Nachkommen eine einmalige Unterstützung eingeräumt. Diese umfasst eine aufwändige Einzelfallprüfung.
Kritik am Umgang in Österreich
- Durch die gesetzlichen Unschärfen entstand der Zustand, dass Soldaten, die aus der Wehrmacht desertierten und wieder gefangen und verurteilt worden waren, keine Möglichkeiten der Pensionsanrechnung hatten, der SS-Wärter, der sie bewachte, hingegen schon.
- Die in der Moskauer Deklaration (1943) ihren Ursprung findende These, Österreich sei das erste Opfer des zweiten Weltkriegs, verhinderte eine in die breite Bevölkerung getragene Debatte über Desertion. Deserteure und deren Familien lebten jahrzehntelang im Glauben, ihre Tat sei Unrecht gewesen.
- Die Debatte um die Anerkennung von Deserteuren im Jahr 2005 wurde von der Diskussion über Anerkennung für „Trümmerfrauen“ überschattet. Durch die Einzelfallprüfungen ist eine Zuerkennung fast unmöglich, da keine Dokumente vorhanden sind.
Denkmäler
(für Denkmäler zu den speziellen Tatbeständen: siehe Links bei den Tatbeständen)
in Österreich:
- Gedenktafel für die Opfer der NS-Militärjustiz im Wiener Donaupark-Kagran, gestiftet von der Stadt Wien und dem Bundesministeriums für Landesverteidigung im Jahr 1984. Aufschrift: "In den Jahren der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft 1938-1945 wurden in un-mittelbarer Nähe zahlreiche österreichische Freiheitskämpfer aus den Reihen der Wehr-macht erschossen. Unter den Opfern, die hier hingerichtet wurden, waren auch Angehörige der Wiener Feuerwehr. NIEMALS VERGESSEN !"
Es gibt in Österreich nur diese eine Gedenktafel die aller Opfer der NS-Militärjustiz gedenkt. Liste von anderen NS-Gedenkstätten in Wien
Quellenangaben
- ↑ Vgl. Fritsche, Maria: Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit. In Manoschek, Walter: Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003. S. 80-103. Hier: S. 81.
- ↑ vgl. Messerschmidt/Wüllner: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Baden-Baden, 1987, S.15, S.49-51, S.87+91. Zit. nach Walter, Thomas: Schnelle Justiz - gute Justiz? in: Manoschek, Walter: Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003. S.27f.
- ↑ vgl. Manoschek, Walter: Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003.
- ↑ vgl. Güstrow: Gefährlicher Alltag. Strafverteidiger im Dritten Reich, 1981
- ↑ Walter, Thomas: Schnelle Justiz - gute Justiz? in: Manoschek, Walter: Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003. S.28.
- ↑ Manoschek, Walter: Die nationalsozialistische Militärjustiz als Terrorinstrument gegen innere und äußere Gegener. Manoschek, Walter (Hg.): Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003. S.16-27. Hier: S. 17.
- ↑ Walter, Thomas: Schnelle Justiz - gute Justiz? in: Manoschek, Walter: Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003. S.27.
- ↑ Oberfinanzdirektion Köln, Riehler Platz 2, 50668 Köln
- ↑ Im ersteren Fall hat das Landgericht Köln 1953 zehn Jahre Gefängnis wegen Totschlags verhängt (Spiegel, Nr.28/10.7.1978, S.27).
- ↑ Metzler, Hannes: Ehrlos für immer ? Wien, 2007. S. 195.
Literatur
für Deutschland:
- Absolon, Rudolf: Das Wehrmachtsstrafrecht im 2. Weltkrieg, Kornelimünster 1958.
- Friedrich, Jörg: Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Reinbek bei Hamburg, 1983. (S.133 ff: Kriegsgerichte).
- Güstrow, Dietrich: Gefährlicher Alltag. Strafverteidiger im Dritten Reich, ? 1981.
- Heldmann, Philipp: Filbinger: Auch Entlastendes berücksichtigen, Tauber Zeitung (Bad Mergentheim), 25.4.2007.
- Messerschmidt, Manfred/Wüllner, Fritz: Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987.
- Müller-Münch, Ingrid: Kölner Gericht spricht Deserteur frei, Frankfurter Rundschau, 23.12.1997.
- Neues Deutschland, 25.11., 23.12.1998 (Entschädigungsanträge).
- Schnackenberg, Martin: Ich wollte keine Heldentaten mehr vollbringen: Wehrmachtsdeserteure im II. Weltkrieg. Motive und Folgen untersucht anhand von Selbstzeugnissen. Oldenburg, 1997.
- Schneider, Egon: Jüdische Rechtsanwälte - deutsche Soldaten. In: Monatsschrift für deutsches Recht. o.O., 1991. S.1124-1126.
- Wüllner, Fritz: Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. o.O., 1991.
- Wüllner, Hermine (Hrg.): "...kann nur der Tod eine gerechte Sühne sein". Todesurteile deutscher Wehrmachtsgerichte, Baden-Baden 1997.
für Österreich:
- Manoschek, Walter: Opfer der NS-Militärjustiz. Wien, 2003.
- Metzler, Hannes: Desertion im Hohen Haus. Die Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht ; ein Vergleich von Deutschland und Österreich unter Berücksichtigung von Luxemburg. Dipl.-Arb. Uni Wien, 2006.
Opferverbände und Initiativen
für Deutschland:
- Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz
- http://fami.oszbueroverw.de/deserteure/index.htm
für Österreich:
- Personenkomitee “Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz”
- Deserteurs- und Flüchtlingsberatung Wien
- Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW)