Kaste
Der Begriff Kaste (portugiesisch: casta = Kiste, Schublade, im übertragenen Sinn auch Geschlecht, Stamm) wird in der Soziologie und - entlehnt - in der Biologie benutzt.
Soziologie / Ethnologie
Der Begriff "Kaste" wird in erster Linie mit einem aus Indien bekannten soziologischen Phänomen assoziiert. Allerdings wird dieses "Kastensystem" von westlichen Soziologen oft mißverstanden, die dabei zwei völlig unterschiedliche Dinge "in einen Topf" (in eine Schublade) werfen, nämlich
1. Die Zugehörigkeit zum Warn[a]
2. Die Zugehörigkeit zur Jati.
1. Warn bedeutet wörtlich "Farbe". Traditionell nimmt man an, daß damit die Hautfarbe gemeint war, wobei die Kaste desto höher war, je heller die Haut war, worin sich die Rassenzugehörigkeit verschiedener Einwanderer- bzw. Erobererwellen wiederspiegele. Eine jüngere Schule nimmt an, daß die Bezeichnung eher von der Gesichts- und Körperbemalung der einzelnen Warnen herrührte. Wie es tatsächlich war, läßt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen.
2. Das System der Jati entspricht im soziologischen Sinne weitgehend dem Ständesystem im mittelalterlichen Europa, ist aber durch seine religiösen Konnotationen als noch rigider anzusehen.
Die Kastenzugehörigkeit des Individuums wird durch die Geburt bestimmt, wobei Ein- oder Austritt theoretisch nicht möglich sind. (Allerdings kann in der Praxis ein Mitglied aus seiner Kasten ausgeschlossen werden, was in etwa der mittelalterlichen Exkommunikation im christlichen Abendland entspricht; ebenso sinkt ein Mitglied in die Kaste eines niedrigeren Ehepartners ab, und zwar unabhängig davon, ob es sich um den Mann oder die Frau handelt.) Die Jati dient neben der beruflichen auch der ethnischen, sozioökonomischen und kulturellen Differenzierung; sie verbindet eine Volksgruppe durch besondere, gemeinsame, sittliche Normen und strenge Heiratsordnung, bei mehr oder weniger strenger Abschließung gegenüber anderen Jatis. Die Jati ersetzt die in westlichen Ländern verbreiteten Sozialversicherungs-Systeme (Krankenversicherung, Invaliditätsversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung); während die letzteren schon nach wenig mehr als einem Jahrhundert vor dem Kollaps stehen, hat sich die Jati als solche schon seit Jahrtausenden bewährt, weshalb in Indien niemand ernsthaft an ihre Abschaffung denkt.
Die soziale Mobilität innerhalb der Jati ist gering bis inexistent; jedoch können bestimmte Jatis als ganze "aufsteigen", wie dies im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Einfluß der britischen Kolonialherrschaft vor allem den Kaufmanns- und Schreiber-Jatis gelungen ist. In der Praxis kommen auch Abspaltungen sozial höher oder niedriger rangierender Teilpopulationen mit Bildung neuer Jatis vor.
Die Kastenzugehörigkeit hat Auswirkungen auf das gesamte Leben eines Individuums. Sie bestimmt u.A. die Partnerwahl und die Berufswahl.
Das Kastenwesen ist insbesondere bei den kurdischen Jezidi, in Indien, Sri Lanka, Nepal und Bali verbreitet.
Indien und Shri Lanka
In Indien existieren, wie eingangs dargelegt, zwei verschiedene "Kasten"-Systeme. Das System der Warnen ist religiös begründet, nämlich auf den Mythos vom ersten (Riesen-)Menschen, aus dessen Körperteilen die einzelnen Warnen entstanden (der erste aus dem Kopf, der zweite aus den Armen, der dritte aus den Schenkeln, der vierte aus den Füßen). Danach unterscheidet man in der Sozialordnung von oben nach unten den
- Brahmana (Priester, Gelehrter)
- Kshatriya (Krieger, höherer Beamter)
- Vaishya (Landwirt, Kaufmann, Händler)
- Shudra (Knecht, Dienstleistender),
Die Brahmanen betrachten sich als den einzigen "reinen" Warn und alle anderen als "vermischt", also bastardisiert. Die ersten beiden Warnen machen heute nur noch ca. 10% der Bevölkerung Indiens aus. Die ersten drei Warnen betrachten sich als "Zweimalgeborene" (dwija), obwohl auch die Shudren nach allgemeiner Auffassung wiedergeboren werden. Die Zugehörigkeit zum ersten Warn war auch eine Frage der Bildung, d.h. der Kenntnisse der Weden. Man unterschied zwischen "Chaturwedi" (die - theoretisch - alle vier Weden studiert hatten), "Triwedi" (drei Weden) und "Dwiwedi" (zwei Weden); heute sind dies nur noch Kastennamen. Allerdings ist die Bildung weiterhin ein wichtiges Abgrenzungkriterium des ersten zu den übrigen Warnen: Das Studium der Weden betrachten sie nicht nur als ihre Pflicht, sondern auch als ihr (Vor-)Recht, die Weitergabe dieses Wissens an Außenstehende ist tabuisiert. (Wer dennoch darüber verfügt, wird automatisch als Hindu und Brahman angesehen, ohne daß es einer "Konvertierung" im christlichen Sinne bedarf; diese Fälle sind allerdings extrem selten.)
Auch die o.g. Berufszuordnungen sind weitgehend nur noch theoretischer Natur: Lediglich ein Bruchteil der Brahmanen ist heute Priester (beliebt sind die Brahmanen dagegen als Köche in besseren Restaurants, da die Oberschicht keine von Niederkastigen zubereiteten Speisen essen würde), nur wenige Kshatriyen sind Soldaten (die meisten Berufsoffiziere wurden - jedenfalls bis zur Ermordung Indira Gandhis 1984 - von den Sikhs gestellt). Die Berufszugehörigkeit wird vielmehr durch die Jati bestimmt. Allerdings dienen die Jatis nicht allein der beruflichen Zuordnung, sondern auch der sozialen und ethnischen. Sie unterschieden sich innerhalb Indiens je nach Region ganz erheblich, so daß z.B. eine Heirat zwischen dem Panjab und Bengalen trotz theoretisch "gleichwertiger" Jati bei Befolgung der traditionellen Vorschriften praktisch ausgeschlossen ist.
Die westlichen Vorstellung von "Kastenlosen" ("Paria" oder "Pariah") beruhen weitgehend auf Mißverständnissen, die vor allem von unwissenden Ausländern verbreitet werden. Dabei ist in erster Linie das Indienbuch des französischen Abbé Dubois zu nennen, das bis heute immer wieder kritiklos abgeschrieben wird, wiewohl es schon bei seiner Entstehung vor rund zwei Jahrhunderten überholt war. (Der französische Geistliche betrachtete das indische Kastenwesen als Teufelswerk und bemühte sich gar nicht ernsthaft, ihm gerecht zu werden.) Eine verhängnisvolle Rolle spielten aber auch halbgebildete, verwestlichte Inder; hier ist an erster Stelle Mahatma Gandhi zu nennen, dem als Angehörigen einer kleinen Gewürzhändler-Jati echte hinduistische Bildung verschlossen war, schon mangels einschlägiger Sprachkenntnisse. (Sein falsches Verständnis von Sanskrit-Wörtern wie Ahimsa oder Satyagraha hat sich im Westen und bei westlich "gebildeten" Indern heute durchgesetzt.)
Echte "Kastenlose" gibt es kaum - die Ausstoßung (die aus allen Kasten möglich ist, nicht nur aus den unteren) als häufigster Fall ist meist durch eine Reinigungszeremonie (der christlichen Sühne vergleichbar) reversibel, führt also nur zu einer Kastenlosigkeit auf Zeit. Zu den Kastenlosen zählten z.B. auch Indira Gandhi nach ihrer Heirat mit einem Parsen sowie ihr Sohn Rajiv Gandhi durch seine Heirat mit der gebürtigen italienischen Katholikin Sonia. Die sogenannten "Unberührbaren" sind meist Angehörige der niedrigsten Kasten bzw. Unterkasten, deren es über 3.000 gibt. Die Tendenz von Kasten, sich aufzuspalten, wobei Einzelgruppen relativ 'nach oben' zu rücken trachten, wird in der indischen Soziologie als sanscritization bezeichnet.
In Shri Lanka wird die Kastenzugehörigkeit nicht nur von der tamilischen Bevölkerungsgruppe beachtet, sondern auch von den buddhistischen Sinhalesen, wie es überhaupt ein westliches Mißverständnis ist, da der Buddhismus die Abschaffung der Kasten zum Ziel gehabt habe. Dieses Mißverständnis ist vor allem durch die von Dr. Ambedkar gegründete "neo-buddhistische" Bewegung der "Daliten" gefördert worden.
Auch die christlichen und muslimischen Inder z.B. in Kerala haben sich ein ausgeprägtes Bewußtsein ihrer Kastenzugehörigkeit bewahrt. Die vier Hauptkasten der indischen Muslime lauten Shekh, Khan, Beg und Saiyad (auch Säyäd oder Sayid).
Lateinamerika
Analog zum indischen Kastensystem bezeichnete man auch im kolonialen und nachkolonialen Lateinamerika die Angehörigen verschiedener Hautfarben und dementsprechender sozialer Differenzierung als Kasten. Siehe: Krieg der Kasten
Biologie
Im biologischen Sinne stellt eine Kaste eine funktionell, vielfach auch morphologisch spezialisierten Form einer sozial im Verband eines Tierstaates lebenden Tierart dar.
Eine Kastenbildung findet man z.B. bei Ameisen, Termiten und Bienen. Bei Säugetieren ist eine Kastenbildung bei den Nacktmullen verwirklicht. Der Begriff ist dem soziologischen Kastenbegriff entlehnt. Das Kastenwesen wird durch Pheromone gesteuert.
Biologische Kasten sind zum Beispiel:
- Königinnen
- Männchen
- Arbeiterinnen
- Soldatinnen
- Brutpflegerinnen
- Sammlerinnen