Zum Inhalt springen

Die Vermessung der Welt

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 19. April 2007 um 21:55 Uhr durch Gaston76 (Diskussion | Beiträge) (Erzählweise). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Die Vermessung der Welt ist ein zuerst 2005 auf Deutsch erschienener Roman von Daniel Kehlmann. Thema ist die fiktive Doppelbiografie des Mathematikers Carl Friedrich Gauß (1777–1855) und des Naturforschers Alexander von Humboldt (1769–1859). Der Roman erreichte in Deutschland schon bald die vordersten Plätze der Bestsellerlisten.

Inhalt

Der Roman beginnt 1828 mit einer Reise Gauß', des „Fürsten der Mathematik“, von Göttingen nach Berlin zum Deutschen Naturforscherkongress, wohin ihn Humboldt eingeladen hat. Von dieser Reise an stehen die beiden Wissenschaftler in Korrespondenz miteinander und tauschen sich über ihre Projekte aus.

In diese Rahmenhandlung eingebunden sind die kapitelweise abwechselnd chronologisch erzählten Lebensläufe von Gauß und Humboldt, beginnend mit ihrer Kindheit, sich ausbreitend über ihre vielfältigen Entdeckungen und endend mit ihrem reifen, durch die Einsicht in ihre schwindenden Kräfte gesäuerten Alter. Beide waren zeitweilig auch als Landvermesser tätig, was dem Romantitel eine zunächst ganz praktische Bedeutung gibt. Die beiden Hauptfiguren Gauß und Humboldt haben jeweils eine Ergänzungsfigur neben sich, Gauß seinen Sohn Eugen und Humboldt den Assistenten Aimé Bonpland, die wie die von den Landvermessern verwendeten Spiegel die déformation professionelle der beiden Hauptfiguren sichtbar machen.

Gauß wird auf seiner Reise nach Berlin von seinem ungeliebten Sohn Eugen begleitet, der die Zumutungen dieser Reise nach Berlin noch dadurch steigert, dass er als naiver Provinzler in einen Kreis von nationalbewegten Studenten gerät und mit ihnen zusammen aufgrund der Karlsbader Beschlüsse von 1819 verhaftet und gefoltert wird. Während Humboldt seinen Einfluss nutzen will, um Eugen zu befreien, ist Gauß das Schicksal seines Sohnes nicht nur gleichgültig, sondern er düpiert sogar den verschämt bestechungswilligen preußischen Polizeioffizier, so dass die Befreiung scheitert.

Humboldt kann später dennoch etwas für Eugen tun, der von der politischen Polizei Preußens schließlich ins Exil nach Amerika geschickt wird und damit auch der väterlichen Feindschaft entgeht. Indem Gauß' Sohn seine Reise auf den Spuren von Humboldts erster amerikanischer Expedition beginnt, verbindet er die Biografien der beiden spröden alten Männer, deren Leben und autistische Wissenschaftsorientierung schon lange nicht mehr als vorbildlich erscheinen.

Erzählweise

Der Erzählrhythmus wird durch die schnelle Folge der mathematischen und geografischen Entdeckungen bestimmt. Eine Biografie rekonstruiert Daten, Taten, Aufenthalte – dieser Roman dagegen verzichtet darauf fast vollständig, erzählt aber dennoch sehr übersichtlich und zielstrebig: Sechzehn zwischen acht und vierzig Seiten lange Kapitel tragen treffende Titel (Die Reise, Das Meer, usw.), die den Gestus der Transparenz wissenschaftlicher Abhandlungen imitieren.

Der lakonische Stil kurzer Sätze ist die Basis für an das Deutsch des 19. Jahrhunderts erinnernde Wendungen und die überwiegend in indirekter Rede geschriebenen Dialoge, die mehr als nur eine historische Distanz des Autors zu seinen Figuren signalisiert.

Im Mikrobereich der Abschnittswechsel sorgen z. B. elliptische Überblendungen für Dynamik: „Er [Humboldt] müsse Gauß unbedingt sagen, daß er jetzt besser verstehe.“ Und ohne dass Gauß über diesen Gedanken per Post informiert sein könnte, setzt dieser 1800 Kilometer weiter westlich im direkt folgenden Absatz fort: „Ich weiß, daß Sie verstehen.“

In dieser fiktiven Doppelbiografie haben die Lebensläufe der beiden Hauptfiguren keine weiteren Berührungspunkte als die nur gelegentlichen Bezugnahmen des fast lebenslänglich daheim bleibenden Gauß auf Nachrichten von Humboldts Amerikareise lange vor ihrer Bekanntschaft und den späteren Kontakt in der Rahmenhandlung. Ihre nur punktellen Interaktionen lassen sie mehr zu Repräsentanten von Einstellungen als zu Trägern einer gemeinsamen Handlung werden. Das Gemeinsame ist ihre auf meist unterschiedlichen Gebieten sich entwickelnde frühe wissenschaftliche Kompetenz, die aber der Lesbarkeit wegen immer nur romanhaft angedeutet wird.

Gemeinsam ist ihnen vor allem die Behandlung ihres Lebens durch den Erzähler: Der spricht als personaler Erzähler von einem Standpunkt dicht neben seinen beiden Hauptfiguren, von denen er Gauß mehr von innen und Humboldt mehr von außen beschreibt. Der Erzähler kennt die Gefühle seiner Hauptfiguren zwar, aber was er von ihnen mitteilt, ist meist nur auf ihre wissenschaftlichen Projekte reduziert. Die Figuren bleiben daher ohne Tiefe: Humboldt und Gauß, der immerhin anfangs noch schwört, seine sibirische Hure zu heiraten, scheinen sich auf ein Leben ausschließlich für die Wissenschaft zu reduzieren. Gauß zum Beispiel springt schon in der Hochzeitsnacht eines mathematischen Einfalls wegen aus dem Bett und vergisst später den Geburtstermin seines ersten Sohnes; für den Kontinentdurchquerer Humboldt bleiben Frauen ein Leben lang terra incognita. Während Gauß und Humboldt also die Welt der Zahlen und der Menschen erforschen, entgeht ihnen das Diesseits des Lebens bzw. mehr als 50 % davon.

Der Erzählton ist durchweg ironisch. Die vielseitigen Einseitigkeiten der Hauptfiguren werden mit Humor vorgeführt und viele anekdotenhaften Ereignisse aus ihren Leben komisch überformt. Gauß erscheint schon auf den ersten Seiten wie ein großes Kind und als Humboldt mit seinem Bruder Wilhelm (dessen Vorname im gesamten Buch nicht genannt wird) am Totenbett seiner Schwägerin sitzt, vergessen beide, „geradezusitzen und klassische Dinge zu sagen.“ Der junge Eugen Gauß hat einige Schwierigkeiten, sich abends in dem für ihn unüberschaubaren Berlin zu orientieren: „Immer neue Straßen, immer noch eine Kreuzung, und auch der Vorrat an umhergehenden Leuten schien unerschöpflich.“ Die dann folgende Verhaftungsszene der revolutionär-naiv-weinerlichen Studenten steigert noch einmal die durch den Erzählton vermittelte Distanz zu den Figuren.

Deutung

Diese ironische Entzauberung deutscher Intelligenzgeschichte ist eine der immanenten Deutungsmöglichkeiten. Gauß scheitert grandios an seiner Menschenrolle, der ältere Bruder Humboldts wehrt sich haarspalterisch gegen die Vorstellung, die Erfolge der Humboldtbrüder seien auf ihre banale Rivalität zurückzuführen: „Weil es Dich gab, mußte ich Lehrer eines Staates, weil ich existierte, hattest Du der Erforscher eines Weltteils zu werden, alles andere wäre nicht angemessen gewesen.“ (Großschreibung im Original.)

Eine weitere Bedeutung erschließt sich aus der Antwort auf die Frage nach den Auswirkungen der Wissenschaft auf die sie tragende Gesellschaft. Gauß' politisch reaktionäre Einstellung ist auch im Roman deutlich – er wird eine Verbesserung der Lage der Untertanen seines Herrn nicht einmal gewünscht haben. Anders der Franzosenfreund Humboldt, der im Roman Zweifel äußert, ob seine amerikanische Flussreise „Wohlfahrt für den Kontinent gebracht“ habe und damit z. B. auch anknüpft an Diogenes von Sinope, der schon im 4. Jahrhundert vor Christus gefragt haben soll, ob alle Entdeckungen und Erfindungen etwas an der Mühsal der Mehrheit geändert hätten.

Einen dritten Aspekt offenbart das Kapitel, das die Russlandexpedition Humboldts von 1829 schildert. Im Roman ist der alte und hier schon trottelige Forscher während der Reise von Lakaien umzingelt, die im Auftrage des Zaren und des preußischen Königs verhindern, dass Humboldt mehr zu sehen bekommt als er sehen soll. Der Forscher wird unfreiwillig zu einem embedded scientist und die von ihm bereiste Welt zu seinem „potemkinschen Dorf“. Was kann ein Wissenschaftler wirklich jenseits der Hauptstraßen der Macht erkennen? Hat daher schließlich Humboldt oder Gauß mehr gesehen von der Welt? Humboldt jedenfalls ist sich da am Ende nicht mehr sicher, er hätte „auf einmal nicht mehr sagen können, wer von ihnen weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben.“ Die Vermessung der Welt darf daher auch als ihre Ver-Messung gelesen werden.

Literatur