Psychomachia

Die Psychomachia (griech.: Seelenkampf) des christlichen Dichters Prudentius (* 348 † nach 405) stellt einen allegorischen Kampf zwischen personifizierten Tugenden und Lastern dar. Sie ist das erste durchgehend allegorische Gedicht der abendländischen Literatur und gilt als eines der bedeutendsten Werke der christlichen lateinischen Epik. Sprachlich ist das Werk eng an die klassisch-heidnische Poesie, besonders die Aeneis des Vergil, angelehnt. Die mittelalterlichen Manuskripte der Dichtung waren oft reichhaltig glossiert und teils mit Bildern illuminiert. Auf die allegorische Kunst des Mittelalters in Dichtung und Architektur übte die Psychomachia erheblichen Einfluss aus. Sie war im Mittelalter eines der am häufigsten rezipierten Gedichte der Antike.
Werk
Inhalt
Der Titel Psychomachia leitet sich aus den beiden griechischen Wörtern psyche („Seele“) und machein („kämpfen“) ab. Der erste Bestandteil kann gleichzeitig als subjektiver und objektiver Genitiv verstanden werden, d. h. die Seele ist sowohl Kämpfende als auch das Ziel des Kampfes, sie kämpft um sich selbst. Das Epos gliedert sich in eine Praefatio (Vorwort) und die eigentliche Erzählung im Umfang von 916 Hexametern.
Die 68 iambischen Trimeter des Vorworts setzen an bei der alttestamentlichen Erzählung der Rettung Loths durch Abraham aus den heidnischen Städten Sodom und Gomorrha. Die im Bibeltext erwähnten 318 Sklaven des Abraham,[1] in griechischer Transkription ΤΙΗ, repräsentieren die ursprüngliche Kreuzesform und die beiden Anfangsbuchstaben des Namens Jesu (griechisch: ΙΗΣΟΥΣ). Die Erscheinung dreier Engel, welche die Empfängnis Saras verkünden,[2] präfiguriert das trinitarische Dogma der Wesenseinheit von Vater, Sohn und heiligem Geist, der Hohepriester Melchisedech den Heiland.[3] Die Bibelexegese kündigt damit das zentrale Thema des Werkes an und stellt es zugleich in seinen heilsgeschichtlichen Zusammenhang: den Kampf von heidnischen Lastern und christlichen Tugenden auf dem Schauplatz der menschlichen Seele sowie die anschließende Errichtung eines Tempels der Weisheit.
Die ersten 725 Verse des Hauptteils stellen eine Folge von sieben allegorischen Kämpfen zwischen Tugenden und entgegengesetzten Lastern dar: Götzenverehrung und Rechtgläubigkeit; Keuschheit und sodomitische Wollust; Geduld und Jähzornigkeit; Demut und Überheblichkeit; Enthaltsamkeit und Ausschweifung; Vernunft und Habgier; Einigkeit und Zwietracht mit Beinamen Häresie (lateinisch: Veterum Cultura Deorum vs. Fides; Pudicitia vs. Sodomita Libido; Patientia vs. Ira; Mens Humilis vs. Superbia; Sobrietas vs. Luxuria; Ratio vs. Avaritia; Concordia vs. Discordia cognomento Heresis). Die Tugenden und Laster sind jeweils als Frauengestalten mit charakteristischen Attributen und Verhaltensweisen dargestellt.
Eine Christus-Anrufung leitet den Seelenkampf ein. Die Rechtgläubigkeit stellt sich im Vertrauen auf ihre Stärke unbewaffnet dem offenen Kampf. Indem sie wächst, schlägt sie die Götzenverehrung zu Boden und drückt ihr die Kehle zu, so dass deren eingezwängte Seele den Körper am Leben hält, derweil die Legion der 1.000 Märtyrer einen Triumph feiert. Die Wollust bedroht mit einer Schwefelfackel die Keuschheit, die deren Kehle mit einem Schwert durchstößt. Die Keuschheit gedenkt der Tötung des Holofernes durch Judith,[4] welche die unbefleckte Empfängnis und Fleischwerdung Gottes präfiguriert. Die Wollust fällt in einen Schwefelpfuhl, während die Keuschheit ihr beflecktes Schwert im Jordan reinwäscht und in einem Taufbecken weiht. Derweil sieht die Geduld ungerührt zu, wie alle von der Jähzornigkeit eingesetzten Waffen an ihrer Rüstung zersplittern und diese sich frustriert selbst erschlägt. In Begleitung des Hiob, dessen Leiden mit vielfacher Belohnung vergolten wurden, unterstützt die Geduld als einzige alle anderen Tugenden im Kampf. Zufällig reitet die Überheblichkeit auf hohem Ross einher, mit aufgetürmter Haarpracht, und blickt herab auf das armselige Gefolge der Demut, welche die himmlische Hoffnung zur Gefährtin erwählt hat. Sie brüstet sich mit der militärischen Dominanz, die seit dem von ihr verursachten Sündenfall ihr Volk auszeichnet, und verspottet die unmännlichen Neuankömmlinge: die Keuschheit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Ehre, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Reinheit und Einfalt. Beim Angriff fällt sie in eine Grube, welche die List gegraben hat, und wird von ihrem Pferd zerquetscht. Die Hoffnung veranlasst die Demut, das Laster zu enthaupten, und gedenkt der Tötung des Goliath durch David. Sie fährt in den Himmel, die anderen Tugenden sehen ihr sehnsüchtig nach.
Aus dem Westen trifft mit kostbarem Wagen die verkaterte Ausschweifung ein, die ihren Ruf verloren hat und nur noch der Lust lebt, und zieht die Tugenden in ihren Bann. Einzig die Enthaltsamkeit bleibt nüchtern, richtet die Kreuzesstandarte auf und erinnert die Tugenden an das Nahrungswunder in der ägyptischen Wüste, welches das Abendmahl präfiguriert, an Davids und Samuels Kampf gegen die Heiden und die Buße des Jonathan. Mit dem Kreuz blockiert sie die Wagenspeichen, so dass die Wollust nach vorn stürzt und den Wagen bremst. Die Zufälligkeit gibt der Enthaltsamkeit einen Felsblock, mit dem sie das geräderte Gesicht der Wollust zerschmettert, deren Magen die Körpersplitter wieder ausspeit. Es fliehen die Lästerung, Frechheit, Liebe, Schminke, Anmut, Zwietracht und Lust, deren Schmuckstücke von der Enthaltsamkeit zertrampelt werden. Die Habgier soll die Kostbarkeiten in Säcke gefüllt haben, in Begleitung der Sorge, Esssucht, Furcht, Angst, Falschaussage, Blässe, Verderbnis, List, Lüge, Schlaflosigkeit und Schande, schließlich auch der Bürgerzwietracht und Besitzergreifung, die ihre gefallenen Verwandten ausrauben. Die Habgier blendet die Menschheit, verdammt sie, verwundet sogar leicht die Gottespriester, die jedoch von der Vernunft geschirmt werden. Die Habgier erkennt, dass ihre Allmacht hier endet und trauert ihrer früheren Macht über Judas Ischariot und die Juden in Jericho nach, die auch deren Nachfolger täuschen sollte. Sie verkleidet sich als Sparsamkeit, die nun unter dem Vorwand der Kinderliebe ihrer Opfer verführt, doch wird sie von der Barmherzigkeit, die ihr Vermögen den Armen gegeben hat, grausam erwürgt, die Beute an die Armen verteilt, die ihr tägliches Brot von Gott erhalten.
Daraufhin fliehen die Furcht, Mühseligkeit, Gewalt, Kriminalität und Täuschung, die Friedfertigkeit beendet den Krieg. Über dem chaotischen Schlachtfeld öffnet Christus den Himmel, die Eintracht gibt den Tugenden den Befehl zum Rückzug, die singend marschieren, wie Israel, dem sich der Nil öffnete. Doch vor dem Lager wird die Friedfertigkeit gestört, die Eintracht ist an der untersten Kette ihres Panzers leicht getroffen von der Zwietracht, die sich eingeschlichen hat, nachdem sie Mantel und Schlangenpeitsche fortwarf. Sie stellt sich vor als Häresie, ihren Gott als veränderlich, als ihre Heimat die Welt und Belia als ihre Lehrerin. Die Rechtgläubigkeit stößt ihr eine Lanze in den Rachen, die Zwietracht wird von unzähligen Händen zerstückelt, ihre Einzelteile an Tiere verfüttert oder in Kloaken geworfen.
Eine starke inhaltliche Zäsur nach Vers 725 leitet vom Seelenkampf zum Tempelbau über. Auf einer eigens errichteten Rednertribüne mahnt die Eintracht, Zwietracht zu vermeiden, den Frieden zu wahren und den Wolf im Schafsfell zu erkennen, wie Photinus und Arius. Die Rechtgläubigkeit lässt die Trauernden verstummen, da die Eintracht zwar verwundet, sie selbst aber verteidigt worden ist. In Gedenken an den Tempelbau des Salomon in Jerusalem, der auf die Vertreibung der Könige folgte, gibt sie den Tempel in Auftrag, als Palast des Christus. Gemeinsam mit der Eintracht legt sie die perfekten Ausmaße des Tempels fest. Als Grundstein wird ein hohler Edelstein gelegt, der das Eingangstor bildet. Die Eingangshalle ist aus einem Block gemeißelt, an den oberen Säulenenden sind die zwölf Namen des apostolischen Senats eingeschrieben, welche die Seele vor Sünde schützen sollen. Zwölf verschiedene Edelsteine lassen das Himmelslicht aus den Mauern in bunter Farbenpracht ein. Der innere Bezirk das Tempels ruht auf sieben Kristallsäulen, welche die Rechtgläubigkeit erwarb, nachdem sie ihre Kriegsausrüstung versteigert hatte. Darin thront die Weisheit, welche die Gesetze gibt und regiert. Sie hält als Szepter einen immergrünenden Zweig, der durch den Stab des Aaron präfiguriert ist.[5]
Eine zweite Christus-Anrufung beschließt das Epos. Es wird dafür gebetet, dass die Menschen die verborgenen Laster ihres Herzens erkennen mögen, das in beständigem Kampf mit Licht und Dunkel liegt, bis Christus die Juwelen der Tugenden zu einem Tempel ordnet, in dem die Göttin Weisheit ewig regiert.
Textbeispiel
Die Grenzen zwischen allegorischer und realer Darstellung sind fließend. Der folgende Textabschnitt beschreibt den Tod der Luxuria, die von ihrem Wagen stürzt. Die Übersetzung versucht, den lateinischen Satzbau nachzubilden: Psychomachia 414-428.
- [...] tunc et vertigo rotarum
- inplicat excussam dominam; nam prona sub axem
- labitur et lacero tardat sufflamine currum.
- addit Sobrietas vulnus letale iacenti,
- coniciens silicem rupis de parte molarem.
- hunc vexilliferae quoniam Fors obtulit ictum
- spicula nulla manu sed belli insigne gerenti,
- Casus agit saxum, medii spiramen ut oris
- frangeret et recavo misceret labra palato.
- dentibus introrsum resolutis lingua resectam
- dilaniata gulam frustis cum sanguinis inplet.
- insolitis dapibus crudescit guttur, et ossa
- conliquefacta vorans revomit quas hausert offas.
- „ebibe iam proprium post pocula multa cruorem“,
- virgo ait increpitans, [...]
„Dann rollt das Speichenwerk der Räder in seine gestürzte Herrin; kopfüber stürzt sie unter die Achse und verlangsamt als lebende Bremse den Wagen, wobei sie zerfleischt wird. Die Enthaltsamkeit fügt dem am Boden liegenden Laster die tödliche Wunde zu, indem sie einen großen Stein aus einem Felsblock auf sie schmettert. Da die Fügung diesen Schlagstein der Bannerträgerin übergab, die keine Wurfgeschosse, sondern nur das Emblem des Krieges in der Hand trug, lenkt die Zufälligkeit den Fels so, dass er am Mund des Laster zerbricht und Lippenteile in den hohlen Rachen schlägt. Ihre Zähne sind nach innen eingebrochen, die Zunge ist zerfetzt und füllt die aufgetrennte Kehle mit Blutbrocken. Aufgrund des ungewohnten Mahls verschlägt sich der Magen des Lasters und während er noch die vom Speichel zersetzten Knochen verschlingt, speit er bereits verschluckte Klumpen wieder aus. ‚Sauf nun Dein eigenes Blut nach Deinen vielen Gläsern‘, spricht hämisch die Jungfrau, usw.“
Die Psychomachia ist dabei in Schlüsselabschnitten tief christlich, wie die Schlussverse zeigen, die allerdings auch einen Dualismus von Licht und Finsternis vorstellen, der im persischen Zarathustra- und Mithraskult wuzelte und auch vom Manichäismus übernommen wurde: Psychomachia 908-915.
- spiritibus pugnant variis lux atque tenebrae,
- distantesque animat duplex substantia vires,
- donec praesidio Christus Deus adsit et omnes
- virtutum gemmas conponat sede piata,
- atque, ubi peccatum regnaverat, aurea templi
- atria constituens texat spectamine morum
- ornamenta animae; quibus oblectata decoro
- aeternum solio dives Sapientia regnet.
„Licht und Finsternis mit ihren entgegengesetzen Gewalten liegen im Streit, und unsere widersprüchliche Materie erweckt sich verfeindende Kräfte, bis Christus, unser Gott, uns zum Schutz beisteht, alle Juwelen der Tugenden an geweihter Stätte ordnet, wo Sünde herrschte, eine goldene Tempelhalle errichtet und aus dem Geflecht der Sitten Kunstwerke für die Seele webt; von denen entzückt auf prächtigen Thron die Göttin Weisheit die Ewigkeit beherrscht.“
Datierung
Hieronymus erwähnt in seinem Werk De viris inlustribus, das die gesamte christliche Literatur bis zum Jahr 392 berücksichtigt, weder die Psychomachia noch ihren Dichter. Da das Werk in der Vorrede der 404/5 vom Dichter selbst veranlassten Gesamtausgabe ebenfalls nicht genannt wird, ist seine Entstehung wahrscheinlich nach diesem Datum anzusetzen. Es wird vermutet, dass Prudentius die Zerstörung Roms 410 nicht mehr erlebte, da sie trotz häufiger Erwähnung zeitgenössischer Schlachten nirgendwo im Gesamtwerk einen Widerhall findet. Es gibt Spekulationen, dass einzelne Schlachtenbeschreibungen der Psychomachia auf eine unmittelbare Bedrohung der ewigen Stadt anspielen könnten und daher die Entstehung um 408/9 anzusetzen sei.[6] Der aus Spanien stammende Prudentius hatte ein nicht näher bekanntes Amt am Hof des Theodosius I. inne und hat mindestens einmal Rom besucht, wie aus Gebäudebeschreibungen im Peristephanon, einer Sammlung versifizierter Märtyrerberichte, geschlossen worden ist, möglicherweise in den Jahren 395 oder 401-403.[7] Über die Entstehung der Psychomachia ist sonst nichts bekannt.
Deutung
Die Psychomachia ist sprachlich anspruchsvoll gestaltet, inhaltlich von vielschichtiger Symbolik und daher auch unterschiedlich interpretiert worden. Die Sprache neigt zum spätantiken Manierismus. Besonders in die Reden der Tugenden sind christologische, ekklesiologische und eschatologische Diskurse eingearbeitet, die auf Vorbildern der Patristik, etwa auf Lactantius beruhen.[8] Die Diskussion um das Wesen des Christus als Gottessohn oder vollwertiger Gott und die sich daraus scheinbar ergebenden Widersprüche um die Einzigartigkeit Gottes prägten die innerkirchliche Auseinandersetzung mit Häresien. Prudentius vertritt hierbei das nizänisch-orthodoxe Christentum. Ähnliche Abschnitte finden sich in zwei früheren Werken des Autors, der Apotheosis und der Harmatigenia.
Prudentius berichtet über sich selbst, dass er von einem angeblich lasterhaften früheren Leben zur Askese bekehrt worden ist, was auf eine autobiographische Komponente der Psychomachia schließen lassen könnte. Aufgrund der religiösen Vorstellungen in der Psychomachia ist auf eine synkretistische Auffassung des Christentums geschlossen worden.[9]
Zeitgeschichtliche Anspielungen
Die vielerorts eingestreuten dogmatischen, besonders christologischen Ausführungen, sind zweifellos Zeugnis der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Häresien, besonders dem Arianismus, dessen Begründer Arius in Vers 794 erwähnt ist, ebenso wie die Kampfszene zwischen (häretischer) Zwietracht und (orthodoxer) Eintracht. Der in Spanien, dem Heimatland des Dichters, stark verbreitete Priscillianismus ist weder in der Psychomachia noch im übrigen Werk erwähnt oder thematisiert. Bislang konnte dieser Umstand nicht überzeugend erklärt werden.
Anspielungen an die jüngere Geschichte sind gelegentlich zu erkennen oder zu vermuten.[10] Sicherlich ist die Kriegserfahrung im Zeitalter der Barbareninvasionen in die teilweise brutalen Schlachtdarstellungen eingegangen. Einige Kämpfe sind von religiöser Symbolik geprägt, wie etwa der Kreuzestandarte, die erstmalig Konstantin während der Schlacht bei der Milvischen Brücke seine Soldaten tragen ließ. Ähnlich wie Augustinus im Gottesstaat überträgt Prudentius die weltliche Invasion in einen geistlichen Kontext, besonders im Kampf der Demut gegen die Überheblichkeit, welche den römischen Imperialismus repräsentiert. Die Heiden legten den Christen zur Last, dass mit dem Einzug des Christentums das Reich allmählich militärisch zugrunde ging.
Einzelne Abschnitte sowie Handlung und Form des Werkes deuten auf eine fortdauernde Auseinandersetzung oder Konversionsbemühung mit Blick auf die heidnische Elite hin. Durch die Symbiose von heidnischer Form und christlichem Inhalt wollte Prudentius vermutlich dem heidnischen Argument der auch nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion andauernden Religionskontroverse entgegentreten, christliche Literatur sei der traditionellen römischen Literatur unterlegen. Es wird kontrovers diskutiert, ob das Epos eine Nachahmung der klassischen Dichtung oder ein "christliches Supergedicht" darstellt, das die klassische Literatur ersetzen will.[11]
Die Allegorie des am Boden liegenden, jedoch am Sterben gehinderten heidnischen Kultes dürfte zusätzlich auf dessen aktuelle historische Situation verweisen. Prudentius deutet also hiermit, anders als andere christliche Autoren seiner Zeit, das Weiterleben des Paganismus an. Zusätzlich zu den archäologischen Zeugnissen, die auf eine Kontinuität des Heidentums schließen lassen, deutet Prudentius hier an, dass heidnische Religionen auch nach deren offiziellem Verbot durch Theodosius 390/1 weiterhin in größerem Umfang existierten. Besonders im tarraconensischen Spanien ist die Bezeugung heidnischer Kulte bis zum Ende der Antike dicht.[12]
Nicht überzeugend geklärt werden konnte, warum die Ausschweifung (Luxuria) aus dem Westen eintritt, da dieses Laster in römischer Vorstellung sonst mit dem geographischen Osten assoziiert wurde. Möglicherweise spiegelt der Vers 310 occiduis mundi de finibus („aus der westlichen Grenze der Welt“) eine eschatologische Vorstellung („aus der Endzeit der Welt“).
Gewalt
Die Sterbeszenen der Laster sind ausführlich dargestellt und erinnern zum Teil an die Märtyrerliteratur und deren Verarbeitung in Prudentius' Peristephanon. Sie sind in der Psychomachia jeweils als geziemende Strafen nach dem Prinzip der Wiedervergeltung (Talion) gestaltet, wonach zwischen Bestrafungsart und Vergehen ein Verhältnis nicht nur der graduellen Angemessenheit, sondern auch der signifikanten sachlichen Gleichheit ("Auge um Auge") oder Analogie (talio analogica, z.B. Strafe am ausführenden Körperteil) besteht, so dass im Sterben der Lasterpersonifikation noch einmal besondere Eigentümlichkeiten der gestraften Laster kenntlich werden. Um diese Bezüge nachvollziehen zu können, muss der Leser allerdings ein gewisses sachliches Verständnis und auch Kenntnis einschlägiger biblischer oder literarischer Metaphorik mitbringen. So stürzt etwa die Allegorie des Hochmuts vom Pferd in eine Fallgrube, die die Allegorie der List eigentlich für die gegnerische Tugend ausgehoben hatte. Die Habgier wird von ihrer Gegnerin speziell durch Zuschnüren der Kehle zu Tode gebracht, weil die Habgier nach klassischer und biblischer Vorstellung "unersättlich" Gold und Reichtümer "verschlingt". Ähnliche Vorstellungen spiegeln sich im Fall der Wollust in den Schwefelpfuhl oder im Erbrechen eigener Körperteile durch die Ausschweifung.[13]
Die Zerstückelung der Zwietracht und ihr Verschlingen durch wilde Tiere deutet, analog zum langsamen Tod der Götzenverehrung, die historische Situation christlicher Häresien an, die sich zunehmend in Splittergruppen aufzulösen schienen. Das Motiv der Zerstückelung des Körpers findet sich auch in orientatlischen Mysterienreligionen, wie dem Isis-Kult, die noch im 4. Jahrhundert eine ernsthafte Konkurrenz zum Christentum darstellten. Augustinus bezeugt, dass nach heidnischer Vorstellung die Zerstückelung der Leichenteile den Eintritt in das Jenseits verwehrte. Damit verband sich der heidnische Vorwurf, dass christliche Jenseitsvorstellungen nicht philosophisch denkbar seien, den Augustinus zu widerlegen suchte.
Das Talionsprinzip war kaum Bestandteil des traditionellen römischen Rechts, nur aus dem ältesten Zwölftafelgesetz sind wenige Talionsstrafen bekannt (Knochenbruch, Feuertod bei Brandstiftung).
Bibelexegese
Die Beschreibungen des Tempels mit zahlreichen Edelsteinen erinnert an Kirchbauten und die Edelsteine in der Himmelsstadt in der Johannesapokalypse, während das Bild des Tempels speziell an die paulinisch geprägte Metapher vom Leib oder der Seele als einem Tempel anknüpft, den der Gläubige für Gott errichten und reinhalten soll.
In Begleitung der Tugenden erscheinen regelmäßig auch Personen der biblischen Geschichte oder Ereignisse als exemplarische Vertreter der jeweiligen Tugend oder werden als solche in ihren Reden benannt, wie auch den Lastern verschiedentlich biblische Beispielfiguren zugeordnet sind. So wird etwa die Geduld von Hiob begleitet, und die Habgier beruft sich stolz darauf, mit Judas Ischariot sogar einen der Apostel Christi in ihren Bann gezogen zu haben. Die Rechtgläubigkeit erscheint mit einer Schar von Märtyrern, die Keuschheit erwähnt Judiths Tötung des Holofernes, der diese vergewaltigen wollte. Darüberhinaus hinaus werden die alttestamentlichen Figurae auf christliche Geschehen bezogen, so praefiguriert Judith Maria.
Literarische Vorbilder
Klassisch-heidnische Dichtung
Der Bezug zur kanonischen Epik des Vergil und gleichzeitig die Transformation deren heidnischen Ursprungs in die christliche Botschaft ist bereits durch den ersten hexametrischen Vers programmatisch angedeutet:
Christe, graves semper hominum miserate labores („Christus, der du immer die schweren Mühen der Menschen bemitleidet hast“)
wodurch sprachlich auf ein Gebet des Aeneas an Apollo angespielt wird: Verg. Aen. 6,56
Phoebe, grauis Troiae semper miserate labores („Phoebus, der du immer die schweren Mühen Trojas bemitleidet hast“).
Apollo Phöbus, der Sonnengott, wurde in der synkretistischen Spätantike mit Christus assoziiert, so war der junge Konstantin ein monotheistischer Anhänger des Sonnengottes, bevor er sich zum Christentum bekannte. Der Konstantinsbogen zeigt Darstellungen des Sonnengottes.
Neben sprachlichen und stilistischen Anlehnungen an die Epik der klassisch-heidnischen Antike, besonders Vergils Aeneis, auf die sich die Psychomachia in zahlreichen wörtlichen und motivischen Parallelen bezieht,[14] sind auch Elemente des antiken Lehrgedichts verarbeitet. Die Verwendung der Personifikation als durchgängiges Strukturprinzip einer epischen Erzählung besitzt jedoch kein Vorbild in der heidnischen Tradition, die zumindest in klassischer Zeit die Prosopopoiia nur als gelegentliches Stilmittel kennt (vgl. die Personifiktion der Discordia bei Vergil), sondern hierin kommt bei Prudentius neben einer allgemeinen spätantiken Entwicklung (vgl. Martianus Capella) der Einfluss der jüdisch-christlichen Bibelexegese, insbesondere der platonisierenden Exegese alexandrinischer Prägung, zum Tragen.
Der von Prudentius hauptsächlich rezipierte zeitgenössische Autor ist Claudian. Wegen der unklaren Entstehungszeit des Epos ist allerdings nicht zweifelsfrei auszumachen, welcher von beiden Autoren der Rezipient ist.
Christliche Literatur
Die Psychomachia bezieht altestamentliches Geschehen auf das Frühchristentum (Praefiguration}. Diese Form der Allegorese wurde schon früh auch für die Bibel praktiziert. So deutet der Apostel Paulus die Söhne der Sarah und der Hagar als Altes Testament und Neues Testament. Origenes bezieht das Hohelied des Alten Testaments auf die Liebe zwischen Christus und der Seele des Gläubigen. Die von Prudentius gewählten Figuren beruhen meist auf Vorbildern christlicher Exegetiker. Allerdings ist der König David entgegen den übrigen Auslegungen hauptsächlich nur in seiner militärischen Funktion gegen heidnische Könige dargestellt.
Die Geschichte der Haupt- oder Todsünden beginnt in der ägyptischen Wüste. Evagrius Ponticus (345-399), ein gelehrter Anachoret des 4. Jahrhunderts, erarbeitete aufgrund von neuplatonischen und gnostischen Elementen einen Achtlasterkatalog.[15] Die acht Laster verstand Evagrius als ‚böse Gedanken‘, die Dämonen einsetzten, um Einsiedler von ihrem Ziel abzulenken, die apatheia („Freiheit von Affekten“) zu erreichen. Dieses Lasterschema wurde von Johannes Cassian (360-435) übernommen und damit dem lateinischen Westen überliefert. Die sieben Laster bei Prudentius entsprechen allerdings noch nicht dem Kanon der sieben christlichen Todsünden.
Die christliche Literatur des lateinischen Westens vor Prudentius kannte ansatzweise allegorische Konzepte, so verwendet Tertullian in seiner Schrift „Über die Spiele“ eine allegorische Kampfdarstellung.
Rezeption
Für die ausgehende Antike sind kaum Anspielungen auf die Psychomachia auszumachen. Augustinus gebraucht gelegentlich Vergleiche, die an Motive der Psychomachia erinnern, doch ist eine Rezeption nicht nachweisbar.[16] Aus dem 6. Jahrhundert stammt das Buch Tröstungen der Philosophie des Boëthius, in dem neben den Musen der Dichtkunst die Philosophie als handlungstragende Allegorien dargestellt sind.
Die nachhaltige Rezeption im Mittelalter spiegelt sich in der Zahl der über 300 erhaltenen Handschriften zu Prudentius, wobei die älteste Handschrift aus dem 6. Jh. den Text der Psychomachia vollständig enthält. Weitere Handschriften sind aufgrund ihrer Illustrationen bedeutend.[17] Vor allem im Frühmittelalter wurde kein anderer Autor mehr glossiert und kommentiert als Prudentius.
Die Sieben Kardinaltugenden und die Sieben Todsünden werden in der frühchristlichen Malerei, der Skulptur und der Architektur dargestellt. Die romanische Bauplastik entnahm eine Vielzahl von Themen der Psychomachia, so in Notre Dame de Cunault (Anfang 12. Jh. n. Chr.), deren immenses Kapitellprogramm Kampfszenen aufweist, für welche die Psychomachia als Vorbild diente. Der Einband des Melisende-Psalter (um 1140) besteht aus Elfenbein-Schnitzereien, die mit Türkisen und anderen Edelsteinen verziert sind. Sie zeigen Szenen aus dem Leben von König David und aus der Psychomachia des Prudentius auf der Vorderseite.
Die Psychomachia beeinflusste auch die Darstellung weltlicher Liebesthematik, so im Rosenroman von Guillaume de Lorris und Jean de Meung (14. Jahrhundert). Durchgehend allegorische Darstellungsformen verwandte unter anderem Dante (Göttliche Komödie). In der Barockzeit erlebten Allegorien eine Blüte in allen Bereichen der Literatur, sei es in Gedichten, Reden aller Art, Predigten, Grabinschriften etc. Dabei wurden teilweise Motive aus der Psychomachia oder deren illuminierten Handschriften rezipiert.
Mit der Aufklärung erlosch das Interesse an der Psychomachia weitgehend. Seit dem 19. Jahrhundert interessiert sich die Klassische Philologie für das Epos. Allegorische Kampfdarstellungen der sieben Tugenden und Todsünden versinnbildlichen im Stummfilm Metropolis das lasterhafte Leben der Oberschicht.
Editionen und Übersetzungen
- J. Bergman, Aurelii Prudentii Clementis carmina., Wien, Leipzig 1926 (= CSEL, Bd. 61)
- Maurice P. Cunningham (Hrsg.): Aurelii Prudentii Clementis Carmina. Brepols, Turnhout 1966 (CCSL, Bd. 126)
- H. J. Thomson (Hrsg.): Prudentius. With an English Translation. William Heinemann, London; Harvard University Press, Cambridge (MA); 1949-1953, 2 Bde.
- Online-Edition von James O'Donnell
- M. Lavarenne, Prudence. Tome III. Psychomachie. Contre Symmaque, Paris 1948
- Die deutsche Übersetzung von Ursmar Engelmann (Die Psychomachia des Prudentius, Herder, Freiburg/Br. u.a. 1959) ist nur eingeschränkt zu empfehlen.
Sekundärliteratur
Philologie
- J. Bergman: Aurelii Prudentii Clementis Psychomachia rerum et verborum copia. Upsala 1897 (Kommentar)
- C. Brockhaus: Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche seiner Zeit. (Diss.) Leipzig 1872
- Vinzenz Buchheit: Glaube gegen Götzendienst. In: Rheinisches Museum für Philologie 133 (1990), S. 389-96
- Christian Gnilka: Studien zur Psychomachia des Prudentius. Harrassowitz, Wiesbaden 1963 (Klassisch-philologische Studien, 27; zugleich Diss. Bonn)
- Ders., Interpretation frühchristlicher Natur. In: Prudentiana Bd. 2: Exegetica, München 2001, S. 32-90 (= H. Krefeld (Hrsg.), Impulse für die lateinische Lektüre. Frankfurt 1979, 138-180)
- Jill Harries: Prudentius and Theodosius. In: Latomus 43 (1984), S. 69-84
- Kenneth R. Haworth: Deified Virtues, Demonic Vices and Descriptive Allegory in Prudentius’ Psychomachia. Amsterdam 1980
- M. Kah: „Die Welt der Römer mit der Seele suchend ...“ Die Religiösiät des Prudentius im Spannungsfeld zwischen ‚pietas christiana‘ und ‚pietas Romana‘. (Diss.) Bonn 1990
- W. Kirsch: Die lateinische Versepik des 4. Jahrhunderts. Berlin 1989 (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike Bd. 28)
- W. Ludwig, Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen. In: Christianisme et formes litteraires de l’antiquité tardive en occident (Entretiens sur l’antiquité classique 23) Genf 1977, S. 303-372
- M. Lühken: Christianorum Maro et Flaccus. Zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius. (Diss.) Göttingen 2002 (Hypomnemata 141)
- G. S. Nugent: Allegory and Poetics. The Structure and Imagery of Prudentius’ „Psychomachia“. Frankfurt a. M. u. a. 1985
- I. Rodriguez-Herrera: Poeta Christianus. Prudentius’ Auffassung vom Wesen und von der Aufgabe des christlichen Dichters. (Diss.) Speyer 1936
- Dirk Rohmann: Das langsame Sterben der Veterum Cultura Deorum – Pagane Kulte bei Prudentius. In: Hermes 131 (2003), S. 235-253
- Ch. Schwen: Vergil bei Prudentius. (Diss.) Leipzig 1937
- Danuta Shanzer: Allegory and Reality: Spes, Victoria and the Date of Prudentius’ Psychomachia, in: Illinois Classical Studies 14 (1989), S. 347-363
- Macklin Smith: Prudentius' Psychomachia: A Reexamination. Princeton University Press, Princeton (NJ) 1976, ISBN 0-691-06299-4
Ikonographie
- Jennifer O'Reilly: Studies in the Iconography of the Virtues and Vices in the Middle Ages. New York [et al.], Garland, 1988, xxii+465 pp.
- Joanne S. Norman: Metamorphoses of an Allegory: The Iconography of the Psychomachia in Medieval Art. New York [et al.]: Lang, 1988 (= American University Studies, 9, 29), viii+353 pp.
- Helen Woodruff: The Illustrated Manuscripts of Prudentius. Cambridge (Mass.): Harvard UP, 1930
Weblink
Anmerkungen und Quellen
- ↑ Gen 14,14.
- ↑ Gen 18,1-15.
- ↑ Gen 14,18; Hebr. 7,1-3.
- ↑ Judith 13
- ↑ Num 17,6-8.
- ↑ Danuta Shanzer: Allegory and Reality: Spes, Victoria and the Date of Prudentius’ Psychomachia, in: Illinois Classical Studies 14 (1989), S. 347-363.
- ↑ Stadtrömische Beschreibungen finden sich im 12. Gedicht der Sammlung. Literatur: Hermann Tränkle: Der Brunnen im Atrium der Petersbasilika und der Zeitpunkt von Prudentius’ Romaufenthalt, Zeitschrift für antikes Christentum 3 (1999), 97-112 (vertritt 395). Literaturangaben zu älteren Datierungen ebendort S. 106, Anm. 43; außerdem Jill Harries, Prudentius and Theodosius, Latomus 43 (1984), 71-73.
- ↑ W. Kirsch: Die lateinische Versepik des 4. Jahrhunderts, Berlin 1989 (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike Bd. 28), 25. Umfangreiche Verweise auf patristische Vorbilder in der französischen Übersetzung von M. Lavarenne: Prudence. Tome III. Psychomachie. Contre Symmaque. Paris 1948.
- ↑ Kenneth R. Haworth: Deified Virtues, Demonic Vices and Descriptive Allegory in Prudentius’ Psychomachia, Amsterdam 1980, 112f.
- ↑ Vgl. Shanzer (Anm. 6).
- ↑ Die Bezeichnung „christliche Supergedicht“ verwendet Walther Ludwig: Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen, in: Christianisme et formes litteraires de l’antiquité tardive en occident. (Entretiens sur l’antiquité classique 23), Genf 1977, 303-372. Dagegen sieht die Psychomachia in Abhängigkeit zu Vergil Ch. Schwen: Vergil bei Prudentius. (Diss.) Leipzig 1937. Modern ist eine ausgleichende Position, so M. Lühken: Christianorum Maro et Flaccus. Zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius. (Diss.) Göttingen 2002 (Hypomnemata 141).
- ↑ Dirk Rohmann: Das langsame Sterben der Veterum Cultura Deorum – Pagane Kulte bei Prudentius. In: Hermes 131 (2003), S. 235-253.
- ↑ Hierzu ausführlich Christian Gnilka: Studien zur Psychomachia des Prudentius. Harrassowitz, Wiesbaden 1963.
- ↑ Liste von Vergilzitaten bei Ch. Schwen: Vergil bei Prudentius. (Diss.) Leipzig 1937 und neuerdings einschließlich der übrigen augusteischen Literatur M. Lühken: Christianorum Maro et Flaccus. Zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius. (Diss.) Göttingen 2002 (Hypomnemata 141).
- ↑ Zur Vorgeschichte der Lasterkataloge z.B. M.W. Bloomfield, The Seven Deadly Sins, Michigan 1952.
- ↑ Augustinus, Civitas Dei, 18,51.
- ↑ Siehe Helen Woodruff: The Illustrated Manuscripts of Prudentius. Cambridge (Mass.): Harvard UP, 1930.