Katastrophensoziologie
Die Katastrophensoziologie beschäftigt sich mit der sozialen Dimension von Katastrophen - theoretisch gehört sie nach ihren Definitionsmerkmalen eher in die Allgemeine Soziologie, im Hochschulalltag wird sie wie eine Spezielle Soziologie behandelt.
Aufgaben
Im Einzelnen beschäftigt sich die Katastrophensoziologie mit der soziostrukturellen Vorbedingungen von Katastrophen, mit den sozialen Prozessen während und nach ihrem Eintritt, zumal mit dem sozialen Handeln der Opfer, mit den Besonderheiten und der Aufgabenerfüllung der Organisationen des Katastrophenschutzes und mit dem gesamtgesellschaftlichen oder segmentären sozialen Wandel durch Katastrophen.
Gegenstand der Katastrophensoziologie in Deutschland waren zunächst Fragestellungen direkter politischer Besorgnis. Angesichts dessen, dass 16 deutsche Bundesländer im Rahmen ihrer Katastrophenschutz-Gesetzgebung 16 verschiedene Legaldefinitionen von "Katastrophe" haben, wurden früh (ab 1971) an der späteren Katastrophenforschungsstelle des Institutes für Soziologie der Universität Kiel theoretische Anstrengungen gemacht, den umgangssprachlichen Begriff „Katastrophe“ soziologisch-begrifflich zu schärfen.
Doch liegt die "Katastrophensoziologie" (ähnlich wie z. B. die "Agrarsoziologie") immer noch fernab vom deutschen soziologischen Mainstream.
Begriffe
Derzeit (2004) sind drei soziologische Ansätze hervor zu heben, Katastrophe soziologisch-begrifflich zu fassen, die sämtlich nur teilweise miteinander kompatibel sind und faktisch einzig darin überein stimmen, dass "Katastrophen" im sozialen Diskurs (auch im umgangssprachlichen) konstruiert werden:
In der (in ihren Ursprüngen - beginnend mit Enrico Quarantelli (vgl. Emergentes Organisations-Netzwerk) - sehr pragmatisch orientierten) nordamerikanischen Sociology of Disaster wird erst neuerdings catastrophe von disaster abgetrennt, vor allem als überörtliche soziale Vernetzung von lokalen Schadereignissen.
In Deutschland wird Katastrophe soziologisch sehr unterschiedlich definiert:
Entweder (und auch erst jüngst) systemtheoretisch (in der Nachfolge von Niklas Luhmann von Klaus P. Japp – in der Abgrenzung zum Risiko) – als ein Kommunikations-Aspekt, d.h. als ein Signal unspezifizierten Nichtwissens ( eine Kontingenzentgrenzung), das absolute Signifikanz beanspruche: Durch Katastrophe wird etwas unabweisbar nicht Gewolltes kommuniziert. (Spezifiziertes Nichtwissen führe hingegen vermöge Kontingenzlimitation zur Abwägung und ggf. zur Inkaufnahme von Risiken).
Überwiegend jedoch wird Katastrophe seit 1975 figurations-, konflikt- und tauschtheoretisch (nach Lars Clausen u. a.) als ein besonderer sozialer Wandel aufgefasst, und zwar zugleich in dessen drei Dimensionen
- (i) der "Rapidität",
- (ii) der "Radikalität" (diese beiden auf Ralf Dahrendorf fußend) und
- (iii) der "Ritualität":
als (i) extrem beschleunigter, (ii) extrem vernetzender (gründlicher) und (iii) extrem magisierter (dämonisierter) sozialer Wandel. Als erarbeitete katastrophensoziologische Schlüsselkonzepte bzw. -modelle sind hier exemplarisch zu nennen der Experten-Laien-Konflikt, das (strukturelle) Stadienmodell FAKKEL, das (operative) Phasenmodell LIDPAR, der Noah-Effekt, die Sündenbocksuche.
Ergebnisse
Die theoretischen und praktischen Ergebnisse der Katastrophensoziologie (z.B. im „Dritten Gefahrenbericht“ von 2006 der Schutzkommission, siehe auch „Literatur“) sind in der Soziologie wenig, stark aber in der Praxis des Katastrophenschutzes rezipiert worden. Man muss diese fachliche Schieflage nicht auf die Unerheblichkeit der theoretischen Befunde beziehen - keine US-amerikanische oder deutsche Universität fördert hier Grundlagenforschung, und problembezogene drittmittelfinanzierte Untersuchungen bestimmen den Forschungsalltag einschneidend und verbringen die Ergebnisse in umfangreiche Forschungsberichte, die nur über Weblinks (vgl. u.) öffentlich zur Verfügung stehen.
Literatur
- Lars Clausen/Wolf R. Dombrowsky) Einführung in die Soziologie der Katastrophen, Bonn: Bundesamt für Zivilschutz 1983
- Lars Clausen, Krasser sozialer Wandel, Opladen: Leske + Budrich 1994
- Lars Clausen/Elke M. Geenen/Elísio Macamo (Hgg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen (mit allgemeinsoziologischen Theorieansätzen [Clausen, Japp, Quarantelli, Stallings], Forschungsergebnissen, umfangreicher internationaler Bibliographie und einem „Katastrophensoziologischen Glossar“), Münster (LIT-Verlag): 2003, ISBN 3-8258-6832-X
- Lars Clausen, Schwachstellenanalyse aus Anlass der Havarie der PALLAS, Bonn (Bundesverwaltungsamt - Zentralstelle für Zivilschutz) 2003, ISSN 0343-5164 (mit einem seerechtlichen Untergutachten von Doris König)
- Wolf R. Dombrowsky, Katastrophe und Katastrophenschutz, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1989
- Wolf R. Dombrowsky/Willi Streitz/Horenzcuk, Jörg, Erstellung eines Schutzdatenatlasses. Zivilschutzforschung. Neue Folge Bd. 51, Schriftenreihe der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, Bonn: Bundesverwaltungsamt 2003
- Wolf R. Dombrowsky, "Mentale und psychologische Effekte", in: 20 Jahre nach Tschernobyl - Eine Bilanz aus Sicht des Strahlenschutzes. Berichte der Strahlenschutzkommission (SSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Heft 50. Berlin: H. Hoffmann GmbH Fachverlag 2006, S. 159-204
- Ronald Perry/[[Enrico L. Quarantelli (Hg.): What Is A Disaster? New Answers To Old Questions. Philadelphia: Xlibris Corporation 2005, S. 79-96
Weblinks
- Katastrophenforschungsstelle, Institut für Soziologie, Universität Kiel: [1]
- Offenes Portal für Interessierte der sozialwissenschaftlich orientierten Katastrophenforschung,[2]
- Netzwerk jüngerer KatastrophenforscherInnen und Katastrophenforscher (KatNet) mit deutschsprachiger Mailingliste,[3]