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Christoph Schlingensief

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Christoph Schlingensief (* 24. Oktober 1960 in Oberhausen) ist ein deutscher Film- und Theater-Regisseur, Hörspielautor, Aktionskünstler und Talkmaster.

Er ist Sohn eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester. Geprägt wurde er unter anderem von seinem Einsatz in der Katholischen Jugend, u.a. als Ministrant. Schon früh veranstaltete er im Keller seiner Eltern "Kulturabende". Künstler wie Helge Schneider oder Theo Jörgensmann sind dort aufgetreten.

Film

Schlingensief begann bereits mit zwölf Jahren mit Schmalfilmen zu experimentieren, versuchte sich in seiner Studienzeit als Musiker (Vier Kaiserlein, u.a mit Tobias Gruben) und wurde durch die provozierenden Filme seiner Deutschlandtrilogie 100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Stunde im Führerbunker, Das deutsche Kettensägenmassaker und Terror 2000 bekannt.

Aktionskunst

Mit seiner Theater-Performance im Bundestagswahlkampf 1998, der Gründung seiner Partei Chance 2000, scheiterte er daran, die Grenzen zwischen Kunst und politischer Agitation verwischen zu wollen. Der mediale Höhepunkt war die Einladung an alle vier Millionen deutschen Arbeitslosen, gemeinsam im Wolfgangsee zu baden und ihn so zum Überlaufen zu bringen, um das Urlaubsdomizil von Helmut Kohl zu fluten, was selbstverständlich nicht gelingen konnte. Er nannte sie die Partei der Arbeitslosen und von der Gesellschaft Ausgegrenzten. Der Wahlslogan war bezeichnenderweise "Scheitern als Chance!". Das Parteiprogramm konnte man im Buchhandel käuflich erwerben.

Diese und folgende Theater- und Kunstaktionen stehen in der Tradition der sozialen Plastik nach Joseph Beuys (Erweiterter Kunstbegriff). Zur Methodik Schlingensiefs gehört die Überidentifikation, indem er rechte Positionen ernst nimmt und durch Übertreibung ins Absurde und Kriminelle übersteigert, um so die Gedankenwelt des Gegners zu überführen.

Weitere Beispiele

  • Die Mission war eine Aktion in Hamburg, bei der am Hauptbahnhof eine Art sozial-kulturelle Missionsstation gegründet wurde, in der kulturelle Veranstaltungen stattfanden, aber auch Obdachlose und Junkies sich aufhielten und Kommunikation jenseits von "Betreuung" stattfand. Die Mission besteht bis heute.
  • 2002 startete Schlingensief die Aktion Tötet Möllemann, mit der er die von manchen als antisemitisch empfundenen Äußerungen von Jürgen Möllemann persiflierte. Außerdem eröffnete er die Internetseite aktion18.de, die vorgab, eine FDP-Seite zu sein und mit rechtsextremen Inhalten gefüllt war.
  • Er selbst zog sich den Vorwurf der Judenfeindlichkeit zu, indem er sich im Rahmen eines Auftritts des Bubis-Grabschänders Meir Mendelssohn mit einem ironischen Aufruf an das Publikum, das Wort Judensau (...), ganz normal und ganz natürlich zu sagen, beteiligte.
  • Mit seiner Aktion bei den Wiener Festwochen 2000 Bitte liebt Österreich führte er den Umgang mit Asylbewerbern vor, indem er einen Container mit Asylanten vor die Wiener Staatsoper stellte und deren angebliche Abschiebung per Internet-Voting propagierte.
  • In der Kunstaktion Nazis raus (2001) thematisierte er den Umgang mit Aussteigern aus der Neonaziszene.
  • Kontrovers wurde auch seine Freakshow auf Viva aufgenommen, in der er laut Gegnern Behinderte auf schäbige Art vorgeführt und sich über sie lustig gemacht hätte. Schlingensief entgegnete, dass ein solches "Vorführen" dem üblichen Dahinvegetieren in Behindertenheimen vorzuziehen sei.
  • Mit dem Projekt Church of Fear trat er auch auf dem katholischen Weltjugendtag 2005 auf.
  • Er führte einen Boxkampf mit Rap-Performance-Artist Splatterdandy aka Toaster.

Theater

Unter Schlingensiefs Leitung entstanden zahlreiche Produktionen an der Volksbühne in Berlin. Danach wurde er auch an viele andere bedeutende Schauspielhäuser im deutschsprachigen Raum zu Produktionen eingeladen, wobei meist mit bewusst inszenierten Skandalen zu rechnen war. Im Jahr 1997 nannte ihn der Kritiker C. Bernd Sucher in der Süddeutschen Zeitung euphorisiert einen "der letzten Moralisten unter den deutschen Theatermachern", der nicht um der Provokation willen provoziere, sondern "trotzig wie ein Kind und starrsinnig wie ein Weiser auf die herrschenden Verhältnisse" reagiere. Genau das bestreiten inzwischen einige Kritiker, die dem Aktionskünstler Provokation der Provokation willen, Aktionismus und Populismus ohne tiefergehende Auseinandersetzung bescheinigen.

2001 inszenierte er sein grösstes Theaterprojekt in Zürich den "Hamlet". Hier wurden vorgeblich ausstiegwillige Neo-Nazis rund um Torsten Lemmer in den Hamlet integriert. Kritische Stimmen hingegen äußern, dass Lemmer die von Schlingensief gebotene Möglichkeit gleichfalls genutzt habe, sein altes rechtes Image, ähnlich wie schon seinerzeit die Band "Böhse Onkelz", etwas aufzubessern.

2004 inszenierte er bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth mit Parsifal seine erste Oper, bei der er der überwältigenden Musik Wagners eine ebenso bombastische Bilderflut entgegensetzte. Die "Skandale" wurden diesmal vor allem im pressewirksamen Schlagabtausch zwischen Regisseur und Parsifaldarsteller inszeniert. Einige Kulturkritiker zeigten sich erstaunt, wie ernsthaft Schlingensief die Auseinandersetzung mit dem Werk Wagners angegangen sei und dass sich der vermeintliche Bürgerschreck mehr als Regisseur statt als Provokateur betätigt habe. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich ebenfalls begeistert.

Schlingensiefs Theaterprojekt Area 7 - Matthäusexpedition war im Januar und Mai 2006 am Wiener Burgtheater zu sehen.

2005 engagierte sich Christoph Schlingensief für Menschen mit Down-Syndrom und nahm an einer Posterkampagne des DS-Infocenters teil. Auf den Postern und Postkarten, die im Oktober 2005 veröffentlicht wurden, ist er mit der Schauspielerin und Serviererin Jenny Lau zu sehen, die das Down-Syndrom hat. Das Motto der Bilderserie lautete: „Menschen mit Down-Syndrom leben oft in einer komplett anderen Welt. Wie jeder andere Schauspieler auch.

Schlingensief füllt die Rolle des "Skandalkünstlers" inzwischen so unwidersprochen aus, dass in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, dass die von ihm angegriffenen Institutionen ihn längst integriert haben, beziehungsweise er mit ihnen eng zusammenarbeitet. So wird er von der gleichen Zürcher Galerie vertreten, die auch die Flick-Kollektion betreute. Das Nichtaustragen der Widersprüche und der "Schlingensiefsche Verwertungskosmos", so René Hartmann in der taz vom 17. Januar 2007, führt zu einer "sich selbst verdauenden Referenzhölle". Hartmanns Fazit: "Um Erkenntnis, Licht geht es bei Schlingensief schon lange nicht mehr."

Professur

Seit Oktober 2005 hat Schlingensief eine Gastprofessur an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, für den Bereich "Kunst in Aktion", inne.

Aktionen und Werke

Filmografie (Auswahl von ca. 35)

Fernsehen

  • U 3000, auf MTV (2000) - Die Show wurde in einer fahrenden U-Bahn aufgenommen. Fahrgäste wurden in das Geschehen mit einbezogen.
  • Talk 2000, auf VOX - Getreu seine Idee "Jeder ist ein Talkmaster" entwickelte Schlingensief diese Talkshow als einen Dialog zwischen Talk-Gästen und Publikum, nicht immer erfolgreich.
  • Freak Stars 3000, auf VIVA - Menschen mit geistiger Behinderung in einer Casting-Show. Was anfangs als eine Parodie auf Sendungen wie Deutschland sucht den Superstar angelegt war, entwickelte schnell eine sehr eigene Dynamik und wuchs über das ursprünglich Geplante hinaus.

Theaterinszenierungen

Bücher, Hörbücher und Videofilme

  • "Rosebud" Hörbuch-CD Ausgezeichnet mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 2003. 40 Min. 2004, PATMOS
  • "Rosebud" 2002, KIEPENHEUER & WITSCH
  • "Nazis rein/Nazis raus". Torsten Lemmer/Christoph Schlingensief

, 2002, SUHRKAMP

  • (mit Johannes Stüttgen): "ZUM KAPITAL - Als Christoph Schlingensief das Unsichtbare gesucht hat." 2000, FIU-Verlag, Vorzugsausgabe mit Video
  • "Engagement und Skandal" Gespräch zwischen Josef Bierbichler, Christoph Schlingensief, Harald Martenstein und Alexander Wewerka. Mit e. Essay v. Diedrich Diederichsen 1998, ALEXANDER VERLAG
  • "SCHLINGENSIEF, CHRISTOPH. AC: Church of Fear". Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig Köln, 2005. Interviews von Hans Ulrich Obrist & Alice Koegel, Text von Jörg van der Horst (Schlingensief-Dramaturg). Texte in dt. & engl. Sprache.