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Oury Jalloh

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Oury Jalloh (* 2. Juni 1983; † 7. Januar 2005 in Dessau) war ein Asylbewerber aus Sierra Leone, der während eines Brandes in einer Zelle des Polizeireviers Dessau in Sachsen-Anhalt ums Leben kam.

Die Polizeileitung stellte den Todesfall anfänglich als Freitod dar. Spätere Ermittlungen ergaben, dass der Afrikaner die feuerfeste Matratze seiner Pritsche selbst angezündet haben soll. Der Bürgerkriegsflüchtling war zu diesem Zeitpunkt mit ausgestreckten Armen und Beinen angebunden. Die genauen Gründe seines Todes sind bis heute nicht aufgeklärt.

Biographie

Oury Jalloh war in Sierra Leone vor Bürgerkrieg und Massakern geflohen. Sein kranker Vater und seine Mutter blieben in der Heimat und wurden von Jalloh unterstützt. Mit einer Freundin hatte er ein Kind, um dessen Sorgerecht er kämpfte. Bei seinem Tod war er seit 4 Jahren in Deutschland und 21 Jahre alt.

Polizeiliche Darstellung

Laut Polizeiangaben wurde Jalloh in angetrunkenem Zustand in Gewahrsam genommen, nachdem er mehrere Frauen belästigt hatte. Gegen die Festnahme im Rahmen einer Personenkontrolle habe er Widerstand geleistet. Der Gefesselte verbrachte zweieinhalb Stunden in einer Zelle unter Kontrolle der Beamten. Die letzte Überprüfung der gefliesten Zelle erfolgte etwa zehn Minuten vor Ausbruch des Feuers. Danach sei es dem gefesselten Asylbewerber gelungen, aus seiner Tasche ein Feuerzeug zu fischen und seine Kleidung zu entzünden. Nachdem die Matratze in Flammen aufgegegangen war, verstarb der am lebendigen Leib verbrannte Gefangene an einem Hitzeschock. Über eine Sprechanlage konnte der Dienstgruppenleiter im ersten Stock die Zelle im Kellergeschoss abhören. Wegen eines Telefonats stellte der Beamte die Anlage zwischenzeitlich leise. Später hörten er und eine Kollegin „plätschernde Geräusche“, während gleichzeitig der Rauchmelder Alarm auslöste. Der Dienstgruppenleiter schaltete den Feueralarm vollständig ab, weil die Rauchmelder schon mehrfach falsch angeschlagen hätten. Als später der Lüftungsschalter anschlug und das „Plätschern“ lauter wurde machte er sich auf den Weg zur Zelle. Wegen der Rauchentwicklung gelang es nicht, den an die Matratze gefesselten Gefangenen zu retten.

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen

Einen Monat nach dem Vorfall wurde der Tod von Jalloh in der Öffentlichkeit bekannt. Zwei Wochen später begann die Staatsanwaltschaft mit Ermittlungen. Die Anklagevertretung ging am 27. Mai 2005 davon aus, der Tod des Asylbewerbers sei bei zügigerem Eingreifen vermeidbar gewesen. Die für die Untersuchung des Inhaftierten zuständigen Polizisten sagten zunächst aus, die Taschen des Gefangenen gründlich durchsucht zu haben und lediglich Taschentücher gefunden zu haben. Der schon mehrfach wegen Drogendelikten aufgefallene Jalloh habe sich mehrfach zur Wehr gesetzt und dabei mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Mit 2,98 Promille Alkohol, Cannabis und Kokain im Blut sei er zunehmend aggressiv geworden. Gegen den Dienststellenleiter Andreas S. läuft als Hauptangeklagten seit dem 6. Mai 2005 ein Verfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge, weil dieser den Feueralarm mehrfach abgeschaltet habe, obwohl durch die Sprechanlage Schreie von Jalloh zu vernehmen gewesen seien. Laut innenpolitischem Sprecher der PDS-Landtagsfraktion von Sachsen-Anhalt, Matthias Gärtner sei die Brandmeldeanlage am 14. September 2004 repariert worden und seitdem fehlerfrei gelaufen. Auch dies kam erst durch die Aussagen einer Polizistin ans Tageslicht, welche zum Tatzeitpunkt sich im Zimmer des Dienstgruppenleiters Andreas S. befand. Später widerrief sie diese Aussage.

Feuerleute bezeugten, die verbrannte Leiche im ausgestreckten Zustand gefunden zu haben. Erst danach erwähnte die Polizeidirektion Dessau dem Innenausschuss des Landtages gegenüber, dass der Gefangene an Händen und Füßen an der Wand der Gewahrsamszelle fixiert worden sei. Die gängige Fixierung durch erzwungene Zwangslage der Flüchtlinge in sogenannten Ruhigstellungszellen stufte der Anti-Folter-Ausschuss des Europarates (CPT) schon am 6. Juli 2001 und im Frühjahr 2003 als Folter ein. Das absolute Folterverbot gilt als Kernbestand der deutschen Rechtsstaatlichkeit. Die polizeilichen Vorschriften erlauben eine solche „Fixierung“ daher ausschließlich, wenn Gefahr besteht, dass sich der Inhaftierte selbst verletzt. Brüche an beiden Handgelenken kamen auch erst vor dem Ausschuss in Magdeburg zur Sprache. Die Obduktion ergab, dass der Gefangene in der auf über 350 Grad Celsius erhitzten Zelle an einem Hitzeschock gestorben sei. In der Zelle fand das Landeskriminalamt Magdeburg später die Reste eines Feuerzeugs. Mangels Indizien für die vorsätzliche Tat eines Dritten geht die Staatsanwaltschaft Dessau davon aus, dass der Afrikaner die Matratze selbst angezündet hat. Laut Innenministerium von Sachsen-Anhalt hatte die Matratze einen laut Hersteller schwer entflammbaren Bezug aus Kunstleder, „jedoch könne eine Beschädigung des Überzuges nicht ausgeschlossen“ werden. Eine solche Beschädigung kann laut Staatsanwalt Folker Bittmann die Matratze leichter entflammbar machen. Die Putzfrau des Reviers erinnerte sich an keine Vorschäden am Kunstleder und die Brandgutachten gehen nicht davon aus, Jallohs brennende Kleidung hätten die Matte entflammen können. Die von der Rechtsanwältin der Familie des verstorbenen Familienvaters beantragte Röntgenuntersuchung lehnte die Staatsanwaltschaft ab. Nach Rücksprache mit dem Rechtsmedizinischen Institut bestünde kein Anlass für eine weitere Untersuchung. Die Vernehmungsprotokolle verzeichnen jedoch Handgreiflichkeiten zwischen Polizei und Gefangenem und die Mitteldeutsche Zeitung berichtete über gebrochene Handgelenke. Unklar ist auch nach Aussagen der Anwältin die Herkunft des Feuerzeugs. Die Aservatenliste vom 10. Januar führt das Utensil nicht auf, sondern erst die Liste vom 11. Januar. Mehrere Initiativen finanzierten eine zweite Obduktion, so dass die für den 29. März (Ostermontag) geplante Abschiebung des Leichnams ausgesetzt wurde. Der gerichtsmedizinische Befund aus Frankfurt am Main ergab einen Bruch des Nasenbeins, zerstörte Trommelfelle und Einbrüche an den Siebbeinplatten der Nase. Dies kann auf starke Misshandlungen zurückzuführen sein. Wegen der Brandschäden war keine Diagnose möglich, ob innere Organe geschädigt waren oder das Brandopfer zum Zeitpunkt des Feuers eventuell schon tot war. Die Schädigungen könnten auch bei der ersten Untersuchung entstanden sein.

Nach Veröffentlichung der Ergebnisse in den Medien behaupten Innenministerium und Generalstaatsanwaltschaft, die Unterlagen nicht zu kennen. Die Naumburger Behörde wies am 6. Juni 2005 auch ausdrücklich darauf hin, es sei „ungesetzlich, wesentliche Teile der Anklageschrift oder anderer amtlicher Schriftstücke eines Strafverfahrens ihrem Wortlaut nach zu veröffentlichen bevor sie in der Gerichtsverhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist“. Im Oktober 2005 verwies das Landgericht Dessau das Verfahren zurück an die zuständige Staatsanwaltschaft mit der Forderung nach weiteren Ermittlungen. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg (Saale) hatte am 6. Juni 2005 das Landgericht zur weiteren Entscheidung angerufen. Eine Polizistin, welche bislang als Kronzeugin aufgetreten war, zog inzwischen ohne weitere Begründung ihre eigene Aussage zurück. Schon im Oktober 2002 verstarb in Dessau unter demselben Dienstgruppenleiter ein Gefangener im Polizeigewahrsam. Laut Polizeibericht erlag der Häftling inneren Verletzungen, welche er schon vor der Festnahme erlitten habe. Die Umstände blieben zum größten Teil ungeklärt. Der Dienstgruppenleiter wurde nach dem zweiten Todesfall zunächst nach Wittenberg versetzt und dann vom Dienst suspendiert. Auch die beiden anderen Angeklagten wurden vorläufig in andere Dienststellen versetzt.

Prozess

Am 27. März begann vor dem Landgericht der Prozeß um den Tod von Jalloh. Der zuständige Dienstgruppenleiter Andreas S. muß sich wegen Körperverletzung mit Todesfolge veranworten, der mitangeklagte Kollege Hans-Ulrich M. wegen fahrlässiger Tötung. [1], [2]

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Polizeibeamte Hans-Ulrich M. und der Dienstgruppenleiter Andreas S. Mitschuld fahrlässige Tötung vor. Nach der Darstellung der Staatsanwaltschaft "soll es Jalloh selbst trotz der Fesseln gelungen sein, ein Feuerzeug aus seiner Hose zu holen, ein Loch in die kunstlederne Matratze zu bohren und den darin befindlichen Schaumstoff zu entzünden. Gleichwohl trügen der Polizeibeamte Hans-Ulrich M. und der Dienstgruppenleiter Andreas S. Mitschuld am Tod des Asylbewerbers. M. habe bei der Durchsuchung Jallohs dessen Feuerzeug übersehen. S. soll den mehrfach ausgelösten Feueralarm minutenlang ignoriert haben. Bei einer sofortigen Reaktion, so die Anklageschrift, ›hätte er Ouri Jalloh das Leben retten können.‹" [3]

Seitens der Nebenkläger wird diese Darstellung von Ulrich von Klinggräff widersprochen und als "reine Hypothese" bezeichnet: "Es seien auch "gänzlich andere Geschehensabläufe denkbar". Er hoffe, das Gericht werde die "Kette von Unwahrscheinlichkeiten" genau beleuchten. [4]

Vor Prozessbeginn äußerte sich der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte Rolf Gössner und bezeichnete das Verhalten der Polizeibeamten als: "Mord aus rassistischen Motiven". [5]

Zu dem Prozess hat sich eine internationale Delegation angekündigt, die den Prozess beobachten wollen. Sie setzt sich aus Vertretern aus den Ländern Frankreich, Großbritannien, Südafrika und Deutschland zusammen. [6]

Reaktionen

  • Zwei Wochen nach Oury Jallohs Tod (22. Januar) organisierte die Initiative Oury Jalloh eine Demonstration in Dessau und forderte eine schnelle Aufklärung.
  • Acht Wochen nach dem Todesfall, am 3. März 2005, bedauerte der Landtag Sachsen-Anhalt den Vorfall.
  • 26. März 2005 Trauerkundgebung
  • Am 5. August 2005 fand ein landesweites Hearing zum Fall in Dessau mit den Anwälten der Nebenklage statt
  • Am 4. Januar 2006 wurde die Doku "Tod in der Zelle - Warum starb Oury Jalloh" von Marcel Kolvenbach und Pagonis Pagonakis in der ARD ausgestrahlt
  • Am 7. Januar 2006 fand in Dessau zum einjährigen Todestag von Oury Jalloh eine Mahnwache unter dem Motto »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Aufklärung!« statt.
  • Am 1. April 2006 fand in Dessau unter dem Motto "Break the silence - Gegen rassistische Staatsgewalt, Vertuschung und Straflosigkeit" eine bundesweite Demonstration statt, an der sich ca. 1000 Menschen beteiligten, allerdings sehr wenige Dessauer.
  • Am 20. Dezember 2006 kam es bei Dessau und in Wolfen zu 2 Anschlägen zu denen sich laut Bundesanwaltschaft die militante gruppe (mg) bekannte: Das Haus eines leitenden Polizeibeamten aus dem Polizeirevier in dem Jalloh starb wurde mit Farbe beschmiert, und die Garage eines Arztes der Jalloh untersucht haben soll wurde in Brand gesetzt. [7][8]


Rassistische Reakionen

Unter der Überschrift "Ein Afrikaner zündet sich an und schuld ist mal wieder die Polizei", erschien am 2. April 2005 auf einer NPD-Webseite ein Hetzartikel gegen den verbrannten Flüchtling. Oury Jalloh wurde von der NPD als "der Missetäter" bezeichnet, "beköstigt und alimentiert vom deutschen Volk, dazu freie medizinische Versorgung und allerlei sonstige soziale Vergünstigungen". Im NPD-Jargon wurde der Tod Oury Jallohs wie folgt beschrieben: "Kein Mensch konnte damit rechnen, dass der Herr Asylant mittels des am Körper versteckten Feuerzeuges binnen weniger Minuten die Matratze auf 350 Grad Celsius erhitzt. Und das sind schließlich Temperaturen, die selbst für einen an Hitze gewohnten Westafrikaner eindeutig zu viel sind." Der für die Veröffentlichung des rassistischen Artikels verantwortliche Jens B., Mitglied des NPD-Kreisverbandes Magdeburg, wurde am 18. Mai 2006 wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit übler Nachrede vom Amtsgerichts in Oschersleben verurteilt. [9]

Zeitungsberichte

Fernsehen

Film

  • Marcel Kolvenbach und Pagonis Pagonakis: "Tod in der Zelle - Warum starb Oury Jalloh?" (2006)

Der Film erhielt den "Deutschen Menschenrechts-Filmpreis" 2006

im Internet

Berichte über die bundesweite Demo am 1. April 2006 in Gedenken an Oury Jalloh

Quellen

  1. Prozeß wegen fahrlässiger Tötung Junge Welt, 24. März 2007
  2. Jörg Schindler: Verbrannt in einer Zelle. Prozess gegen Polizisten. Frankfurter Rundschau vom 27.03.2007 [1], eingesehen am 27.03.2007.
  3. Jörg Schindler: Verbrannt in einer Zelle. Prozess gegen Polizisten. Frankfurter Rundschau vom 27.03.2007 [2], eingesehen am 27.03.2007.
  4. Jörg Schindler: Verbrannt in einer Zelle. Prozess gegen Polizisten. Frankfurter Rundschau vom 27.03.2007 [3], eingesehen am 27.03.2007.
  5. Jörg Schindler: Verbrannt in einer Zelle. Prozess gegen Polizisten. Frankfurter Rundschau vom 27.03.2007 [4], eingesehen am 27.03.2007.
  6. Jörg Schindler: Verbrannt in einer Zelle. Prozess gegen Polizisten. Frankfurter Rundschau vom 27.03.2007 [5], eingesehen am 27.03.2007.
  7. Bundesanwalt ermittelt gegen "Militante Gruppe", Volksstimme, 29. Dezember 2006
  8. Feuertod ruft linke Radikale auf den Plan, Mitteldeutsche Zeitung, 28. Dezember 2006, dokumentiert bei attac.de
  9. Renate Oschlies: Hetze nach Feuertod in der Polizeizelle. Siehe Press Release: NPD on Trial in Oury Jalloh’s Case. The Voice Refugee Forum [6] Submitted by voice on Fri, 21/04/2006