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Feindesliebe

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Als Feindesliebe bezeichnet man ein individuelles und soziales Verhalten, das eine Situation der Feindschaft durch bewusste Wohltaten für Feinde zu überwinden sucht. Dieses Verhalten ist ursprünglich religiös begründet. Es wird oft als christliche Besonderheit aufgefasst. Im heutigen interreligiösen Dialog wird jedoch erkannt, dass Gutestun gegenüber Feinden ungeachtet verschiedener Begründungen auch in anderen Religionen eine bedeutende Rolle spielt.

Feindesliebe im Judentum

Die hebräische Bibel kennt kein ausdrückliches Gebot der Feindesliebe. Doch das gemeinte Verhalten kommt im "Alten" Testament (AT) vor und ist in seiner Theologie angelegt.

Das Zentralgebot der Nächstenliebe (3. Mose 19, 17f) fordert Versöhnung mit dem feindlichen Nächsten, Loslassen von Hass, Ablegen von Zorn, Verzicht auf Rache, um Feindschaft innerhalb des Gottesvolks zu überwinden.

Gleichrangig verbietet das Gebot der Fremdenliebe (3. Mose 19, 33-34) Versklavung von Ausländern, fordert ihren Schutz und ihre Gleichberechtigung in Israel. Das wird mit Gottes Exodushandeln begründet.

Die Bibel betont durchgängig Israels Besonderheit gegenüber den Völkern. Diese Erwählung begründete oft gewalttätige Selbstbehauptung und Rache. Aber sie enthielt ein Zukunftsversprechen Gottes für alle: „In dir sollen gesegnet werden alle Generationen der Erde.“ (1. Mose 12, 3).

So kennt das AT auch die gewaltlose Beendung von Krieg: Durch Gottes Geist führt ein Prophet eine feindliche Übermacht in die Gefangenschaft, bereitet ein Festmahl für sie und lässt sie dann ziehen. Dieses aktive Segnen beendet die Feindschaft zwischen Israel und seinen Nachbarn (2. Kön. 6, 8-23).

Die Spruchweisheit begründet dieses Verhalten mit einem Gebot: „Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser. So wirst Du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln und Gott wird´s Dir vergelten!“ (Spr. 25, 21)

Im Exil verband die Prophetie Israels Heilserwartung mit dem Völkerfrieden, der die Schöpfung verwandelt und den Fluch der Feindschaft (Gen. 3, 15) überwindet (Jesaja 11, 1-10). Deuterojesaja verhieß mit der Heimkehr der Exilierten eine neue Form des Gottesdienstes, der Fremde nicht mehr ausschließt. Israel sollte durch vorbildliches Befolgen der Gebote zum "Licht der Völker" werden (Jes. 49, 1-6).

Demgemäß lehrten reformorientierte Rabbiner wie Hillel das Segnen auch der Fremdvölker schon vor Jesus.

Feindesliebe im Christentum

Das Gebot der Feindesliebe wird auf Jesus von Nazareth zurückgeführt. Es erscheint im Neuen Testament (Mt. 5, 44/Lk. 6, 27) als Ausweitung der Nächstenliebe, die äußere Feinde einbeziehen soll, entstammt also jüdischer Tradition. Jesus begründete es mit dem barmherzigen Segen des Schöpfers (Gen. 8, 22). Es will Juden und ihre Feinde zu „Kindern Gottes“ machen und so seine Vollkommenheit abbilden (Mt. 5, 45-48). Demgemäß stellte Jesus Nächstenliebe mit Gottesfurcht gleich (Mk. 12, 28-34).

Der Kontext der Bergpredigt lässt Israels damalige Lage erkennen: Sie war von „schlagen“, „berauben“ und „nötigen“ geprägt. „Feinde“ waren aktuelle Verfolger von Jesu Volk und Nachfolgern. Er verlangte, sie zu segnen, ihnen wohl zu tun, für sie zu beten (Mt) oder ihnen zu geben (Lk) und auf Gerichtsverfahren, Gegengewalt und Rückgabe zu verzichten. - Das wird heute als Anleitung zu einem gewaltlosen „Entfeinden“ der römischen Besatzer und jüdischen Ausbeuter verstanden (P. Lapide, G. Theißen). Als „Vorleistung“ zur Wahrung der eigenen Chancen war es im historischen Umfeld seit Daniels Apokalyptik plausibel (Flavius Josephus, Bellum Judaicum). Dietrich Bonhoeffer (Nachfolge) betonte jedoch, dass Jesus keine Veränderung des Feindes, sondern selbstlose Hingabe (Agape) an sein Heil erwartete.

Matthäus begründete Jesu Gebot mit Israels und der Nachfolger Auftrag, „Licht der Welt“ zu sein (Mt. 5, 14) und formulierte es als "Antithese" zur jüdischen Tradition (Mt. 5, 43f). Heutige Theologen betonen, dass der Kontrast nicht von Jesus stammt, da im Judentum kein Feindeshass geboten wird. Nur die Ordensregel von Qumran und antike Umwelt verlangten diesen. Aber Zeloten und Römer praktizierten gegenseitig Vergeltung im jüdischen Freiheitskampf. Deren Folgen wollte Jesu gewaltloses Segnen abwenden: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Mt. 7, 1/Lk. 6, 37).

Lukas stellte Jesu Gebot in den Kontext der reziproken „Goldenen Regel“: „So wie ihr wollt, dass euch die Menschen behandeln, so tut ihnen auch!“ (Lk. 6, 31) und wandte diese vor allem auf den Besitzausgleich zwischen Arm und Reich innerhalb christlicher Gemeinden an.

Paulus verstand Jesu Gebot als Verzicht auf Rache und Gegengewalt an römischen Verfolgern (Röm. 12, 21) im Sinne des AT (Spr. 25, 21). Später wurde es auf Bruderliebe reduziert (1. Joh. 4, 21), wobei „Brüder“ tendenziell alle Menschen einschloss.

Frühere Exegese betont die Radikalisierung der jüdischen Tora: Jesus übertrieb tradiertes Recht, um Gottes wahren Willen bewusst zu machen. Es ging ihm immer um die Grundeinstellung zum Mitmenschen. Sein „Feind“-Begriff unterschied nicht zwischen persönlichem (griechisch „echtros“) und kollektivem Gegner („polemios“) oder ethnisch Fremdem. Darum wurde Feindesliebe als unerreichbares Vollkommenheitsideal aufgefasst: für eine moralische Elite (Mönchstum, katholische Zwei-Stufen-Ethik) oder als Spiegel der menschlichen Sünde für alle (Martin Luther).

Heutige Exegese betont, dass Jesu Gebote das Leben im Reich Gottes vorwegnehmen, aber nirgends Unerfüllbarkeit voraussetzen, sondern Erfüllung von allen Nachfolgern erwarten (Mt. 7, 21ff).

Jesus lebte dies vor. Seine Tempelreinigung (Mk. 11, 15-17) griff die Feindschaft zwischen Israel und den Völkern an. Bei seiner Festnahme leistete er keine Gegenwehr und verbot sie seinen Jüngern (Lk. 22, 51). Im Verhör vor Kaiphas (Jh. 18, 23) und Pilatus (Mk. 15, 1-4) nahm er nur geltendes Recht in Anspruch. Er begehrte keine Rache, sondern bat Gott noch am Kreuz um Vergebung für seine Mörder (Lk. 23, 34) und solidarisierte sich mit allen Unrecht Leidenden (Mk. 15, 34/Ps. 22/Jes. 53).

Darum verkündete die urchristliche Theologie gerade Jesu Tod als Überwindung der Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden (Eph. 2, 13f) und verstand Feindesliebe als Zeugnis davon, das bis zum Martyrium gehen konnte.

Feindesliebe im Hinduismus

Die ältesten Veden enthalten das Prinzip des Nichtverletzens (Ahimsa), das einen wesentlichen Aspekt des göttlichen Brahma abbildet. Daraus leitete Mahatma Gandhi prinzipielle Gewaltfreiheit gegenüber Feinden ab, die er als ein Festhalten der Wahrheit (Satyagraha) gegen kulturelle und nationale Fremdbestimmung verstand.

Feindesliebe im Buddhismus

In Buddhas Lehre ist das Überwinden von Feindschaft und Leid, das Entwickeln von Toleranz und Mitgefühl für alle Lebewesen zentral. So heißt es im Dhammapada aus dem Palikanon (Verspaar 3-5): "Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so denkt, der wird die Feindschaft nicht besiegen. Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so nicht denkt, der wird Feindschaft besiegen. Denn Feindschaft kommt durch Feindschaft zustande; durch Freundschaft kommt sie zur Ruhe; dies ist ein ewiges Gesetz."

In Vers 223 heißt es als Summe aus dem Vorangegangenen: "Besiege (erobere) Zorn durch Liebe. Besiege Böses durch Gutes. Besiege Anhaftendes (am Eigenen Festhaltendes) durch Geben. Besiege den Lügner durch die Wahrheit."

Feindschaft lässt sich also nur durch Liebe gerade zum Feind auflösen. Dazu muss man ihre wechselseitige Entstehung (paticca samuppada) durchschauen: Jeder Mensch verletzt sich selbst mit dem, was er anderen antut ("Karma"), und fördert sein Glück mit dem, was er ihnen Gutes tut. Für diesen Lernprozess ist der Feind nötig. So verhilft gerade er zu Selbsterkenntnis. Damit übernimmt man Verantwortung für eigenes Leid und projiziert immer weniger ungelöste Konflikte auf andere.

Darum lehrte der "Erwachte" Achtsamkeit, Barmherzigkeit, Geduld im Alltag und leitet zum Loslassen von negativen Emotionen an, die Gewalt erzeugen. Seine Lehre ist auf den Geist des Einzelnen bezogen und hat das Erlöschen allen Anhaftens (Nirvana) zum Ziel. Feindesliebe trägt dazu bei und dürckt wahre mitfühlende Natur aus. Diese erlaubt prinzipiell jedem fühlenden Wesen den Ausstieg aus dem Rad der ewigen Reinkarnation.

Das üben Buddhisten in Meditation und sozialem Engagement. Im heutigen Religionsdialog bieten sie ohne Missionsabsichten das gemeinsame Ein- und Ausüben von Feindesliebe an. Der heutige Dalai Lama z.B. stellt die Übereinstimmung der Lehre Jesu mit der Buddhas heraus und will Christen helfen, ihren eigenen Glauben im Alltag zu leben.

Die aufgeklärte Philosophie versuchte, christliche Ethik in allgemeine humane Ideale und Handlungsmaximen zu übersetzen (Immanuel Kants "Kategorischer Imperativ".)

Friedrich Nietzsche dagegen grenzte sich scharf vom jüdisch-christlichen Moralismus ab. Auch die Sigmund Freuds Psychoanalyse kritisierte Jesu Gebot als inhumane Überforderung und übersteigerten Altruismus.

Rosemary Ruether zeigte, dass Feindesliebe in der Kirchengeschichte gegenüber Juden fast nie praktiziert wurde, und machte den christlichen Antijudaismus für den Holokaust mitverantwortlich. - Im jüdisch-christlichen Dialog seit 1945 und in Diskussionen um einen „gerechten Krieg“ spielt das Thema eine wichtige Rolle.

Religiös-philosophische Ethik gewann allgemeingültige Leitlinien des Handelns daraus: z.B. Albert Schweitzer mit der "Ehrfurcht vor dem Leben" oder Emmanuel Levinas mit dem "Denken und Leben vom Anderen her". Auch das Projekt "Weltethos" von Hans Küng bezieht Impulse daraus.

Zusammenfassung

Heutige deutschsprachige Theologen (siehe Literatur) greifen Kritik an inhumanen Folgen missverstandener Feindesliebe auf und betonen:

Jesu Gebot verlangt keine unnatürliche Sympathie, keine bloßes Nachgeben des "Klügeren", keine heroische Selbstaufgabe, sondern eine gezielte Überwindung von Feindschaft. Es gibt dem Heil der Feinde Vorrang und will so auch die Bedrohten schützen. Es konnte aber in einer Verfolgungssituation auch zum Selbstopfer führen.

Jesu Selbsthingabe bezeugt Gottes Feindesliebe für alle Menschen, die Hass, Gewaltherrschaft und unnötiges Leid überwinden will. Seine Nachfolger sollten ihre Chancen wahren, eine rechtlose Lage zu verändern, indem sie strikt auf Gegengewalt verzichten. Jesus war dabei nicht passiv, sondern ging aktiv voran (latein „aggredi“). Er ließ sich die Wahl der Mittel nicht vom Gegner aufzwingen, weil Vergelten mit Gleichem unter Ungleichen nur zum Untergang führt. Er gab dagegen das Ziel eines gerechten Zusammenlebens nicht auf, sondern bewahrte es noch in seinem Leiden und Sterben. So lebte er vor, die üblichen Reaktionsmuster zu brechen, aus dem Teufelskreis der Gewalt auszusteigen und souverän auf Feinde zuzugehen, um Feindschaft abzubauen.

Dieses Konzept ermöglicht Opfern, ihre Ohnmacht zu überwinden, und Tätern, ihre Opfer als Menschen zu sehen. Es kann beider Menschlichkeit wiederherstellen. Es sucht Konflikte beharrlich mit dem Feind zu lösen. Es enthält Kampf, Leiden und Rückschläge, hat aber Aussicht, die Feindsituation langfristig zu überwinden. Es bringt Gegner auf einen gemeinsamen Weg, der zur Versöhnung führen kann.

Gegenposition

Bestimmte heutige Glaubenssysteme definieren sich ausdrücklich gegen Juden- und Christentum und deren ethische Konzepte: so z.B. der Satanismus nach Anton Szandor LaVey, der Feindesliebe als Negation des natürlichen Selbsterhaltungstriebes betrachtet und Selbstbehauptung auch gegen Feinde als natürliche Selbsterhaltung propagiert.

Literatur

- die Bibel (Elberfelder-, revidierte Luther- o.a. Übersetzung)

- das Dhammapada (viele Übersetzungen, z.B. von Thanissaro Bhikkhu)

- der babylonische Talmud (z.B. englisch übersetzt von Michael Rodkinson)

- Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft

- Friedrich Nietzsche, "Jenseits von Gut und Böse - Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" (1886)

- derselbe, "Zur Genealogie der Moral - eine Streitschrift" (1887)

- Dietrich Bonhoeffer, "Nachfolge" 1936

- Rosemary Ruether, "Nächstenliebe und Gottesmord" (1978)

- Emmanuel Lévinas, "Die Spur des Anderen" (1983)

- Heinz Kremers, "Gerechtigkeit und Liebe in Judentum und Christentum", Edition Adam Weyer, 1988

- Dalai Lama, "Das Herz aller Religionen ist eins: Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht", Verlag Hoffmann und Campe, ISBN 3-455-11125-4, 4. Auflage 1998

- Pinchas Lapide, "Der Jude Jesus"

- Jürgen Moltmann, "Der Weg Jesu Christi"

Siehe auch

Portal Bibel Bibel Altes Testament Judentum Tora Talmud Rabbiner Hillel Jesus von Nazareth Jesus Christus im Neuen Testament Bergpredigt Buddha Mahatma Gandhi Martin Luther King Gewaltlosigkeit Friedensforschung Pazifismus Ahimsa Satyagraha Altruismus Liebe

http://www.wispor.de/bib-berg.htm

http://www.sacred-texts.com/jud/talmud.htm

http://www.christen-und-juden.de/index.htm?html/middot.htm

http://www.uni-essen.de/unikate/pdf/21-schart.pdf.

http://www.juedisches-recht.de/DerAnfang-Hillel-Text.htm

http://www.buddhanetz.org/netzwerk/lehrer.htm

http://www.tibet.de/tib/tibu/2000/tibu53/53politik.html

http://www.johnworldpeace.com/budjesus.html

http://www.mkgandhi.org/

http://thekingcenter.com/

http://www.nonviolence.org/

http://www.graswurzel.net/

http://www.gewalt-ueberwinden.de/feindesliebe.htm

http://www.asf-ev.de/

http://www.paxchristi.de/

http://www.j-lorber.de/faq/6/feindesliebe.htm

http://www.emk-gfs.de/files/03Terrorisimus-Feindesliebe.doc

http://www.dmfk.de/index.php?id=49

http://www.sichselbstverteidigen.de/Nichtkampf-Prinzip-Buch.htm

http://www.unification.net/ws/theme144.htm