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Zeitgenössische Kenntnis vom Holocaust

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Die Frage, welche Kenntnisse die deutsche Bevölkerung von den NS-Verbrechen besaß, gilt als eines der letzten „Tabus der Zeitgeschichte“, das durch verschiedene Faktoren begünstigt wurde:

  • systematische Aktenvernichtung durch die Nationalsozialisten
  • fortwirkende massenpsychologische Abwehrmechanismen bei Tätern und Täternachfahren[1]
  • späte Veröffentlichungen von Primärquellen, darunter Verhörprotokollen der Alliierten und regelmäßigen Umfragen des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts aus den 1950er und 1960er Jahren: Darin erklärten zwischen 25 und 40 Prozent der Deutschen, die die NS-Zeit miterlebt hatten, sie hätten sehr wohl von den Massenmorden an Juden in den eroberten Gebieten Osteuropas gewusst.[2]
  • mit wachsendem Zeitabstand erschwerte Nachforschungen bei immer weniger Zeitzeugen, deren Eigenwahrnehmung Historiker zudem meist nicht als mit schriftlichen und sonstigen Dokumenten gleichrangige Quelle auswerten.

Damals bekannte Vorgänge der Judenverfolgung

Vorkriegszeit

Sämtliche staatlichen Maßnahmen gegen die Juden wurden bis 1939 vom NS-Regime selbst veröffentlicht. In den ab 1933 für Regimegegner und andere unerwünschte Personenkreise eingerichteten Konzentrationslagern wurden die Juden bereits deutlich schlechter behandelt als die meisten anderen KZ-Insassen. Erfahrungsberichte entlassener Häftlinge bestätigten dies auch für Nichtjuden.[3] Viele der vor und im Krieg eingerichteten Lager lagen nahe bei deutschen Siedlungen, so dass die dortigen Vorgänge vielen Einwohnern vor Ort bekannt waren und werden konnten. So gab es im Konzentrationslager Dachau einen Tag der offenen Tür für die Bevölkerung. Die Häftlinge der 23 innerdeutschen KZs und ihrer zahlreichen Außenlager wurden täglich durch deutsche Dörfer und Städte zu den Arbeitsorten geführt. Zudem waren einige Deutsche zeitweise in den KZs und Lagern beschäftigt oder leisteten Hilfsdienste, die sie zu Augenzeugen machten.

Die Enteignung („Arisierung“) jüdischen Besitzes machte viele Deutsche zu Nutznießern eines wichtigen Teilschrittes auf dem Weg zum Holocaust. Die Frage, was mit den enteigneten und nun vielfach nicht mehr ausreisefähigen Juden geschehen sollte, drängte sich besonders seit den Novemberpogromen 1938 allgemein auf. Darauf reagierten die NS-Zeitungen mit verstärkter antisemitischer Propaganda, die weitere Schritte wie die Gettoisierung der Juden und Errichtung von Lagern im Osten vorbereiteten.

Seit dem 30. Januar 1939 sprach Adolf Hitler in reichsweit ausgestrahlten Reden offen von der „Vernichtung“ der Juden, die er für den Fall eines neuen Weltkriegs „prophezeite“.[4]

Kriegszeit

Mitteilungen über die Massenmorde hinter der Ostfront und in den Arbeits- und Vernichtungslagern waren den Beteiligten streng untersagt. Gleichzeitig erzeugte die NS-Informationspolitik mit allgemeinen Andeutungen und sich nahelegenden Schlussfolgerungen in Zeitungs- und Wochenschauberichten bewusst eine Art Einverständnis und Mitwisserschaft der Deutschen.

Seit der auf den Polenfeldzug folgenden ersten Urlaubswelle für Wehrmachtssoldaten im Winter 1939/40 sickerten immer mehr Einzelheiten über die Vorgänge in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten durch. An Massenerschießungen beteiligte Deutsche berichteten ihren Verwandten in Briefen oder beim Heimaturlaub davon. In Verbindung mit den Pressemeldungen ergab die „Flüsterpropaganda“ dann allmählich immer genauere Vorstellungen davon, was mit den Juden im Osten geschah.

Die im Oktober 1941 begonnenen Deportationen aus den deutschen Großstädten vollzogen sich öffentlich auf Versammlungsplätzen und Bahnhöfen und waren vielfach von großen Mengen Schaulustiger begleitet. So wurden manche Schulklassen zum Zuschauen des Vorgangs auf den Bahnhöfen vom Unterricht befreit.[5] Die Transporte wurden als „Umsiedelung“ ausgegeben und waren von einer intensiven Hetzpropaganda begleitet. Deutsche Juden wurden dabei als „Volksfeinde“, Verbrecher, Verbündete der Kriegsgegner beschrieben, die entsprechend keine „Vorzugsbehandlung“ verdient hätten.

Auch die Einrichtung von Ghettos und großen Lagern wurden in Deutschland öffentlich bekannt gegeben. Ihr Zweck wurde jedoch für die meisten Deutschen mit der typischen NS-Tarnsprache bemäntelt und verschleiert. Für NSDAP-Mitglieder und Mitarbeiter der NS-Behörden wurde jedoch auch im Krieg die Absicht zur Judenvernichtung ab Herbst 1941 kaum verhüllt ausgesprochen. Dies wurde von den Beteiligten auch so verstanden (siehe dazu z.B. die Aussagen von Adolf Eichmann in seinem Prozess).

Seit der Niederlage in der Schlacht von Stalingrad und den alliierten Luftangriffen auf deutsche Städte trat die offene antisemitische Propaganda etwas zurück, da diese nun vermehrt auf Unverständnis und Unmut in Teilen der Bevölkerung stieß, den die Gestapo registrierte. Besonders der Versuch, das Massaker von Katyn als Vernichtungsabsicht der Sowjetunion gegenüber allen Deutschen auszugeben, scheiterte: Nach den Stimmungsberichten der SS hielt „ein großer Teil der Bevölkerung“ die Aufregung um Katyn für „heuchlerisch, weil deutscherseits in viel größerem Umfang Polen und Juden beseitigt worden seien“.[6]

Nachdem die oberen Ebenen der NS-Behörden spätestens seit der Wannseekonferenz im Januar 1942 in die Planungen zur Deportation von Millionen Juden in Arbeits- und Vernichtungslager eingeweiht worden waren, gaben NS-Zeitschriften in den letzten beiden Kriegsjahren immer deutlicher Details zum Holocaust bekannt. Die bisherige Geheimhaltungspolitik seitens der Wehrmacht wurde immer mehr gelockert, und es kam 1943 zu einem regelrechten „Hinrichtungstourismus“ (Ernst Klee) von Angehörigen, die bei einer Massenerschießung zuschauen wollten.[7] Die Vernichtungslager waren davon jedoch ausgeschlossen. In einem Artikel des Danziger Vorposten vom 13. Mai 1944 hieß es zu deren Ergebnissen, mittlerweile seien fünf Millionen Juden „ausgeschaltet“.[8]

Alliierte Medien

Der beginnende Holocaust war den Alliierten seit Herbst 1941 in immer mehr Details bekannt geworden. Dieses allmählich aus vielen Einzelteilen zusammengesetzte Wissen wurde in den Regierungen anfangs kaum Ernst genommen und dann nur zögernd an die Deutschen weitergegeben, da solche Berichte die Täter eher noch zur Intensivierung der Massenmorde anzutreiben schienen.[9] Doch ab 1942 sendeten die Auslandsabteilungen etwa der BBC regelmäßig auch in deutscher Sprache Details zur Judenvernichtung. Eine frühe Reportage nannte erste Zahlen, noch ohne daraus auf eine Ausrottungsabsicht zu schließen:[10]

Eine internationale Kommission gibt folgende Ziffern. In Deutschland sind von den etwa 200.000 Juden, die es 1939 dort gab, mindestens 160.000 verschleppt worden oder zugrunde gegangen. In Österreich leben von 75.000 Juden höchstens noch 15.000, in Böhmen und Mähren, wo es auch 80.000 Juden gab, gibt es nunmehr an die 10.000.

Thomas Mann sprach über den britischen Sender Anfang 1942 bereits von „Massentötungen durch Giftgas“. Unter den millionenfach über deutschem Gebiet abgeworfenen Flugblättern der Alliierten war ein Text der Weißen Rose, der von dem „fürchterlichsten Verbrechen“ berichtete, „dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann“.[11]

Das Abhören ausländischer Radiosender war in Deutschland zwar streng verboten, aber dennoch weit verbreitet. Da solche Meldungen oft mit Propaganda gegen die deutsche Kriegführung vermischt waren, war ihre Glaubwürdigkeit für die Deutschen nicht immer erkennbar. Gleichwohl zeigen Tagebücher und andere private Aufzeichnungen, dass der Holocaust nun auch Zivilisten als Tatsache erschien. Diese setzten aus vielen allgemein zugänglichen Teilinformationen, umlaufenden Gerüchten und Augenzeugenberichten – etwa von den Todesmärschen, die gegen Kriegsende zum Teil durch bewohnte Gegenden verliefen – ihrerseits ein recht deutliches Wissen von den NS-Verbrechen zusammen.

Abwehrmechanismus

Die systematische Judenvernichtung mittels industrieller Methoden blieb den allermeisten Deutschen verborgen und war auch für diejenigen, die über Auslandssender oder Erfahrungsberichte von Soldaten davon gehört hatten, meist unvorstellbar. Ein Gesamtwissen über Ausmaß und Durchführung des Holocaust nehmen Historiker für die Zeit des Nationalsozialismus daher nicht an. Doch auch dieses Defizit wird weniger auf Verbot und Mängel zugänglicher Informationen, sondern auf psychologische Mechanismen zurückgeführt. Umfragen zeigen, dass der Holocaust selbst für die von freien Medien informierte Bevölkerung der USA bis Ende 1944 vielfach nicht geglaubt wurde: Das Ausmaß des Holocaust erleichterte seine Tarnung....[12]

Berichte Überlebender bestätigen dieses Nichtwahrhabenwollen auch für die unmittelbar betroffenen Opfer:[13]

Der mit bürokratischer Gründlichkeit geplante, fabrikmäßig betriebene millionenfache Mord - diese nie erlebte Dimension des Verbrechens überforderte die Vorstellungskraft selbst derer, die den Nazis alle nur möglichen Schandtaten zutrauten. Das Undenkbare zu denken, Auschwitz für wirklich zu halten - dagegen sträubte sich ein psychischer Selbstschutzreflex. Das galt auch für die designierten Opfer, vor allem für die Juden Westeuropas. Bis zuletzt hielten sie die Deutschen eines solchen Verbrechens nicht für fähig...

Zeitzeugen-Aussagen

Während des Krieges

Die Frage, was die Deutschen von den Verbrechen ihrer Regierung wussten, bewegte einfache Bürger ebenso wie dem Regime kritisch gegenüberstehende Verantwortungsträger schon seit etwa 1938. Doch ihre Einschätzungen zu dieser Frage waren verschieden.

Als ein für die Informationsmöglichkeiten gewöhnlicher Deutscher aufschlussreiches Zeitzeugnis gilt das erst 1983 veröffentlichte Tagebuch des Celler Ingenieurs Karl Dürkefelden, das dieser etwa 1938 zu führen begann. Er war nicht politisch gebunden und schrieb persönliche Eindrücke, Nachrichten und Erlebnisse aller Art auf, befragte Kollegen, Bekannte, Verwandte nach weiteren Informationen und versuchte sogar, verbotene Fotos zu machen. So kommentierte er die Novemberpogrome 1938 in Celle:[14] Am 9. November sind alljährlich die Brandreden der NSDAP ... nachts um drei ging dann das Demolieren los, angeblich durch das Volk... Den Mord an einem Diplomaten habe „...die deutsche Regierung nur als Grund genommen - sie suchte schon lange nach einem solchen.“

Im Februar 1942 hörte Dürkefelden auf einer Bahnfahrt einen deutschen Soldaten von Massenvernichtungen im Osten reden. Kurz darauf las er in der Niedersächsischen Tageszeitung, dass Hitler die Ausrottung der Juden angekündigt habe. Schon diese beiden Bruchstücke führten ihn zu dem eigenen Schluss: Die Juden werden systematisch vernichtet. Im Juni 1942 bestätigten persönliche Berichte seines Schwagers und seines Arbeitgebers von Massenexekutionen bei Kiew und Bialystok ihn darin. Weitere Berichte von Soldaten auf Heimaturlaub kamen im Sommer dazu. Im Herbst 1942 hörte Dürkefelden eine deutschsprachige BBC-Sendung mit Zahlenangaben über Massenmorde an Juden. So drängte sich ihm in diesem Jahr die Erkenntnis, dass die Deportationen der Juden aus Deutschland auf deren Vernichtung zielten, unabweisbar auf, ohne dass er selbst je an der Front oder in der Nähe von NS-Lagern war.[15] Von einem in Wilna stationierten Soldaten, der zuvor Angestellter seiner Firma gewesen war, erfuhr er zudem im Januar 1943, dass „die Juden aus Frankreich und anderen besetzten Ländern nach Polen geholt und dort teils erschossen, teils vergast“ würden. Daraus kombinierte er ein relativ genaues Bild von der Dimension des Judenmordes, auch ohne etwas über die Todesfabriken selbst zu erfahren.[16]

1943 schrieb der Widerstandskämpfer Helmut James Graf von Moltke noch: Mindestens neun Zehntel der Bevölkerung weiß nicht, dass wir Hunderttausende von Juden umgebracht haben. Dagegen schrieb Landesbischof Theophil Wurm am 21. September 1944 an einen Pastor der Deutschen Christen:[17]

Jedermann weiß oder kann wissen, wie das Dritte Reich mit den Juden verfahren ist, besonders seit der Nacht vom 9. zum 10. 11. 1938 und im Kriege bis zur völligen Vernichtung draußen in Polen und Russland. Auch dürfte das nicht unbekannt sein, dass in den besetzten Gebieten über die Wiedereinführung des in barbarischen Zeiten üblichen Geiselsystems an völlig unschuldigen Personen schweres Unrecht verübt worden ist. Dann erinnere ich an den systematischen Mord der Geisteskranken und an das ganze System der Gestapo und der Konzentrationslager, an die Tatsache, dass es eine unabhängige Rechtsprechung nicht mehr gibt...Ich frage nur: Kann ein Christ Segen erhoffen für ein Volk, das dies alles hat geschehen lassen...?

Nach Kriegsende

Besonders die Besatzungsvertreter der USA konfrontierten die Deutschen in der Zeit nach 1945 mit den Folgen ihrer teils aktiven, teils passiven Zustimmung zum NS-Regime. Sie zwangen zum Beispiel 1000 Einwohner Weimars, das am 11. April 1945 befreite KZ Buchenwald, das ganz nahe der Stadt lag, fünf Tage darauf zu besuchen, um Lebensmittelkarten zu erhalten. Margaret Bourke-White, Korrespondentin der Illustrierten Life im Nachkriegsdeutschland, beobachtete die Szene:[18]

Frauen fielen in Ohnmacht oder weinten. Männer bedeckten ihr Gesicht und drehten die Köpfe weg. Als die Zivilisten immer wieder riefen: ›Wir haben nichts gewußt! Wir haben nichts gewußt!‹, gerieten die Ex-Häftlinge außer sich vor Wut. ›Ihr habt es gewußt‹, schrien sie. ›Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts getan.‹

Diese Szene veranschaulichte nach ihrer Aussage beispielhaft, was sich so oder ähnlich in vielen Orten des besiegten Deutschlands abspielte:

Wir alle bekamen diese Worte so häufig und monoton zu hören, daß sie uns wie eine deutsche National-Hymne vorkamen.

Volker Ullrich beschrieb die Reaktionen der meisten Deutschen angesichts des Grauens in der ZEIT am 21. April 1995 wie folgt:

Nur wenige Deutsche waren bereit, sich den grauenvollen Bildern aus den befreiten Konzentrationslagern auszusetzen und eigene Schuld zu bekennen. Die meisten reagierten mit einer erschreckenden Gefühlsstarre und jenem eingeübten Wegseh-Reflex, den Stephan Hermlin während der Vorführung von Dokumentarfilmen über Buchenwald und Dachau beobachtete: „Im halben Licht des Projektionsapparats sah ich, wie die meisten nach Beginn des Films das Gesicht abwandten und so bis zum Ende der Vorstellung verharrten.“
Die Neigung, die eigene Beteiligung zu leugnen und sich aus der Verantwortung zu stehlen, reichte hinauf bis in die Spitzen des gestürzten Regimes. Wenn einer Schuld an den Verbrechen hatte, dann war es Hitler, dann waren es Himmler und die SS-Clique - man selbst hatte damit nichts zu tun gehabt und wollte damit auch nicht mehr behelligt werden. „Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen“, bemerkte die amerikanische Journalistin Martha Gellhorn im April 1945. „Ein ganzes Volk, das sich vor der Verantwortung drückt, ist kein erbaulicher Anblick.“ ...

Manche Zeitzeugen unter den Deutschen wiesen die Behauptung, nichts gewusst zu haben, bereits bei ihrem Aufkommen als Zwecklüge zurück. Kurt Scharf, Mitglied der Bekennenden Kirche und später Landesbischof von Berlin-Brandenburg, schrieb dazu in einem Interview:[19]

Wer behauptet, er habe damals von alledem nichts gewusst, der hat nichts wissen wollen! Der hat aus Angst weggehört oder sich Augen und Ohren zugehalten. Man sah ja doch die Juden mit dem Stern. [...]
Wer in seiner Gemeinde eine jüdische Familie hatte, der wusste, was an den Juden geschah. Und er erlebte mit, dass sie abtransportiert wurden. In Berlin erlebte man das in großem Ausmaß. Schon 1932 gab es Hakenkreuzschmierereien auf dem Kurfürstendamm, 1938 dann die brennenden Synagogen, das Zertrümmern der jüdischen Geschäfte - die sogenannte Kristallnacht: Das hat ganz Deutschland gewusst. Das haben Goebbels und Streicher im Rundfunk verkündet, und das wurde in den Wochenschauen der Filmtheater gezeigt. [...]
Wir haben die Sammellager in der Oranienburger Straße in Berlin erlebt, wo die Juden zusammengetrieben wurden. [...] Die Theorie von der Herrenrasse wurde in jeder Zeitung verbreitet. [...]
Was in unserer Gemeinde dann wirklich die letzten Zweifel an der menschenverachtenden Brutalität des Nationalsozialismus beseitigt hat, das war von 1941 an die Ankunft der Transporte mit russischen Kriegsgefangenen. [...] Nacht für Nacht kamen Transporte an auf unserem kleinen Sachsenhausener Bahnhof, Viehwagentransporte, in denen die russischen Kriegsgefangenen zusammengepfercht waren, in den Viehwagen stehend, wochenlang unterwegs, oft kaum mit Nahrung versorgt. Sie kamen nachts an, und unter grellen Scheinwerfern nahmen SS-Leute mit Peitschen und Hunden die Transporte in Empfang. Die Gefangenen stolperten heraus und fielen auf den Bahnsteig, soweit sie sich noch bewegen konnten. Ein Teil von ihnen waren Leichen: auf dem Transport Gestorbene hatten noch zwischen den anderen gestanden. Diejenigen, die sich noch bewegen konnten, wurden von den Hunden gehetzt und unter Peitschenschlägen vom Bahnhof in das KZ getrieben. Auf diesem Weg verendeten dann auch wieder soundsoviele. Dies alles hörten wir mit...
Wenn jemand behauptet, er habe von all dem nichts gewusst, ist meine Kontrollfrage immer: Hättest du dich denn damals gern in ein Konzentrationslager einliefern lassen? Da hätte jeder gesagt: Um Gottes willen!

Stimmen der Unwissenheit

Nach Gründung der Bundesrepublik bekannten namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Theodor Heuss, Richard von Weizsäcker oder Helmut Schmidt[20], aber auch Intellektuelle wie Hans-Ulrich Wehler, vom Holocaust keine Kenntnis gehabt zu haben. Helmut Schmidt äußerte, von der Reichskristallnacht nichts mitbekommen zu haben[21] und auch nie einen Judenstern gesehen zu haben. In einem Interview antwortete Helmut Schmidt auf die Frage, wann er zum ersten Mal eine Idee davon gehabt habe, dass die Nazis Verbrecher sind: „Nach dem Krieg [...] Ich habe von dem Genozid an den Juden nichts gewusst, wie viele Menschen damals.“ Auf die Frage, man habe doch gewusst, dass es dass es Konzentrationslager gab, entgegnete Schmidt: „Ich habe davon nichts gewusst, mein Vater auch nicht.“ „Es gab Konzentrationslager in der Nähe von Hamburg: Neuengamme, Bergen-Belsen“, wendeten die Journalisten ein. Schmidt: „Mein Vater und auch meine Schwiegereltern, die Juden versteckten – nicht auf Dauer, nur für eine Nacht auf dem Boden und eine Nacht im Keller, und ein paar Tage später kam jemand anders für eine Nacht -, wir haben davon nichts gewusst.“[22]

Helmuth von Moltke, einer der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944, der gerade durch die Judenverfolgung zum Widerstand motiviert wurde, schrieb 1943, dass das deutsche Volk nichts von der Tötung Hunderttausender von Juden wisse. „Sie haben immer noch die Vorstellung, dass die Juden nur ausgegrenzt worden sind und nun im Osten in ähnlicher Weise wie vorher in Deutschland weiterlebten.“[23]

Auch die jüdische Bevölkerung ahnte ihrerseits wenig von ihrem Schicksal. Die F.A.Z. schreibt zum Thema:

Das Urteil über den wahren Sachverhalt fällt noch schwerer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass selbst zahlreiche jüdische Opfer ganz entschieden ihr Nichtwissen beteuern. Der Auschwitz-Flüchtling Friedemann Bedürftig glaubte zu wissen: „Die in Auschwitz Ankommenden hatten samt und sonders nicht nur keine Ahnung, wo sie waren, sondern auch nicht die geringste davon, was ihnen zugedacht war. Sie ließen sich nicht etwa wegen ihrer ,rassischen Minderwertigkeit', wie die Nazis gerne behaupteten, fast widerstandslos zur Schlachtbank führen, sondern weil sie gar nicht wussten, dass sie sich auf die Reise dahin begaben.“[24]

Historische Untersuchungen

Neu erschlossene Quellen

US-Nachrichtendienste und Psychologen sammelten ihre Erfahrungen mit verhörten Deutschen in den letzten Kriegsmonaten. Die Verhörprotokolle der alliierten Armeen wurden jedoch erst Jahrzehnte später veröffentlicht. Als einer der Ersten hat der israelische Historiker David Bankier die Verhöre der US-Armee 1995 ausgewertet. Er bezeichnete ihr eindeutiges Ergebnis als „Geheimnis, das keines geblieben ist“: Fast jeder Deutsche habe gegen Kriegsende irgendeine Kenntnis von den NS-Verbrechen gehabt. Auch die Methode der Vergasung sei in „weiten Kreisen“ Gesprächsthema gewesen. Viele Befragte hätten sich erleichtert gezeigt, erstmals frei darüber sprechen zu können. Die Vernehmer beobachteten, dass „ein merkwürdiges Schuldgefühl bezüglich der Juden im Vordergrund gestanden“ habe, „eine unbehagliche Stimmung und häufig ein offenes Eingeständnis“ von einem „großen Unrecht“.[25]

Bankier folgten 2006 mit Peter Longerich, Frank Bajohr und Dieter Pohl auch einige deutsche Historiker. Longerich versuchte, die Verbreitung und Inhalte des Wissens der Deutschen vom Holocaust genauer zu erfassen. Er untersuchte dazu neu zugängliche, bisher unberücksichtigte Akten auch aus der ehemaligen Sowjetunion unter der Fragestellung, welche Informationen über NS-Verbrechen in den damals zugänglichen Medien veröffentlicht worden waren und sich über Kanäle der Wehrmacht, der NSDAP, Feldpostbriefe von Frontsoldaten usw. in der deutschen Bevölkerung herumgesprochen hatten.

Seit den letzten Jahren konzentriert sich die Holocaustforschung auf konkrete lokale und regionale Abläufe bei den Deportationen von Juden aus deutschen Städten: zum einen, um Einzelschicksale der Opfer weitmöglichst aufzuklären, zum anderen, um damalige Reaktionen und Beteiligung der Nichtjuden genauer zu ermitteln. Auch das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin widmet sich seit einigen Jahren verstärkt der Aufhellung dieses Themas. Dabei stellte sich bereits heraus, dass viel mehr Deutsche viel genauere Details von der Judenvernichtung wussten als bisher angenommen.

Nach Auffassung der für den Regionalbereich Köln mit solchen Forschungen befassten Historikerin Karola Fings ist die historische Hauptfrage daher nicht, was die Deutschen von den NS-Verbrechen wussten, sondern was sie wissen konnten, wenn sie es wissen wollten.[26]

Quellen

  1. Bernward Dörner: Rezension von P. Longerich: Davon haben wir nichts gewusst! für HSozkult, 14. Juni 2006
  2. Funkhausgespräche vom 9. November 2006 um 20.05 Uhr auf WDR 5
  3. Nikolaus Wachsmann: Gefängnisse, Ghettos, Lager: Die Juden in Gefangenschaft im Dritten Reich
  4. Quellenbelege fehlen
  5. Funkhausgespräche vom 9. November 2006 um 20.05 Uhr auf WDR 5
  6. Guido Knopp, Holokaust S. 333
  7. Ernst Klee: 'Schöne Zeiten'. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. Fischer, Frankfurt am Main 1988, ISBN 310039304X, S. 7f
  8. Armin Pfahl-Traughber, Rezension zu Frank Bajohr, Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis, S. 8 (pdf)
  9. Armin Pfahl-Traughber, a.a.O. S. 8 (pdf)
  10. MDR-Info zum Beginn der Deportationen
  11. Guido Knopp, a.a.O. S. 333
  12. Guido Knopp, a.a.O. S. 334
  13. [1]
  14. Ortwin Runde zum 60. Jahrestag der Reichspogromnacht
  15. Jörg Später: Was die Deutschen wissen konnten. Rezension zu Peter Longerichs Buch (Süddeutsche Zeitung, 27. Dezember 2006)
  16. [2]
  17. Günter Brakelmann, Evangelische Kirche und Judenverfolgung S. 74
  18. zitiert nach Volker Ullrich: Das offene Geheimnis - Peter Longerich untersucht ein heikles Kapitel unserer jüngeren Geschichte: Was wussten die Deutschen vom Holocaust? (DIE ZEIT 20. April 2006)
  19. Heinrich W. Grosse, Bewährung und Versagen S. 31f
  20. Bryan Mark Rigg, in:"Hitlers jüdische Soldaten", Kap.9
  21. Kurt Pätzold; in Junge Welt vom 06.01.2007 S.15
  22. “Die Deutschen bleiben ein gefährliches Volk – Warum man nach dem Zusammenbruch des ‘Dritten Reiches’ in die Politik ging und was heute fehlt: Helmut Schmidt erinnert sich”, FAZ 9.4.2005, S. 36.
  23. Professor Dr. Konrad Löw in der F.A.Z., 01.03.2007, Nr. 51 / Seite 7
  24. Professor Dr. Konrad Löw in der F.A.Z., 01.03.2007, Nr. 51 / Seite 7
  25. zitiert nach Georg Bönisch: Ort des Unfassbaren (Der Spiegel 24. Januar 2005)
  26. Funkhausgespräche vom 9. November 2006 um 20.05 Uhr auf WDR 5

Siehe auch

Literatur

  • David Bankier: Die öffentliche Meinung im Hitler- Staat. Die 'Endlösung' und die Deutschen (1. Auflage 1995), BWV Berliner-Wissenschaft 2002, ISBN 3870614781
  • David Bankier: Warum “Die Endlösung” ein öffentliches Geheimnis war, in: Ludmila Nesládková (Hrsg.): Nisko 1939-1994
  • Peter Longerich: Davon haben wir nichts gewusst! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945. Siedler Verlag, München 2006. ISBN 3886808432, 448 Seiten.
  • Heinrich W. Grosse (hrsg. von Friedrich W. Marquardt): Bewährung und Versagen. Die Bekennende Kirche im Kirchenkampf. Verlag: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., 1991, ISBN 3892460248
  • Frank Bajohr, Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten. Beck, 2006, ISBN 3406549780
  • Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Fischer TB, Frankfurt/Main 2002, ISBN 3596155150
  • Sabine Würich, Karola Fings, Rolf Sachsse, Martin Stankowski: Das Gedächtnis der Orte. Emons, 2004, ISBN 3897053497
  • Detlev Kuchta: Das Tagebuch des Karl Dürkefelden. Verein zur Förderung politischer Literatur (Hrsg.), Celle 1983