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Zeitgenössische Kenntnis vom Holocaust

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Davon haben wir nichts gewusst (auch: „Wir haben von nichts gewusst" oder „Wir haben nichts gewusst“) war gegen und nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Teilen der deutschen Bevölkerung eine stehende Redewendung. Sie bezog sich auf die Verbrechen des Nationalsozialismus, vor allem den Holocaust und die Vorgänge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des „Dritten Reichs“.

Überblick

Die Behauptung, nichts über die NS-Verbrechen gewusst zu haben, begegnete den Alliierten bereits seit Anfang 1945 bei Kriegsgefangenen der Wehrmacht, später auch bei deutschen Zivilisten. Sie wurde häufig bei Vernehmungen oder gewöhnlichen Gesprächen zwischen Siegern und Besiegten vorgebracht. Doch erst als die alliierten Armeen in die vom Großdeutschen Reich besetzten Gebiete vordrangen und dabei auch einige der Vernichtungslager befreiten, wurde die Massenvernichtung dort in vollem Ausmaß sichtbar.

Die Truppen, die die Lager als Erste erreichten, waren äußerst entsetzt über das, was sie vorfanden. Aus diesem Entsetzen heraus ordnete US-General George S. Patton spontan hier und da Zwangsbesuche der befreiten KZs an: Dies waren erste, noch ungeordnete und vereinzelte Maßnahmen der Alliierten zur Entnazifizierung der Deutschen. Diese sollten direkt mit den sichtbaren Greueln in den Lagern, mit Leichenbergen und Überlebenden, konfrontiert werden.

Zeugen berichteten von den Reaktionen darauf, die überall gleichartig waren: Schock, Entsetzen, Flucht, abwehrende, sogar aggressive Äußerungen, vor allem die stereotype Aussage, nichts von alledem gewusst zu haben. Obwohl dies den Zeugen bereits damals als - psychologisch verständliche - Schutzbehauptung erschien, wurde das tatsächliche Wissen der Deutschen von den NS-Verbrechen lange Zeit nicht geprüft.

Erst seit einigen Jahren wird die Frage, welche Kenntnisse die deutsche Bevölkerung von den NS-Verbrechen besaß, systematischer wissenschaftlich erforscht. Sie gilt als eines der letzten „Tabus der Zeitgeschichte“, das durch verschiedene Faktoren begünstigt wurde:

  • systematische Aktenvernichtung durch die Nationalsozialisten
  • fortwirkende massenpsychologische Abwehrmechanismen bei Tätern und Täternachfahren[1]
  • späte Veröffentlichungen von Primärquellen, darunter Verhörprotokollen der Alliierten und regelmäßigen Umfragen des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts aus den 1950er und 1960er Jahren: Darin erklärten zwischen 25 und 40 Prozent der Deutschen, sie hätten sehr wohl von den Massenmorden an Juden in den eroberten Gebieten Osteuropas gewusst.[2]
  • mit wachsendem Zeitabstand erschwerte Nachforschungen bei immer weniger Zeitzeugen.

Als sicher gilt, dass die Aussage in der unmittelbaren Situation der Kriegsniederlage zunächst die befürchteten Strafaktionen der Sieger abwehren und die persönliche wie auch die nationale Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zurückweisen sollte. Dies verband sich mit der Debatte um eine mögliche deutsche Kollektivschuld. Diese wurde jedoch auch von einigen Vertretern der Kriegsgegner Deutschlands zurückgewiesen. Diese bemühten sich im Nürnberger Prozess intensiv darum, erstmals nach einem Weltkrieg nicht nur direkt Ausführende, sondern vor allem die Initiatoren und Planer des Völkermords haftbar zu machen. Die innerdeutsche Kollektivschulddebatte wurde daher zum Teil ebenfalls als Ablenkung von eigener, individuell zurechenbarer Verantwortung gedeutet.

Damals bekannte Vorgänge der Judenverfolgung

Vorkriegszeit

Die Judenverfolgung im Dritten Reich setzte bereits unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein und geschah bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs weitgehend vor aller Augen. Sämtliche staatlichen Maßnahmen gegen die Juden wurden bis 1939 vom NS-Regime selbst veröffentlicht. In den ab 1933 für Regimegegner und andere unerwünschte Personenkreise eingerichteten Konzentrationslagern wurden die Juden bereits deutlich schlechter behandelt als die meisten anderen KZ-Insassen. Erfahrungsberichte entlassener Häftlinge bestätigten dies auch für Nichtjuden.[3] Viele der vor und im Krieg eingerichteten Lager lagen nahe bei deutschen Siedlungen, so dass die dortigen Vorgänge vielen Einwohnern vor Ort bekannt waren und werden konnten. So gab es im Konzentrationslager Dachau einen Tag der offenen Tür für die Bevölkerung. Die Häftlinge der 23 innerdeutschen KZs und ihrer zahlreichen Außenlager wurden täglich durch deutsche Dörfer und Städte zu den Arbeitsorten geführt. Zudem waren einige Deutsche zeitweise in den KZs und Lagern beschäftigt oder leisteten Hilfsdienste, die sie zu Augenzeugen machten.

Die Enteignung („Arisierung“) jüdischen Besitzes machte viele Deutsche zu Nutznießern eines wichtigen Teilschrittes auf dem Weg zum Holocaust. Die Frage, was mit den enteigneten und nun vielfach nicht mehr ausreisefähigen Juden geschehen sollte, drängte sich besonders seit den Novemberpogromen 1938 allgemein auf. Darauf reagierten die NS-Zeitungen mit verstärkter antisemitischer Propaganda, die weitere Schritte wie die Getthoisierung der Juden und Errichtung von Lagern im Osten vorbereiteten.

Seit dem 30. Januar 1939 sprach Adolf Hitler in reichsweit ausgestrahlten Reden offen von der „Vernichtung“ der Juden, die er für den Fall eines neuen Weltkriegs „prophezeite“. Bis 1943 kam er häufig öffentlich wie privat auf diese Ankündigung zurück.

Kriegszeit

Mitteilungen über die Massenmorde hinter der Ostfront und in den Arbeits- und Vernichtungslagern waren den Beteiligten streng untersagt. Gleichzeitig erzeugte die NS-Informationspolitik mit allgemeinen Andeutungen und sich nahelegenden Schlussfolgerungen in Zeitungs- und Wochenschauberichten bewusst eine Art Einverständnis und Mitwisserschaft der Deutschen. Auch die Einrichtung von Ghettos und großen Lagern sowie die Deportationen aus dem Reichsgebiet wurden in Deutschland öffentlich bekannt gegeben. Ihr Zweck wurde jedoch für die meisten Deutschen mit der typischen NS-Tarnsprache bemäntelt und verschleiert. Für NSDAP-Mitglieder und Mitarbeiter der NS-Behörden wurde jedoch auch im Krieg eine Informationspolitik betrieben, die die Absicht zur Judenvernichtung ab Herbst 1941 kaum verhüllt aussprach und von den Beteiligten auch so verstanden wurde.

Seit der auf den Polenfeldzug folgenden ersten Urlaubswelle für Wehrmachtssoldaten im Winter 1939/40 sickerten immer mehr Einzelheiten über die Vorgänge in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten durch. An Massenerschießungen beteiligte Deutsche berichteten ihren Verwandten in Briefen oder beim Heimaturlaub davon. In Verbindung mit den Pressemeldungen ergab die „Flüsterpropaganda“ dann allmählich immer genauere Vorstellungen davon, was mit den Juden im Osten geschah.

Die im Oktober 1941 begonnenen Deportationen aus den deutschen Großstädten vollzogen sich öffentlich auf Versammlungsplätzen und Bahnhöfen und waren vielfach von großen Mengen Schaulustiger begleitet. So wurden manche Schulklassen zum Zuschauen des Vorgangs auf den Bahnhöfen vom Unterricht befreit.[4] Die Transporte wurden als „Umsiedelung“ ausgegeben und waren von einer intensiven Hetzpropaganda begleitet. Deutsche Juden wurden dabei als „Volksfeinde“, Verbrecher, Verbündete der Kriegsgegner beschrieben, die entsprechend keine „Vorzugsbehandlung“ verdient hätten.

Nach der Niederlage in der Schlacht von Stalingrad und während der alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte trat die offene antisemitische Propaganda etwas zurück, da diese nun vermehrt auf Unverständnis und Unmut in Teilen der Bevölkerung stieß, den die Gestapo registrierte. Besonders der Versuch, das Massaker von Katyn als Vernichtungsabsicht der Sowjets gegenüber allen Deutschen auszugeben, scheiterte: Nach den Stimmungsberichten der SS selber hielt „ein großer Teil der Bevölkerung“ die Aufregung um Katyn für „heuchlerisch, weil deutscherseits in viel größerem Umfang Polen und Juden beseitigt worden seien“.[5]

Nachdem die oberen Ebenen der NS-Behörden spätestens seit der Wannseekonferenz im Januar 1942 in die Planungen zur der Deportation von Millionen Juden in Arbeits- und Vernichtungslager eingeweiht worden waren, gaben NS-Zeitschriften in den letzten beiden Kriegsjahren immer deutlicher Details zum Holocaust bekannt. Die bisherige Geheimhaltungspolitik seitens der Wehrmacht wurde immer mehr gelockert, und es kam 1943 zu einem regelrechten „Hinrichtungstourismus“ (Ernst Klee) von Angehörigen, die bei einer Massenerschießung zuschauen wollten.[6] Die Vernichtungslager waren davon jedoch ausgeschlossen. In einem Artikel des Danziger Vorposten vom 13. Mai 1944 hieß es zu deren Ergebnissen, mittlerweile seien fünf Millionen Juden „ausgeschaltet“.[7]

Alliierte Medien

Der Holocaust war den Alliierten seit 1942 in immer mehr Details bekannt geworden. Dieses allmählich aus vielen Einzelteilen zusammengesetzte Wissen wurde nur zögernd an die Deutschen weitergegeben, da solche Berichte die Täter eher noch zur Intensivierung der Massenmorde anzutreiben schienen.[8] Doch ab 1942 sendeten die Auslandsabteilungen etwa der BBC regelmäßig auf Deutsch Details zur Judenvernichtung. Eine frühe Reportage nannte erste Zahlen, noch ohne daraus auf eine Ausrottungsabsicht zu schließen:[9]

Eine internationale Kommission gibt folgende Ziffern. In Deutschland sind von den etwa 200.000 Juden, die es 1939 dort gab, mindestens 160.000 verschleppt worden oder zugrunde gegangen. In Österreich leben von 75.000 Juden höchstens noch 15.000, in Böhmen und Mähren, wo es auch 80.000 Juden gab, gibt es nunmehr an die 10.000.

Thomas Mann sprach über den britischen Sender Anfang 1942 bereits von „Massentötungen durch Giftgas“. Unter den millionenfach über deutschem Gebiet abgeworfenen Flugblättern der Alliierten war ein Text der Weißen Rose, das von dem „fürchterlichsten Verbrechen“ berichtete, „dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann“.[10]

Das Abhören ausländischer Radiosender war in Deutschland zwar streng verboten, aber dennoch weit verbreitet. Da solche Meldungen oft mit Propaganda gegen die deutsche Kriegführung vermischt waren, war ihre Glaubwürdigkeit für die Deutschen nicht immer erkennbar. Gleichwohl zeigen Tagebücher und andere private Aufzeichnungen, dass der Holocaust nun auch Zivilisten als Tatsache erschien. Diese setzten aus vielen allgemein zugänglichen Teilinformationen, umlaufenden Gerüchten und Augenzeugenberichten - etwa von den Todesmärschen, die zum Teil durch bewohnte Gegenden verliefen - ihrerseits ein recht deutliches Wissen von den NS-Verbrechen zusammen. So schrieb der Techniker Karl Dürkefelden, der selbst nie an der Front war, schon Februar 1942 in sein Tagebuch: Juden werden systematisch umgebracht.[11]

Ein Gesamtwissen über das Ausmaß des Holocaust und alle Kriegsverbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus nehmen Historiker jedoch nicht an. Zahlreiche Berichte von Opfern sowie Umfragen unter US-Amerikanern von Ende 1944 zeigen, dass der Holocaust selbst für Betroffene und von freien Meiden informierte Bevölkerungen zu unvorstellbar war und daher zunächst vielfach nicht geglaubt wurde: Das Ausmaß des Holocaust erleichterte seine Tarnung....[12]

Zeitzeugen-Aussagen

während des Krieges

Die Frage, was die Deutschen von den Verbrechen ihrer Regierung wussten, bewegte dem Regime kritisch gegenüberstehende Verantwortungsträger spätestens seit den Novemberpogromen 1938. Doch ihre Einschätzungen zu dieser Frage waren verschieden.

1943 schrieb der Widerstandskämpfer Helmut James Graf von Moltke noch: Mindestens neun Zehntel der Bevölkerung weiß nicht, dass wir Hunderttausende von Juden umgebracht haben. Dagegen schrieb Landesbischof Theophil Wurm am 21. September 1944 an einen Pastor der Deutschen Christen:[13]

Jedermann weiß oder kann wissen, wie das Dritte Reich mit den Juden verfahren ist, besonders seit der Nacht vom 9. zum 10. 11. 1938 und im Kriege bis zur völligen Vernichtung draußen in Polen und Russland. Auch dürfte das nicht unbekannt sein, dass in den besetzten Gebieten über die Wiedereinführung des in barbarischen Zeiten üblichen Geiselsystems an völlig unschuldigen Personen schweres Unrecht verübt worden ist. Dann erinnere ich an den systematischen Mord der Geisteskranken und an das ganze System der Gestapo und der Konzentrationslager, an die Tatsache, dass es eine unabhängige Rechtsprechung nicht mehr gibt...Ich frage nur: Kann ein Christ Segen erhoffen für ein Volk, das dies alles hat geschehen lassen...?

nach Kriegsende

Besonders die Besatzungsvertreter der USA konfrontierten die Deutschen in der Zeit nach 1945 mit den Folgen ihrer teils aktiven, teils passiven Zustimmung zum NS-Regime. Sie zwangen zum Beispiel die Einwohner Weimars , das am 11. April 1945 befreite KZ Buchenwald, das ganz nahe der Stadt lag, zu besuchen, um Lebensmittelkarten zu erhalten. Margaret Bourke-White, Korrespondentin der Illustrierten Life im Nachkriegsdeutschland, beobachtete die Szene:[14]

Frauen fielen in Ohnmacht oder weinten. Männer bedeckten ihr Gesicht und drehten die Köpfe weg. Als die Zivilisten immer wieder riefen: ›Wir haben nichts gewußt! Wir haben nichts gewußt!‹, gerieten die Ex-Häftlinge außer sich vor Wut. ›Ihr habt es gewußt‹, schrien sie. ›Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts getan.‹

Diese Szene veranschaulichte nach ihrer Aussage beispielhaft, was sich so oder ähnlich in vielen Orten des besiegten Deutschlands abspielte:

Wir alle bekamen diese Worte so häufig und monoton zu hören, daß sie uns wie eine deutsche National-Hymne vorkamen.

Die Aussage wurde bereits bei ihrem Aufkommen von manchen Deutschen wie Nichtdeutschen als Zwecklüge zurückgewiesen. Kurt Scharf, Mitglied der Bekennenden Kirche und später Landesbischof von Berlin-Brandenburg, schrieb dazu in einem Interview:[15]

Wer behauptet, er habe damals von alledem nichts gewusst, der hat nichts wissen wollen! Der hat aus Angst weggehört oder sich Augen und Ohren zugehalten. Man sah ja doch die Juden mit dem Stern. [...]
Wer in seiner Gemeinde eine jüdische Familie hatte, der wusste, was an den Juden geschah. Und er erlebte mit, dass sie abtransportiert wurden. In Berlin erlebte man das in großem Ausmaß. Schon 1932 gab es Hakenkreuzschmierereien auf dem Kurfürstendamm, 1938 dann die brennenden Synagogen, das Zertrümmern der jüdischen Geschäfte - die sogenannte Kristallnacht: Das hat ganz Deutschland gewusst. Das haben Goebbels und Streicher im Rundfunk verkündet, und das wurde in den Wochenschauen der Filmtheater gezeigt. [...]
Wir haben die Sammellager in der Oranienburger Straße in Berlin erlebt, wo die Juden zusammengetrieben wurden. [...] Die Theorie von der Herrenrasse wurde in jeder Zeitung verbreitet. [...]
Was in unserer Gemeinde dann wirklich die letzten Zweifel an der menschenverachtenden Brutalität des Nationalsozialismus beseitigt hat, das war von 1941 an die Ankunft der Transporte mit russischen Kriegsgefangenen. [...] Nacht für Nacht kamen Transporte an auf unserem kleinen Sachsenhausener Bahnhof, Viehwagentransporte, in denen die russischen Kriegsgefangenen zusammengepfercht waren, in den Viehwagen stehend, wochenlang unterwegs, oft kaum mit Nahrung versorgt. Sie kamen nachts an, und unter grellen Scheinwerfern nahmen SS-Leute mit Peitschen und Hunden die Transporte in Empfang. Die Gefangenen stolperten heraus und fielen auf den Bahnsteig, soweit sie sich noch bewegen konnten. Ein Teil von ihnen waren Leichen: auf dem Transport Gestorbene hatten noch zwischen den anderen gestanden. Diejenigen, die sich noch bewegen konnten, wurden von den Hunden gehetzt und unter Peitschenschlägen vom Bahnhof in das KZ getrieben. Auf diesem Weg verendeten dann auch wieder soundsoviele. Dies alles hörten wir mit...
Wenn jemand behauptet, er habe von all dem nichts gewusst, ist meine Kontrollfrage immer: Hättest du dich denn damals gern in ein Konzentrationslager einliefern lassen? Da hätte jeder gesagt: Um Gottes willen!

Historische Untersuchungen

US-Nachrichtendienste und Psychologen sammelten ihre Erfahrungen mit verhörten Deutschen in den letzten Kriegsmonaten. Die Verhörprotokolle der alliierten Armeen wurden jedoch erst Jahrzehnte später veröffentlicht. Als einer der Ersten hat der israelische Historiker David Bankier die Verhöre der US-Armee 1995 ausgewertet. Er bezeichnete ihr eindeutiges Ergebnis als „Geheimnis, das keines geblieben ist“: Fast jeder Deutsche habe gegen Kriegsende irgendeine Kenntnis von den NS-Verbrechen gehabt. Auch die Methode der Vergasung sei in „weiten Kreisen“ Gesprächsthema gewesen. Viele Befragte hätten sich erleichtert gezeigt, erstmals frei darüber sprechen zu können. Die Vernehmer beobachteten, dass „ein merkwürdiges Schuldgefühl bezüglich der Juden im Vordergrund gestanden“ habe, „eine unbehagliche Stimmung und häufig ein offenes Eingeständnis“ von einem „großen Unrecht“.[16]

Ihm folgten mit Peter Longerich, Frank Bajohr und Dieter Pohl ab 2006 auch einige deutsche Historiker. Peter Longerich hat in einer Buchveröffentlichung zum Thema versucht, die Verbreitung und Inhalte des Wissens der Deutschen vom Holocaust genauer zu erfassen. Er untersuchte auch anhand erstmals zugänglicher, bisher unberücksichtigter Quellen wie Akten aus der ehemaligen Sowjetunion, welche Informationen über NS-Verbrechen in den damals zugänglichen Medien veröffentlicht worden waren und sich über Kanäle der Wehrmacht, der NSDAP, Feldpostbriefe von Frontsoldaten usw. in der deutschen Bevölkerung herumgesprochen hatten.

Seit den letzten Jahren konzentriert sich die Holocaustforschung auf konkrete lokale und regionale Abläufe bei den Deportationen von Juden aus deutschen Städten: zum einen, um Einzelschicksale der Opfer weitmöglichst aufzuklären, zum anderen, um damalige Reaktionen und Beteiligung der Nichtjuden genauer zu ermitteln. Auch das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin widmet sich seit einigen Jahren verstärkt der Aufhellung dieses Themas. Dabei stellte sich bereits heraus, dass viel mehr Deutsche viel genauere Details von der Judenvernichtung wussten als bisher angenommen.

Nach Auffassung der für den Regionalbereich Köln mit solchen Forschungen befassten Historikerin Karola Fings ist die historische Hauptfrage daher nicht, was die Deutschen von den NS-Verbrechen wussten, sondern was sie wissen konnten, wenn sie es wissen wollten.[17]

Quellen

  1. Bernward Dörner: Rezension von P. Longerich: Davon haben wir nichts gewusst! für HSozkult, 14. Juni 2006
  2. Funkhausgespräche vom 9. November 2006 um 20.05 Uhr auf WDR 5
  3. Nikolaus Wachsmann: Gefängnisse, Ghettos, Lager: Die Juden in Gefangenschaft im Dritten Reich
  4. Funkhausgespräche vom 9. November 2006 um 20.05 Uhr auf WDR 5
  5. Guido Knopp, Holokaust S. 333
  6. Ernst Klee: 'Schöne Zeiten'. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. Fischer, Frankfurt am Main 1988, ISBN 310039304X, S. 7f
  7. Armin Pfahl-Traughber, Rezension zu Frank Bajohr, Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis, S. 8 (pdf)
  8. Armin Pfahl-Traughber, a.a.O. S. 8 (pdf)
  9. MDR-Info zum Beginn der Deportationen
  10. Guido Knopp, a.a.O. S. 333
  11. Rezensionen verschiedener Tageszeitungen zu Der Holocaust als offenes Geheimnis von Frank Bajohr und Dieter Pohl (27. Dezember 2006)
  12. Guido Knopp, a.a.O. S. 334
  13. Günter Brakelmann, Evangelische Kirche und Judenverfolgung S. 74
  14. zitiert nach Volker Ullrich: Das offene Geheimnis - Peter Longerich untersucht ein heikles Kapitel unserer jüngeren Geschichte: Was wussten die Deutschen vom Holocaust? (DIE ZEIT 20. April 2006)
  15. Heinrich W. Grosse, Bewährung und Versagen S. 31f
  16. zitiert nach Georg Bönisch: Ort des Unfassbaren (Der Spiegel 24. Januar 2005)
  17. Funkhausgespräche vom 9. November 2006 um 20.05 Uhr auf WDR 5

Siehe auch

Literatur

  • David Bankier: Die öffentliche Meinung im Hitler- Staat. Die 'Endlösung' und die Deutschen (1. Auflage 1995), BWV Berliner-Wissenschaft 2002, ISBN 3870614781
  • David Bankier: Warum “Die Endlösung” ein öffentliches Geheimnis war, in: Ludmila Nesládková (Hrsg.): Nisko 1939-1994
  • Peter Longerich: Davon haben wir nichts gewusst! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945. Siedler Verlag, München 2006. ISBN 3886808432, 448 Seiten.
  • Heinrich W. Grosse (hrsg. von Friedrich W. Marquardt): Bewährung und Versagen. Die Bekennende Kirche im Kirchenkampf. Verlag: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., 1991, ISBN 3892460248
  • Frank Bajohr, Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten. Beck, 2006, ISBN 3406549780
  • Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Fischer TB, Frankfurt/Main 2002, ISBN 3596155150
  • Sabine Würich, Karola Fings, Rolf Sachsse, Martin Stankowski: Das Gedächtnis der Orte. Emons, 2004, ISBN 3897053497