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Die Physiker

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Die Physiker ist eine groteske Komödie des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, die 1961 geschrieben und am 21. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Darin weist der Autor auf potenzielle Gefahren hin, welche die Wissenschaft in sich birgt. Die gesamte Handlung, bestehend aus zwei Akten, spielt in einem Irrenhaus für gesellschaftlich besser gestellte Menschen. Dabei symbolisieren die verschiedenen Insassen und das Personal die damaligen Machtblöcke des Kalten Krieges.

Kurzfassung des Inhalts

Im Zentrum der Komödie in zwei Akten stehen drei Physiker, die sich mit unterschiedlicher Motivation als Geisteskranke ausgeben. Zwei von ihnen behaupten Albert Einstein bzw. Sir Isaac Newton zu sein. Johann Wilhelm Möbius, der Dritte im Bunde, hat eine revolutionäre Weltformel entdeckt, die in den falschen Händen zur Vernichtung der gesamten Welt führen könnte. Er behauptet, ihm erscheine der König Salomo mit dem Ziel, den Missbrauch seiner Entdeckung zu verhindern. Newton und Einstein hingegen sind Spione, die an Möbius' Erkenntnisse herankommen und sein Genie für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Jeder der drei Physiker ermordet eine Krankenschwester, um sein jeweiliges Geheimnis zu wahren, das durch deren Bemühen temporär bedroht erscheint. Als deshalb die Polizei eintrifft, vernichtet Möbius seine Formeln. Mathilde von Zahnd, die Besitzerin und Chefärztin des Irrenhauses, gleichzeitig auch die einzig wirklich Irre, hat jedoch sämtliche Aufzeichnungen bereits zuvor kopiert (wobei sie ernsthaft im Auftrag König Salomos zu handeln glaubt) und will nun die Weltherrschaft an sich reissen. Sie hat auch den Physikern die Krankenschwestern auf den Hals gehetzt, damit deren öffentliche Glaubwürdigkeit unterminiert und das Vorhaben der Ärztin gesichert ist.

Werkgeschichte

1956 erschien von Robert Jungk das Buch Heller als tausend Sonnen, das sich mit dem Schicksal der Atomforscher befasste. Dürrenmatt verfasste 1957 eine Rezension dieses Buchs für Die Weltwoche und baute seine Gedanken später in Die Physiker (Uraufführung 1962 in Zürich) ein.

Die Rolle der Anstaltsleiterin sollte ursprünglich eine männliche sein, Dürrenmatt schrieb sie jedoch für die von ihm verehrte Schauspielerin Therese Giehse um.

Chronologische Interpretation

Akt 1

Einführung in den Ort der Handlung

Die Kleinstadt, in der die Handlung angesiedelt ist, müsste durch ihre ruhige Lage und die «blauen Berge» in der Umgebung eigentlich eine idyllische Situation erzeugen. Die dort befindliche «bescheidene» Universität, Justizvollzugsanstalt und das «verlotterte» Irrenhaus erzeugen aber einen kleinbürgerlich dekadenten Gesamteindruck, was den Leser bereits auf den Unterschied zwischen dem äusseren Schein und den dahinterliegenden Problemen einstimmt. Das Stück spielt komplett in der "Villa" des Irrenhauses «Les Cerisiers» (zu dt. die Kirschbäume), einem Block, in dem nur noch die drei Physiker und Patienten Newton, Einstein und Möbius behandelt werden.

Gespräch zwischen Inspektor Voss und Oberschwester

Das Stück beginnt damit, dass Inspektor Voss ins Sanatorium kommt, um die Umstände des Todes einer Krankenschwester zu klären. Sie ist von Einstein, für den sie zuständig gewesen war, erdrosselt worden. Der Inspektor befragt nun die Oberschwester zu dem Vorfall und möchte auch mit Einstein sprechen. Die Schwester weist den Inspektor aber ständig barsch zurück, da es sich nicht um einen Mörder, sondern um einen Verrückten handle. Die Bewertungsmassstäbe des Inspektors passen demnach gar nicht zu denen der Oberschwester, die Grenzen zwischen richtig und falsch werden verwischt. Die Oberschwester versucht sogar, die Situation so zu verdrehen, dass der Inspektor als Störenfried erscheint, der in die geregelten Abläufe des Irrenhauses einbricht. Den Tod der Krankenschwester stellt die Oberschwester als nicht weiter beunruhigend dar, der Mörder dagegen wird bedauert und «muss sich beruhigen». Der Inspektor darf nur zuschauen, nicht aber rauchen.

Gespräch zwischen Inspektor Voss und Newton

Bereits drei Monate zuvor hat Newton seine Pflegerin auf ähnliche Weise getötet, auch er ist aufgrund seiner angenommenen Verrücktheit vom Gesetz verschont geblieben. Gemeinsam ist beiden, dass sie von ihren jeweiligen Krankenschwestern geliebt worden sind. Der Inspektor unterhält sich nun mit Newton. Er als Vertreter der Staatsmacht müsste eigentlich das Gespräch dominieren und die Verhaltensregeln bestimmen. Newton jedoch befragt den Inspektor und löscht durch seine verrückten Fragestellungen jegliche Vernunft aus. Ausserdem weist er den Inspektor zurecht, dass nur die Patienten rauchen dürften, Besucher jedoch nicht. Diese groteske Situation zeigt wieder den verrückten Ordnungsbegriff. Die Beschwerde Newtons darüber, dass ein kleiner Mörder verurteilt würde, der Erfinder der Atombombe jedoch nicht, passt in die Deutung des Gesamtwerkes, es zeigt die Doppelmoral der bürgerlichen Weltordnung.

Gespräch zwischen Inspektor Voss und Fräulein Mathilde von Zahnd

Voss erzählt der Anstaltsleiterin zunächst, dass sich Newton auch für Einstein halte, diese entgegnet aber «für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich». Die Parallele zu Goebbels Aussage «Wer bei mir Jude ist, bestimme ich», ist dabei von Dürrenmatt möglicherweise nicht ganz zufällig gewählt, denn sie zeigt die Machtstellung der Anstaltsärztin und ihre Manipulationsfähigkeit, sie wird zur Inkarnation des Bösen. So suggeriert sie dem Inspektor, die Morde an den Krankenschwestern seien eine Folge der Deformation der Gehirne durch Radioaktivität, als der Inspektor ihr klarmachen will, dass nach dem nunmehr zweiten Mord an einer Krankenschwester Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sind. Da der dritte Insasse nicht mit Radioaktivität in Verbindung gekommen sei, ginge von ihm demnach keine Gefahr mehr aus. Ausserdem versucht sie, die Irren-Welt mit der normalen Welt zu verquicken, sie behauptet «Gesunde morden auch und bedeutend häufiger».

Besuch von Frau Rose

Der Physiker Möbius bekommt nach Jahren wieder Besuch von seiner Frau Lina Rose, die sich inzwischen von ihm hat scheiden lassen. Sie wird begleitet von ihrem neuen Mann, Missionar Oskar Rose und Möbius' drei Kindern Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar und Jörg-Lukas. Der erste Auftritt von Möbius dient als Einführung in die eigentliche Handlung und gibt Hintergrundinformationen zu seiner Familie und seinem beruflichen Werdegang. Seine scheinbare Verrücktheit bekräftigt Möbius zum einen durch sein äusseres Verhalten: er setzt sich in einen umgedrehten Tisch um einen Psalm des «König Salomo» zu rezitieren und schreit seine Frau hinaus. Ausserdem tut er so, als ob er seine Familie zunächst nicht erkennen würde. Der von ihm gespielte barsche Umgang mit seiner Familie verdeutlicht, welche Opfer Möbius und seine Familie erbringen mussten und müssen, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse Möbius' zu schützen. Die Familie versucht dagegen besonders harmonisch zu wirken, obwohl Frau Rose ein schlechtes Gewissen wegen ihrer erneuten Heirat und daher Angst vor der Begegnung hat. Sie scheint sich für Möbius besonders aufgeopfert zu haben: sie finanzierte sein Studium und jetzt seinen Sanatoriumsaufenthalt, weil sie besorgt ist, er könnte in eine staatliche Heilanstalt kommen. Der überzeichnete, gekünstelte Auftritt der ganzen Familie gibt sie in den Augen des Lesers der Lächerlichkeit preis. So führen die Kinder in vornehmer Schüchternheit ein Flötenstück vor und Frau Rose spricht Möbius mit «Johann Wilhelmlein» an. Diese unbedingte Wahrung des idyllischen äusseren Scheins und der bürgerlichen Konventionen entlarvt deren Starrheit. Durch ihre übertriebene Hingabe für ihren Mann (Finanzierung des Studiums etc.) und ihre scheinbar selbstlose Aufopferung für ihren neuen Mann, Missionar Rose, der weitere Kinder und somit weitere Aufopferungen für Frau Rose mit sich bringt, pervertiert sie die christliche Nächstenliebe. Sie will von allen bedauert werden. Schliesslich vertreibt Möbius seine Familie mit einem gespielten Anfall, um den Kontakt zu seiner Familie komplett abzubrechen und ihr damit den Abschied nicht unnötig schwer zu machen. Doch eigentlich will er damit seine gespielte Verrücktheit verdeutlichen und damit die Welt vor seinen eigenen Erfindungen beschützen.

Gespräch zwischen Möbius und Schwester Monika

Nun findet eine Wendung im Drama statt: Die Krankenschwester Monika Stettler verrät Möbius, dass sie an ihn und den König Salomo der ihm erscheint glaubt und ihn liebt. Da sie sogar schon ein gemeinsames ziviles Leben vorbereitet hat und so Möbius' Geheimhaltung seiner Erkenntnisse gefährdet ist, erdrosselt er sie mit der Vorhangkordel. Die Szene hat vorwiegend eine dramatische Funktion, denn der Tod der dritten Krankenschwester ist Voraussetzung für die folgende Handlung: der weitere Mord dient Frau Doktor von Zahnd dazu, Möbius vor der ganzen Welt unglaubwürdig zu machen.

Akt 2

Die ersten zwei Szenen des zweiten Akts sind eine Wiederholung der Untersuchungsszenen des ersten Akts, jedoch mit «umgekehrten Vorzeichen» - die äussere Handlung stimmt mit der des ersten Akts überein, die Meinungen und Dialoge sind jedoch fast gespiegelt. Die toten Krankenschwestern wurden nun durch männliche Pfleger ersetzt, die allesamt Meister des Kampfsports sind.

Gespräch zwischen Inspektor Voss und Fräulein Mathilde von Zahnd

Der Inspektor, der zur Untersuchung erschienen ist, steht nun über allen und allem. Er berichtigt nun Fräulein von Zahnd - sie spricht von Möbius als «Mörder», er von einem «Täter». Indem er also die Ordnungsprinzipien des Irrenhauses akzeptiert und verinnerlicht, kann er alle zurückweisen. Die Ärztin von Zahnd dagegen spielt nun die Verwirrte, indem sie sich von dem Mord Möbius' überrascht zeigt. Der Inspektor weist damit die Verantwortung für die Aufklärung zurück, er kapituliert vor einer Situation, die er ohnehin nicht verändern kann. Dies kann als Spiegel der Gesellschaft verstanden werden: die Anpassung wird dem Widerstand vorgezogen, um sich dadurch freier zu fühlen.

Gespräch zwischen Möbius und Fräulein Mathilde von Zahnd

Möbius redet sich wie üblich auf den König Salomo heraus, der ihm angeblich erscheine, ihm Anweisungen erteile und so zu seiner Genialität verhelfe. Auch wenn diese Verrücktheit nur gespielt ist, glaubt ihm Fräulein von Zahnd - die Regieanweisung «Schwerfällig. Bleich.» und ihre Wiederholung «Seine Majestät ordnete den Mord an» belegen dies. Hier zeigt sich dem aufmerksamen Leser bereits ihre Verrücktheit.

Gespräch zwischen den drei Physikern

Dieses Gespräch beim Abendessen stellt den inneren und äusseren Höhepunkt des Stücks dar.

1. Gesprächsteil

Die drei Physiker geben gegenüber ihren Mitbewohnern zu, dass sie nicht wirklich verrückt sind. Newton heisst eigentlich Alec Jasper Kilton, ist der Begründer der «Entsprechungslehre» und hat sich als Agent (vermutlich der CIA) verpflichtet, er steht für den Westblock (zum Beispiel USA), genauso Einstein, der in Wirklichkeit Joseph Eisler heisst und den «Eisler-Effekt» entdeckt hat, er steht für den Ostblock (möglicherweise UdSSR). Beide sind hinter den Arbeiten von Möbius her, der die sogenannte «Weltformel» entdeckt zu haben glaubt und versucht diese zu schützen, indem er sich als Irrer hat einliefern lassen – vergeblich. Jeder der beiden Agenten will nun Möbius' Forschungsergebnisse für sein Land beanspruchen. Beide ziehen ihre Pistolen, erkennen jedoch die Sinnlosigkeit eines Duells und legen sie wieder beiseite, da beide gleich gut mit einer Waffe umgehen können.

2. Gesprächsteil

Der Diskurs zwischen den Physikern über die Möglichkeit des wissenschaftlichen Forschens in der heutigen Welt ist der gedankliche Höhepunkt des Stücks. Dabei vertreten die Physiker folgende Positionen:

Möbius Newton (Kilton) Einstein (Eisler)
will im Irrenhaus bleiben wollen Möbius für ihre jeweilige Regierung gewinnen
  • entlarvt scheinbare Möglichkeiten einer freien Entscheidung als Sackgasse
  • Kiltons und Eislers Weg können nur in die Katastrophe führen
  • Risiko des Untergangs der Menschheit darf nicht eingegangen werden

→ seine Lösung: Zurücknahme der wissenschaftlichen Erkenntnis

  • lockt mit Nobelpreis
  • mahnt Möbius an seine Pflicht als Wissenschaftler, seine Entdeckungen der Menschheit zu übergeben
  • Wissenschaftler sind nicht zuständig für die Verwendung ihrer Erkenntnisse

→ lehnt jegliche Verantwortung ab

  • fordert die Entscheidung für ein politisches System
  • hat jedoch keinen wirklichen Einfluss auf seine politische Obrigkeit

→ kann keine Garantie für die Verwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse übernehmen

Als Möbius bekannt gibt, dass er seine Aufzeichnungen bereits verbrannt hat, erkennen die Agenten, dass ihr erneut fast begonnener Kampf keinen Sinn ergibt und legen abermals die Waffen nieder. Möbius versucht nun, die anderen zunächst mit Gründen der Vernunft von der Notwendigkeit des Verbleibens in der Irrenanstalt zu überzeugen: Die Wissenschaft sei schrecklich geworden, die Forschung gefährlich, die Erkenntnisse tödlich. Als einzige Möglichkeit sieht er die Kapitulation vor der Wirklichkeit und daher eine Zurückhaltung der Erkenntnisse. «Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.» Diese Überzeugungsarbeit fruchtet jedoch bei den Agenten nicht, sie wollen trotzdem das Irrenhaus verlassen. Daher überzeugt er sie mit ihren Morden: wenn sein Wissen an die Öffentlichkeit käme, wären die Morde umsonst gewesen und aus der Opferung zum Schutze der Menschheit würden ganz normale Morde, aus ihnen als Täter würden normale Mörder. Damit kann er sie überzeugen, ihre Gefangenschaft als Sühne für die begangenen Morde anzusehen und einen Beitrag zur Rettung der Menschheit zu leisten. Somit scheint das Stück zunächst positiv auszugehen: die Helden opfern sich, die persönliche Schuld wird gesühnt, die gestörte Weltordnung scheint wiederhergestellt. Die Physiker gehen auf ihre Zimmer.

Ende

Fräulein von Zahnd, die Besitzerin des Irrenhauses, lässt die drei Physiker von ihren Zimmern holen und entwaffnet die beiden Agenten. Sie erzählt, dass auch ihr der König Salomo seit Jahren erschienen sei. Sie ist die einzig tatsächlich verrückte Person im Haus (Interpretation 1). Sie gibt zu, dass sie die Krankenschwestern mit Absicht auf sie gehetzt hat, so dass sie sterben mussten. Dadurch sind die Physiker in der Anstalt festgehalten, da sie ausserhalb als «Mörder» gelten würden, als Irre sind sie dagegen nur «Täter». Fräulein von Zahnd hat sämtliche Aufzeichnungen von Möbius bereits vor der Vernichtung kopiert und so für sich erhalten können. Damit bewahrheitet sich die Aussage «Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.» So schlägt sie daraus riesige Gewinne und bedenkt nicht, welche grossen Gefahren in den Technologien liegen - Technologien, die die ganze Menschheit vernichten könnten. Die drei Physiker aber nehmen ihre Tarnung als Verrückte wieder auf und bleiben (vermutlich) bis zum Ende ihres Lebens im Irrenhaus. Die Offenbarung Fräulein von Zahnds stellt die von Dürrenmatt in seinen 21 Punkten erwähnte schlimmstmögliche Wendung dar, die nach Punkt 3 das Ende einer Geschichte darstellt. Sie ist zufällig (Punkt 4), da keiner der Physiker voraussehen konnte, was die Irrenärztin vorhatte und auch der Zuschauer im Dunkeln gelassen wurde.

Gesamtinterpretation

Das Stück kann als Frage nach der Ethik in der Wissenschaft verstanden werden und greift ferner die Problematik auf, dass einmal Gedachtes oder Entdecktes nicht rückgängig gemacht werden kann.

Zum Schluss bekommt die Chefärztin, Frl. Mathilde von Zahnd, die Formeln von Möbius in ihre Hände und ist daher in der Lage, die Weltherrschaft an sich zu reissen. Das Stück könnte aber auch auf einer höheren Ebene verstanden werden: Zum einen stehen Newton und Einstein für zwei unterschiedliche Etappen der Wissenschaft, die nicht unbedingt auf die Machtblöcke projiziert werden sollten. Newton als der Vertreter der «reinen Wissenschaft» (um ihrer selbst willen) und Einstein als Vertreter der pragmatisch angewandten Wissenschaft. Aus beiden resultiert Wissen, das letztendlich tötet. Beide sind somit eigentlich gescheitert. Möbius will dem entgehen, steht dabei teilweise zwischen diesen beiden Ansätzen, teilweise hat er einen neuen, eigenen: Isolation und Zurückziehung. Dass er letztendlich genau wie seine beiden «Vorgänger» scheitert, liesse wieder auf die Schlussfolgerung kommen, die Wissenschaft führe zwangsläufig zum Negativ. Man kann vermuten, dass Fräulein Doktor von Zahnd selbst Insassin des Irrenhauses ist und nur die Ärztin spielt, aber es wird zu Anfang deutlich gesagt, dass sie das Irrenhaus von ihrer Familie geerbt hat und ihr Geld in das Sanatorium steckt. Also ist sie wirklich die Besitzerin und Leiterin, obwohl sie trotzdem als verrückt gelten darf. Schliesslich sagt sie, dass ihr der König Salomo erscheine und dass sie die Weltherrschaft an sich reissen will. Auch ob Newton und Einstein nun verrückt, Geheimdienstagenten oder verrückte Agenten sind, ist egal. Wichtig ist das Verständnis: Wissenschaft gerät auch immer in die falschen Hände. Ausserdem zeigt das Drama, dass gemeinsame Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. So ist die von Möbius gedachte Lösung, sich zu isolieren, zwecklos, da er durch Fräulein von Zahnd überlistet wird. Die drei Physiker allein können das Problem nicht lösen.

Charakterisierung der wichtigsten Personen

Johann Wilhelm Möbius
Ein Physiker, 40 Jahre alt, der mehrere grosse Entdeckungen gemacht hat (zum Beispiel «das System aller möglichen Erfindungen» und die einheitliche Feldtheorie als Weltformel). Da er sich der Folgen seiner Erfindungen bewusst ist und die Verantwortung dafür übernehmen will, stellt er sich verrückt, um die Menschheit nicht zu gefährden. Sehr bald befindet er sich daher im Irrenhaus. Er gibt beispielsweise vor, seine Erfindungen von König Salomo offenbart zu bekommen. Allerdings wurde der ehemals weise König Salomo zum «arme[n] König der Wahrheit», der «nackt und stinkend [...] in [s]einem Zimmer [kauert]»; der Psalm, den Möbius in einem umgedrehten Tisch hockend vorträgt, zeichnet ein düsteres Bild von den möglichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis. Ausserdem gibt Möbius bei einem Abschiedsbesuch seiner Ex-Frau Lina (die nun mit dem Missionar Rose verheiratet ist) vor, sie und die drei gemeinsamen Buben nicht zu erkennen. Wie sehr Möbius sich zur Rettung der Menschheit aufopfert, wird auch darin deutlich, dass er das Heiratsgesuch der Schwester Monika ablehnt, die sein Spiel durchschaut hat; obwohl er sie ebenfalls liebt, bringt er sie um, um nicht in die «Freiheit» zu kommen, um somit die Menschheit zu retten.
Allerdings wird er von verschiedenen Mächten ausspioniert. Er beginnt seine Unterlagen zu verbrennen, ohne jedoch zu wissen, dass Frl. Doktor von Zahnd sich heimlich Kopien angefertigt hat.
Herbert Georg Beutler, genannt Newton, eigentlich Alec Jasper Kilton
Er ist ein weiterer der drei Physiker, die noch im alten Gebäude des Sanatoriums betreut werden. Später stellt sich heraus, dass er nicht verrückt, sondern ein Agent eines nicht näher benannten westlichen Geheimdiensts ist. Um Möbius bespitzeln zu können, musste er extra Deutsch lernen und sich verrückt stellen (er gibt sich als Sir Isaac Newton aus). Er versucht Möbius zu überreden, für die Landesverteidigung seines westlichen Staates zu arbeiten. Er verspricht ihm den Nobelpreis und mahnt ihn an seine Pflicht, seine Entdeckungen der Menschheit zu übergeben. Eine Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Entdeckungen lehnt er ab, stattdessen schiebt er die Verantwortung «den Menschen» zu.
Ernst Heinrich Ernesti, genannt Einstein, eigentlich Joseph Eisler
Der Dritte der drei angeblich «verrückten» Physiker. Auch er ist eigentlich Agent und repräsentiert den zweiten grossen Machtblock des Kalten Kriegs. Auch er bespitzelte Möbius und will mit ihm fliehen. Er fordert die Entscheidung für ein politisches System und des Dienstes für dieses System. Er gibt zu, dass der Wissenschaftler in seinem System ebenfalls nicht frei ist und keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die politische Obrigkeit hat, er kann daher als Wissenschaftler keine Garantie für die Verwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse geben. Letztendlich schiebt er die Verantwortung also auf die politischen Machthaber ab.
Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd
Die 55 Jahre alte bucklige Irrenärztin - eine alte Jungfer - ist Besitzerin des Sanatoriums und das letzte Mitglied einer alten Adelsdynastie von reichen bedeutenden Irren (Sie ist zu Beginn der Handlung die einzig normale Person ihrer Familie). Zunächst spielt sie eine grosszügige, menschliche Ärztin. Am Schluss des letzten Akts fällt jedoch diese Charakterfassade als scheinbare sorgsame und mütterliche Samariterin. Sie ist eine machtbesessene, skrupellose Frau und die einzige wirklich Verrückte in dem Stück. Mithilfe ihrer Planungs- und Manipulationskunst hat sie sich der genialen und zugleich gefährlichen Manuskripte des Möbius bemächtigt. Sie stellt die unkontrollierbare und bedrohliche dritte Macht dar.
Der Kommissar, Richard Voss
Er ist nicht mehr ganz jung, da er schon einige Zeit in seinem Beruf arbeitet und eine Menge Erfahrung hat. Er ist ein gebildeter Mensch, ist aber manchmal sehr überarbeitet und daher müde in seinem Beruf. Er trägt Mantel und Hut. Er versucht im ersten Akt zunächst, Gerechtigkeit durch die Bestrafung der Mörder herzustellen, scheitert aber dabei immer wieder an den verrückten Ordnungsbegriffen des Irrenhauses. Im zweiten Akt hat er die irren Massstäbe akzeptiert und kann so ganz entspannt sein, den Mörder nicht verhaften zu müssen.

Anwendung von Dürrenmatts Dramentheorie

Im zweiten Akt wendet Dürrenmatt seine Dramentheorie an: «Die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in die Komödie». Über die Probleme der modernen Gesellschaft könne man sich seiner Meinung nach nur noch lustig machen - da das Sterben zur Massenerscheinung geworden sei, wäre die Tragödie nicht mehr interessant. Komisch sind dabei nicht die Dialoge, sondern die groteske Situation.

Die Schlussmonologe

In den drei Schlussmonologen am Ende, finden Kilton, Eisler und Möbius wieder in ihre anfänglichen Rollen als Physiker zurück. Die Geheimagenten stellen sich als Newton und Einstein vor und Möbius identifiziert sich voll und ganz mit dem König Salomon (S. 86: «Ich bin Salomo. Ich bin der arme König Salomo.»). Der Schluss erweckt den Eindruck einer Gerichtsszene, denn Newton, Einstein und Möbius geben zunächst persönliche Daten wie Name, Geburtsdatum und Wohnort an und beschreiben dann ihren Lebenslauf und wissenschaftlichen Werdegang, was wie ein Geständnis ihrer Taten klingt («Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht»).

Newton steht in seinem Schlussmonolog für das Ideal einer alles umgreifenden Wissenschaft, da er seine Wissenschaft zum Erlangen politischer Macht («Ich bin Präsident der Royal Society»), verwendet hat, die er aber in den Hintergrund stellt («Aber es braucht sich deshalb keiner zu erheben») und dadurch Weisheit zeigt. Ausserdem hat er «die mathematischen Grundlagen der Naturwissenschaft» geschrieben und drückte durch «Hypotheses non fingo» seine begründete Gewissheit aus. In vielen weiteren Gebieten wie zum Propheten Daniel und zur Johannes-Apokalypse arbeitete er Manuskripte aus und verkörpert daher ein Genie in fast allen Gebieten und ist mit allen Wassern gewaschen. Jedoch spricht er in seinem Abschiedsmonolog eine Wissenslücke an, nämlich die Frage nach dem Wesen der Schwerkraft, die er offen lassen musste.

In Einsteins Aussage steigert sich das von Newton personifizierte Ideal einer alles umgreifenden Wissenschaft zum Versagen des Wissenschaftlers vor ethischer Herausforderung, an der er trotz seiner Menschenliebe gescheitert ist. Auf seine Empfehlung hin, wurde die Atombombe entwickelt und eingesetzt, um zigtausenden von Menschen des Lebens zu berauben («aber auf meine Empfehlung hin baute man die Atombombe.»). Obwohl er an derartig zerstörerische Folgen und Ausmasse für die Menschheit wahrscheinlich nicht gedacht hatte, war er es doch, der solch eine grausame Waffe erst ermöglichte und ethnische Massstäbe sprengte.

In Möbius' Schlussmonolog, welcher sich vollkommen mit König Salomo identifiziert, wird der zuvor gescheiterte Wissenschaftler und Mensch ins Endzeitstadium versetzt. Das durch Newton vermittelte, stolze, weise und alles umgreifende Bild des Wissenschaftlers und Menschen wirkt, durch Salomo symbolisiert, nun kläglich und erbärmlich. Einst unermesslich reich, weise und gottesfürchtig, vernichtet Salomo sich durch die Umsetzung seiner eigenen Weisheit in mehr und mehr Macht und dem daraus resultierenden Grössenwahn selbst («Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum.»). Sein Reich wurde durch die Folgen seiner Wissenschaft in eine blauschimmernde Wüste verwandelt. Die Sonne wird als namenloser Stern beschrieben («…und irgendwo um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern…»), da alles Leben auf der Erde vernichtet ist und kein Mensch mehr lebt, der ihn «Sonne» nennen kann und der von der verseuchten, radioaktiven Erde umkreist wird. Salomo (Möbius), hat die Menschheit durch sein Wissen ins Verderben geführt, da er seine Verantwortung zu spät erkannt hat, um dementsprechend verantwortungsbewusst zu handeln. («…mein Reich leer, das mir anvertraut worden war,…»).


Im Anhang der Komödie finden sich 21 Thesen. Die wichtigsten davon sind:

  • Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.
  • Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.
  • Je planmässiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall treffen.
  • Ein Drama über die Physiker muss paradox sein.
  • Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen.
  • Was alle angeht, können nur alle lösen.
  • Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.
  • Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.

Literatur

  • Bernd Matkowski: Erläuterungen zu Friedrich Dürrenmatt Die Physiker. Hollfeld, Bange, 2000, ISBN 3-8044-1712-4