Geschichte der Hirnforschung

Schon früh in der Menschheitsgeschichte lassen sich systematische Beeinflussungen des Nervensystems nachweisen. Es ist bekannt, dass Menschen schon wenigstens vor 6000 Jahre den euphorisierenden Effekt der Mohnblume kannten und der berauschende Effekt von Alkohol in vergorenen Früchten dürfte der Menschheit noch länger bekannt sein [1]. Spätestens in Mesopotamien wurde die gezielte Herstellung des Alkohols kultiviert und die Effekte von anderen Rauschmitteln wurden von den Ägyptern systematischer erforscht [2]. Der gezielte Einsatz von bewußtseinsverändernden Substanzen kann in Europa seit 3500 Jahre in den Mysterien von Eleusis nachgewiesen werden. Die Nützlichkeit dieser Entdeckungen mag bezweifelt werden, doch im wesentlichen stellen diese Schritte die Wurzeln der heutigen Neuropharmakologie dar.
Ebenfalls aus Funden aus dem frühen Ägypten wissen wir, dass vor 5000 Jahren Menschen mit ersten operativen Eingriffen in das Zentralnervensystem begannen, wie an systematischen Schädelöffnungen (Trepanationen) an Schädeln dieser Zeit abzulesen ist. Etwa 70% der Schädel, die solche Merkmale aufweisen zeigen Zeichen der Heilung und lassen daher auf eine erfolgreiche Anwendung der Technik schließen, da der Patient den Eingriff um Monate oder gar Jahre überlebt haben muß. Dies kann als Geburtsstunde der Neurochirurgie gelten, wenn nicht gar der Chirurgie im allgemeinen. Die guten Kenntnisse der Ägypter über das Gehirn und seine Funktion geht auch aus dem überraschend systematisch und rational verfassten Papyrus Edwin Smith hervor. Diese Papyrus, das in Ägypten 1700 vor Christus verfasst wurde, geht auf Schriften zurück, die bereits um 3000 vor Christus existiert haben müssen und damit als die ältesten medizinischen Dokumente der Menschheitsgeschichte gelten müssen [3]. Obwohl in dem Papyrus das Gehirn, seine Organisation in Gyri und Sulci, das Rückenmark, die Hirnhäute und die umgebenden Knochen beschrieben werden, erwähnt das Werk zu keinem Zeitpunkt das Wort Nerv. Dies ist ein Konzept, das den Agyptern offenbar noch unbekannt war.
Antike
Um 500 vor Christus identifiziert und präpariert Alkmaion von Kroton als erster den optischen Nerven und andere sensorische Nerven [4]. Alcmaeon entwickelte die Vorstellung, dass Nerven hohl seien und ein leeres Medium (kenon) umhüllten, das den Sinneseindruck zum Gehirn leitet. Dies wird von Hippokrates von Kos (460-379 v. Chr.) genauer ausgeführt. Ungleich Aristoteles der die Empfindungen dem Herzen zuordnete, sah Hippokrates das Gehirn als Sitz der Empfindung und Intelligenz und erkannte, dass Epilepsie eine Erkrankung des Gehirns und durch Reize auslösbar ist. Jedoch auch, wenn das Gehirn bereits als Sitz von Empfindungen und Intelligenz gesehen wurde, so war die wahre Natur des Gehirn noch lange nicht bekannt. Galen (um 129 - um 216) unternahm erste neurophysiologische Experimente wie z.B. Schnitte, Läsionen. Seine Arbeit konzentrierte sich dabei vor allem auf die Ventrikel, die flüssigkeitsgefüllten Kammern. Er studierte, wie sich Schnitte und Druck auf die Ventrikel auswirkten[5]. Im Anschluß an Alcmaeon von Kroton glaubte Galen, dass es eine Verbindung zwischen den scheinbar leeren Räumen der Ventrikel und der Seele gäbe, da die flüssige Substanz der ätherischen Seele ähnlicher scheint und so als Mediator zwischen Körper und Seele dienen konnte. Diese Substanz nannte Galen "spiritus animalis" (lat. "belebender Geist), ein Konzept, dass die Sichtweise aufs den Zusammenhang von Seele und Geist auf Jahrhunderte prägen sollte [6] [7].
Mittelalter
Andreas Vesalius (1514-1564) beschäftigte sich mit der Gehirnanatomie.
Renaissance

Descartes (1596-1650) postuliert die Zweiteilung von Körper und Seele. Körper und Seele bestehen seiner Meinung nach aus verschiedenen Substanzen, von denen die Geistige, die res cogitans immateriell ist.
Thomas Willis (1621-1675) unterschied die graue Rinde und das weiße Marklager des Gehirns.
19. Jahrhundert
Franz Josef Gall (1758-1828) ist Begründer der Phrenologie (Schädelkartierung) und damit der Lokalisationstheorie, die besagt, dass bestimmte Vermögen in bestimmten Bereichen des Gehirns beheimatet sind. Nach Galls Theorie konnte das Gehirn ähnlich einem Muskel trainiert werden und die Verwendung bestimmter bereiche hätte dadurch eine vergrößerung des Gehirns in diesem Bereich zur Folge, der sich am Schädelknochen ablesen läßt. Die von Gall postulierten Vermögen (Religiösität, Brutalität) muten nach heutigen Maßstäben abenteuerlich an, und auch die Idee, dass das Gehirn den Schädelknochen beeinflußt ist mittlerweile als falsch erwiesen (mit der Ausnahme des Hydrocephalus), dennoch hat Gall mit der Lokalisationstheorie die Sichtweise aufs Gehirn entscheidend geprägt. Ihm gegenüber standen die anhänger der holistischen Theorie, wie Pierre Flourens (1794-1867) der als führende Wissenschaftler der Gegenbewegung zu Galls Lokalisationstheorie zu gelten hat. Man nahm an, dass alle Sinneseindrücke und alle Vermögen auf das gesamte Gehirn verteilt sind.
Beide Theorien erwiesen sich als falsch. Galls, aufgrund der falschen Vorstellung, welcher Art die Vermögen sind, die lokalisiert sind und Flourens Theorie konnte spätestens durch die Studien von Paul Broca (1824-1880) und Carl Wernicke (1848-1905) wiederlegt werden. Broca behandelte 1861 einen Patienten, der nach einem Schlaganfall Sprach zwar sehr wohl verstehen konnte, sich aber unfähig zeigte sich selbst sprachlich zu äußern. Damit konnte Broca das motorische Sprachzentrum im linken Frontallappen lokalisieren, das bis heute Broca-Areal heißt. Wernicke dagegen untersuchte 1874 ebenfalls einen Schlaganfallpatienten, der zwar flüssig sprechen konnte, allerdings sprachliche Äußerungen nicht verstand. Wernicke konnte somit das sensorische Sprachzentrum im linken Temporallappen lokalisieren, das nun Wernicke-Areal genannt wird.
Nach diesen Erkenntnissen und dem damit vorläufigen Siegeszug der Lokalisationstheorie begann man gezielt Hirnareale bei Tieren zu entfernen oder mit ihnen zu interferieren, wie es Gustav Fritsch und Eduard Hitzig mittels elektrischer Stimulation getan haben, um ihre Rolle zu studieren, doch die wissenschaftlichen Möglichkeiten blieben begrenzt. Was fehlte, war ein einheitlicher Anatomischer Atlas, auf den man sich beziehen konnte, wenn man von Arealen sprach.
Zum Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts tobte weiterhin eine langanhaltende Diskussion, ob das Gehirn aus einzelnen Zellen oder aber aus einer durchgehenden (anastomosischen) Gewebemasse (Synzytium) besteht. Während Camillo Golgi letzterer Theorie anhing, konnte Ramon y Cajal eine von Golgi entwickelte Färbemethode verwenden, um das Gegenteil zu beweisen, wofür beide 1906 den Nobelpreis erhielen. Es sei nebenbei erwähnt, dass auch Freud lange Zeit der Synzytium-Theorie anhing.
20. Jahrhundert

In dieser Abbildung sind die Schichten II und III sowie IV und V zusammengefasst.
Ein vereinheitlichender Atlas für neurowissenschaftliche und neuropsychologische Forschung sollte 1909 von Korbinian Brodmann unter Verwendung des neu aufkommenden Mikroskops und der von Franz Nissl entwickelte Färbemethode erstellt werden. Anhand der histologischen Kriterien der Cytoarchitektur, d.h. der Verteilung und Anzahl verschiedener Zelltypen in der Großhirnrinde, konnte Brodmann die gesamte Großhirnrinde in 52 Areale unterteilen. Nach heutigen Maßstäben eine unglaubliche Fleißarbeit. Brodmanns Nummerierung wird bis heute verwendet, wenn auch viele Bereiche mittlerweile weiter unterteilt sind.
Kurt Goldstein kritisiert die starre topographische Einteilung des Hirns in Funktionszentren (1934).
Die elektrische Hirnaktivität (EEG) eines menschlichen Gehirns wurde erstmals 1929 von Hans Berger gemessen.
Lord Edgar Douglas Adrian und Sir Charles Sherrington erhielten 1932 den Nobelpreis für Grundlagen der Sinnesphysiologie.
1949 wurde der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin an zwei Forscher vergeben, denen es gelungen war, bestimmte Funktionen im Hirn zu lokalisieren. [8] Der schweizer Physiologe Walter Rudolf Hess hatte die Auswirkungen gezielter elektrischer Reizungen im Zwischenhirn von Versuchstieren beobachtet und aufgrund dieser Experimente eine detaillierte funktionale Karte des Zwischenhirns geschaffen. Der zweite Preisträger war der portugiesische Neurologe António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz, der die Leukotomie (auch „Lobotomie“ genannt) zur Behandlung psychiatrischer Krankheiten eingeführt hatte. Dieses Operationsverfahren, bei dem Teile des Gehirngewebes des Patienten durchtrennt wurden, begründete die Psychochirurgie. Aufgrund der drastischen Nebenwirkungen kam es jedoch nach Aufkommen der Neuroleptika schon bald kaum noch zum Einsatz.
Roger Sperry, Torsten N. Wiesel und David H. Hubel erhielten 1981 den Nobelpreis für Einzelzellableitungen in der Sehrinde.
Eric Kandel, Paul Greengard und Arvid Carlsson erhielten 2000 den Nobelpreis "Für ihre Entdeckungen zur Signalübertragung im Nervensystem".
Literatur
- Allgemeine Darstellungen
- Erhard Oeser: Geschichte der Hirnforschung; Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2002
- Michael Hagner: Homo cerebralis, Insel Verlag, Frankfurt 2000
- Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, Suhrkamp, Frankfurt, 1997
- Sekundärtexte
- Kandel, Eric R.; Schwartz, James H.; Jessel, Thomas M.: Principles of Neural Science. McGraw-Hill, New York, 2000 4. Edition ISBN 0-8385-7701-6, S. 5-18)
Quellen
Einzelnachweise
- ↑ Westermeyer J.: Cross-cultural studies on alcoholism. In: Goedde HW: Alcoholism: Biomedical and genetic aspects. Pergamon Press, New York, S. 305-311.
- ↑ Cranach von, D.: Drogen im Alten Ägypten. In: Völger G, Welck K: Rausch und Realität: Drogen im Kulturvergleich Bd 2. Rowohlt, Reinbek, 1982, S. 480-487.
- ↑ Breasted, J. H.: The Edwin Smith surgical papyrus. Chicago: Univ. Chicago Press, 1980, 2 vols. S. (see 1: xvi, 6, 480-485, 487-489, 446-448, 451-454, 466; 2: pi. XVII, XVIIA)
- ↑ Lloyd, 1975.: Alcmeon and the early history of dissection , Sudhoffs Archiv, 59: 113-47
- ↑ Goss CM: On anatomy of nerves by Galen of Pergamon Am J Anat. 1966 Mar;118(2):327-35.
- ↑ Mansfeld, J. Alcmaeon: 'Physikos' or Physician. In Kephalaion: Studies in Greek Philosophy and its continuation offered to Professor C. J. de Vogel, edited by J. Mansfeld and L. M. de Rijk, 26–38. Assen, Netherlands: Van Gorcum, 1975.
- ↑ Diels, H.; W. Kranz. Die Fragmente der Vorsokratiker. 6th ed., Band 1, 210–216. Dublin, Ireland: Weidmann, 1952.
- ↑ Herbert Olivecrona: The Nobel Prize in Physiology or Medicine 1949, Presentation Speech In: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1942-1962, Elsevier Publishing Company, Amsterdam, 1964 [1]