Feindesliebe
Als Feindesliebe bezeichnet man ein individuelles und soziales Verhalten, das eine Situation der Feindschaft zu überwinden sucht, indem der Angegriffene dem Angreifer bewusst etwas Gutes tut. Das lehren die meisten Religionen mehr oder weniger ausdrücklich.
Im Hinduismus kann Feindesliebe als gewaltfreies Festhalten der Wahrheit (Satyagraha) gegen feindliche Fremdbestimmung praktiziert werden. Das verwirklichte für Mahatma Gandhi das uralte vedische Prinzip des Nichtverletzens (Ahimsa) und somit das göttliche Brahma.
Im Buddhismus ist Feindesliebe zentrales Element der Lehre Buddhas, die zur Achtsamkeit allen fühlenden Wesen gegenüber verpflichtet und in der Auseinandersetzung mit dem Feind zum Loslassen von negativen Emotionen anleitet.
Im Judentum und Christentum ist Feindesliebe eine bestimmte Auslegung und Anwendung des biblischen Gebots der Nächstenliebe (3. Mose 19, 17-18). Reformorientierte Rabbiner wie Hillel vertraten sie. Jesus von Nazareth hat sie geboten und konsequent praktiziert.
Die aufgeklärte Philosophie Immanuel Kants begründet die Überwindung von Feindschaft rational: Der "kategorische Imperativ" macht das Allgemeinwohl zur obersten Maxime und greift damit die gesellschaftlichen Gewaltursachen an. Dabei griff Kant auf die "Goldene Regel" zurück, die im Neuen Testament direkt neben der Feindesliebe steht (Lk. 6, 27.31).
Die Psychoanalyse kritisiert Feindesliebe als Überforderung des natürlichen Egos. Rosemary Ruether machte sie für den christlichen Antijudaismus als eine Ursache des Holokaust mitverantwortlich.
Der Artikel stellt einige originale Begründungen für Feindesliebe dar. Er will das gemeinte Verhalten und seine Bedeutung im heutigen Religionsdialog genauer beschreiben.
Die biblische Begründung der Feindesliebe
Die hebräische Bibel kennt kein Gebot der Feindesliebe. Erst Jesus von Nazareth hat es formuliert. Doch das gemeinte Verhalten kommt auch im "Alten" Testament vor und ist in seiner Theologie angelegt.
Der Völkersegen
Laut Bibel verdankt das Volk Israel sein Werden Gott. Diese "Erwählung" grenzte es von den Fremdvölkern ab und wurde oft sehr drastisch dargestellt. Sie enthielt aber auch ein Zukunftsversprechen für alle Völker. Abraham, dem Stammvater Israels, wurde bei seiner Berufung verheißen (1. Mose 12, 2-3): ...in Dir werden alle Generationen der Erde gesegnet werden."
In der Richter- und frühen Königszeit musste sich Israel gegen Fremdvölker behaupten und sah seinen Gott vorwiegend als Rächer gegen die, die es bedrohten. Doch nach dem Untergang des Königtums im Exil erkannten die Propheten, dass Israels Gott alle Völker befreien will und sein Volk dazu eine segnende Rolle spielen soll.
So verband Jesaja Israels Heilserwartung untrennbar mit dem Völkerfrieden, der die Schöpfung verwandelt und den Fluch der Feindschaft (Gen. 3, 15) überwindet (Jes. 11, 1-10). Deuterojesaja verhieß ihm folgend mit der Heimkehr der Exilierten eine neue Form des Gottesdienstes, der Fremde nicht mehr ausschließt. Israel sollte durch vorbildliches Befolgen der Gebote zum "Licht der Völker" werden (Jes. 49, 1-6).
Das Gebot der Nächsten- und Fremdenliebe
Nächstenliebe ist ein an Mose offenbartes Zentralgebot der Tora (3. Mose 19, 17-18):
Du sollst Deinen Bruder nicht hassen in Deinem Herzen, sondern Du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; (denn) Ich bin JHWH!
Im gleichen Kontext wird Fremdenliebe geboten (3. Mose 19, 33-34): Den Fremdling, der bei euch in eurem Land wohnt, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland: Ich bin JHWH, euer Gott.
Beide Gebote sind gleichrangig und verlangen unbedingt die Überwindung von Feindschaft im Bereich des Gottesvolks. Nicht nur dessen Angehörige, auch Fremde sind als "Nächste" anzusehen, deren Schutz allen Gottesfürchtigen obliegt. Das hielt die Grenze zwischen In- und Ausland ein. Da es aber mit dem befreienden Exodushandeln Gottes begründet wird, intendiert es ein soziales Verhalten, das auch die äußeren Feinde Israels einbeziehen kann. Deren "Entfeindung" legt der biblische Glaube also schon nahe.
Jesu Toraauslegung
Das Gebot der Feindesliebe steht in der Bergpredigt. Sie beginnt mit Heilszusagen, die Gottes Reich vergegenwärtigen. Diese bestimmen den Sinn der folgenden Gebotspredigten. Was Jesus als "Antithese" zur jüdischen Tradition einführte - "Ich aber sage euch" - , erneuerte nur jüdische Zentralgebote, besonders die Nächstenliebe. Er übertrieb tradiertes Recht, um Gottes wahren Willen bewusst zu machen: In jedem Konfliktfall geht es um die Grundeinstellung zum Mitmenschen. Sie ist entscheidend, nicht die Schwere der Tat.
Für Jesus war Jeder ein potentieller Mörder, der seinen Nächsten hasst und beschimpft. Da das jeder Mensch irgendwann tut, droht Allen Gottes Verwerfung im Endgericht (das "Höllenfeuer", Mt. 5, 22). "Morde nicht" hieß für ihn demgemäß, Zorn abzulegen und Hass zu überwinden, der zum Morden führt.
Darum war die Versöhnung mit dem Nächsten für Jesus heilsamer als jedes Opfer für Gott (Mt. 5, 23ff). Wie Israels Propheten (z.B. Hosea 6, 6) lehnte er Gottesdienst ohne Wohltaten für die Armen und Unrecht Leidenden in Israel ab. Er verlangte konkrete Konfliktlösung und Überwindung von Streit. Diese wahre Liebe zu Gott machte er zur Bedingung des Heils.
Dazu forderte er gegenüber der Tradition - „Weise deinen Gegner zu Recht!“ - einen konkreten Rechtsverzicht: Wartet nicht bis zur Gerichtsverhandlung, sondern geht sofort auf den Feind zu und löst den Streit mit ihm, bevor er euch mit Nachteilen zur Einigung zwingt (Mt. 5, 25-26).
Versöhnung hieß für Jesus also Durchhalten der Nächstenliebe in harten Konflikten. Ihr Ziel war die "Entfeindung" des Streitgegners.
Jesu Feindesliebe im sozialen Kontext (Mt 5, 38-42)
Ihr habt gehört (2. Mose 21, 23f), dass gesagt worden ist: Ein Auge für ein Auge und ein Zahn für einen Zahn...":
Das hier zitierte Vergeltungsgebot setzte Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge voraus und verlangte dafür einen angemessenen Schadensersatz vom Täter. Es wehrte Sippenhaft, Rache und Selbstjustiz des Opfers ab. Es verlangte eine verhältnismäßige Haftung und Begrenzung der Strafe in einem geregelten Rechtsverfahren.
Jesus forderte stattdessen überraschenden Gewaltverzicht und Hinwendung des Opfers zum Angreifer: "Ich aber sage Euch: Leistet dem, der Euch Böses antut, keinen Widerstand. Sondern wenn Dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin. Will Dich einer vor Gericht bringen, um Dir das Hemd zu rauben, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn Dich einer zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm."
Die Beispiele zeigen die damalige rechtlose Lage der meisten Juden. Schlagen, Berauben und Nötigen schädigte und bedrohte sie an Leib und Leben. "Zöllner" und römische Soldaten ignorierten biblische Sozialgesetze, trieben Abgaben ein, erzwangen Frondienste und bereicherten sich gemeinsam dabei. Die Armen konnten ihre Rechte nicht einklagen, da es keine unabhängigen Gerichte gab. Das erzeugte Hass und Widerstand, auf den die römische Besatzung nur mit noch mehr Gewalt reagierte. Damit angemessen umzugehen war Jesu Anliegen.
„Wer Dich auf die rechte Backe schlägt...“: Die Ohrfeige eines Rechtshänders landet nur rechts, wenn sie mit dem Handrücken ausgeführt wurde. Das schmerzt weniger, demütigt aber um so mehr. Ein Talmudtraktat über Körperverletzungen legte dafür eine doppelte Geldstrafe fest. - Jesus forderte das Hinhalten auch der anderen Wange: Demütige den, der dich demütigt. Reagiere genau umgekehrt, als er erwartet. Zeige ihm dein Gesicht: Verzichte auf Gegengewalt. Das sollte nicht weitere Schläge provozieren, sondern den Täter verblüffen, zum Einhalten bringen und die bedrohliche Situation entspannen.
„Wer Dir das Hemd raubt, dem lass auch noch den Mantel“: Viele Juden gerieten damals in Überschuldung, verloren ihre Habe und mussten dann im Freien lagern. Der einteilige Leinenmantel diente als schützende Zudecke. Auch Jesu Jünger besaßen nur dieses Gewand, um den Armen als Arme das Evangelium zu bringen (Mk. 6, 9/ Mt. 10, 10). Das jüdische Gesetz (Ex 22, 25/ Dtn 24, 10-13) verbot seine Pfändung, um verarmten Juden das Überleben zu sichern. Diese Grenze wurde damals oft missachtet.
Jesus plädierte auch hier für eine paradoxe Reaktion: Wer dich enteignet, dem gib außerdem, was ihm rechtmäßig gar nicht zusteht. Beschäme den Gläubiger, damit er dein Leben achten lernt. So kannst du ihn doch noch dazu bewegen, seine Forderung menschlich mit dir zu regeln.
„Wer Dich nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen...“: Jeder römische Legionär durfte jeden Juden zwingen, ihm sein Gepäck bis zu einer Meile weit zu tragen. Eine solche legale Nötigung demütigte die Nachfahren der Hebräer, die Gott aus Ägypten befreit und zu seinem Volk erwählt hatte, und provozierte Widerstand, der meist tödlich für die Schwächeren endete.
Jesus nahm die Alltagserfahrung der Unterdrückten, um ihnen ihre wahre Macht zu zeigen: Beschämt die, die euch als Sklaven behandeln. Ertragt ihre Last und geht freiwillig doppelt so weit mit. Das gibt euch genug Zeit, einander besser kennen zu lernen. Damit wahrt ihr eure Würde und die Chance zur Versöhnung mit den Feinden.
Jesu Feindesliebe im theologischen Kontext (Mt. 5, 43-48)
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst Deinen Nächsten lieben, aber Deinen Feind hassen. Ich aber sage Euch: Liebet Eure Feinde!
Jesu Gebot erscheint hier als Kontrast zu einer jüdischen Tradition, die Feindeshass verlangte. Bibel und Talmud kennen zwar Rachegebete und Gerichtsansagen für Fremdvölker, aber kein solches Gebot. Das Zitat stammt daher sicher nicht von Jesus.
Matthäus hat es ergänzt, um klarer zu machen: Die Feinde sind keine Privatpersonen, sondern die, die Jesu Volk und Nachfolger akut verfolgen und bedrohen. Er schrieb sein Evangelium nach der fatalen Niederlage des Zelotenaufstands 70 n. Chr.. Der Tempelverlust betraf Juden wie Christen. Die Römer bedrohten sie wie in Jesu Fallbeispielen zuvor. Darum dehnte Matthäus Jesu Gebot zu Recht auf sie aus und erinnerte seine Leser mit Jesu Tora-Auslegung an den viel aussichtsreicheren gewaltlosen Widerstand davor: So gab er Juden und Christen in der verzweifelten Nachkriegszeit ein Stück ihrer gemeinsamen Identität zurück.
Jesu eigene Sicht zeigen die folgenden Verse (vgl. Lk. 6, 27ff): "Segnet die, die euch verfluchen, ...damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also genauso vollkommen sein, wie es euer himmlischer Vater auch ist."
Jesus sah sich zu Israel, nicht zu Nichtjuden gesandt (Mt. 15, 24). Aber er bezog Ausländer in Gottes Heilszusagen ein. Demgemäß verlangte er von seinen Hörern ein Segnen, Wohltun, Fürbitten, das ihren Verfolgern zugute kommt: analog zu dem Bund, den Gott nach der Sintflut mit Noah, dem Stammvater der Völker schloss (Gen. 8, 22). Israel und Jesu Nachfolger sollten sich von ihnen unterscheiden, indem sie gerade ihnen Gutes tun und sie in sein Heil einladen. Das sollte das "Böse" - die Feindsituation - überwinden.
Er verlangte dazu eine konkrete Zuwendung der „Opfer“ zu den „Tätern“. Ihre Begegnung sollte beiden ermöglichen, gemeinsam „Kinder Gottes“ zu werden. Damit widersprach er der Begrenzung der Nächstenliebe auf das eigene Volk, wie sie damals die Zeloten vertraten. Diese glaubten, Gottes Gericht an Israels Feinden vollstrecken zu dürfen. Damit führten sie Israel in den Untergang. Er bewahrte und erneuerte dagegen in tödlicher Verfolgung den Glauben an Gottes universale Fürsorge und an die Aufgabe des Gottesvolks, den Völkersegen (1. Mose 12, 3): "Ihr seid das Licht der Welt!" (Mt. 5, 14).
Er erinnerte seine Jünger auch an Daniels Apokalyptik, die auch den Fremdvölkern Befreiung von Gewaltherrschaft verhieß (Mk. 10, 42-45). Sein Gebot verlangte also keine ziellose Unterwerfung, sondern die Entfeindung der Mächtigen. Es gab allen Juden und Christen Trost und Hoffnung: Nichts muss bleiben, wie es ist, wenn sie vorbildlich als "Licht der Welt" handeln. So zeigte er, dass Israel Erwählung immer schon auch Israels Feinde befreien wollte.
Jesus lebte dies vor. Er bewegte z.B. Steuereintreiber durch unvermuteten Besuch, geraubten Besitz den Armen zu erstatten (Lk. 19, 1-10). Er handelte nicht immer ganz gewaltlos: So trieb er die Opferhändler energisch aus dem Tempel und griff gerade damit die Feindschaft zwischen Israel und den Ausländern an (Mk. 11, 15-17). Doch bei seiner Festnahme leistete er keine Gegenwehr und verbot sie seinen Jüngern (Lk. 22, 51). Im Verhör des Kaiphas (Jh. 18, 23) und vor Pilatus (Mk. 15, 1-4) nahm er nur geltendes Recht in Anspruch. Er begehrte keine Rache, sondern bat Gott noch am Kreuz um Vergebung für seine Mörder (Lk. 23, 34). So übte er den Rechtsverzicht aus, den er geboten hatte.
Darum verkündete die urchristliche Theologie gerade Jesu Tod als Überwindung der Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden (Eph. 2, 13f).
Zusammenfassung
Feindesliebe wurde in der früheren kirchlichen Theologie oft als christliche Eigenart und Kontrast zum Judentum aufgefasst. Neuere Forschungen haben dagegen immer klarer die jüdischen Wurzeln der Tora-Auslegung Jesu erkannt (z.B. Heinz Kremers). Damit wurde sein Gebot als konkrete Handlungsanleitung im damaligen sozialen Kontext verstehbar, nicht als abstrakte ethische Norm oder unerreichbares Ideal. Das ist ein Ergebnis des jüdisch-christlichen Dialogs seit 1945.
Heutige jüdische (z.B. Pinchas Lapide) und christliche Theologen (z.B. Jürgen Moltmann) greifen Kritik an inhumanen Folgen missverstandener Feindesliebe (Rosemary Ruether) auf und betonen: Jesu Gebot verlangt keine unnatürliche Sympathie, keine bloßes Nachgeben des "Klügeren", keine heroische Selbstaufgabe, sondern eine gezielte Überwindung von Feindschaft. Es gibt dem Heil der Feinde Vorrang und will so auch die Bedrohten schützen. Es konnte aber in einer Verfolgungssituation auch zum Martyrium führen.
Jesu Selbsthingabe bezeugt Gottes Feindesliebe für alle Menschen, die Hass, Gewaltherrschaft und unnötiges Leid überwinden will. Seine Nachfolger sollten ihre Chancen wahren, eine rechtlose Lage zu verändern, indem sie strikt auf Gegengewalt verzichten. Jesus war dabei nicht passiv, sondern ging aktiv voran (lateinisch „aggredere“). Er ließ sich die Wahl der Mittel nicht vom Gegner aufzwingen, weil Vergelten mit Gleichem unter Ungleichen nur zum Untergang führt. Er gab dagegen das Ziel eines gerechten Zusammenlebens nicht auf, sondern bewahrte es noch in seinem Leiden und Sterben. So lebte er vor, die üblichen Reaktionsmuster zu brechen, aus dem Teufelskreis der Gewalt auszusteigen und souverän auf Feinde zuzugehen, um Feindschaft abzubauen.
Dieses Konzept ermöglicht Opfern, ihre Ohnmacht zu überwinden, und Tätern, ihre Opfer als Menschen zu sehen. Es kann beider Menschlichkeit wiederherstellen. Es sucht Konflikte beharrlich mit dem Feind zu lösen. Es enthält Kampf, Leiden und Rückschläge, hat aber Aussicht, die Feindsituation langfristig zu überwinden. Es bringt Gegner auf einen gemeinsamen Weg, der zur Versöhnung führen kann.
Das zielbewusste Segnen war im Judentum schon bekannt. Der religiös-politische Widerstand seit den Makkabäer-Aufständen sollte Israels Tora gegen Fremdherrscher und deren "Götzen" bewahren: auch zu Gunsten ihrer Völker. Er war oft gewaltsam, aber ohne Gewalt erfolgreicher: So musste Pilatus 26 n. Chr. Kaiserbilder wieder aus dem Tempelbezirk entfernen, weil eine friedliche Menge im Tempelvorhof blieb und sich zum Martyrium bereit zeigte (Josephus).
Feindesliebe im Buddhismus
Die wechselseitige Entstehung von Feindschaft
Das Lernen mit dem Feind, das Lösen von Streit, das Überwinden von Hass, das Entwickeln von Toleranz und Mitgefühl für alle leidensfähigen Wesen sind entscheidende Elemente in Buddhas Lehre. Auch dort geht es um die reale Überwindung einer leidbringenden Situation.
So heißt es schon in den allerersten Verspaaren des Dhammapada aus dem Palikanon:
3. "Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so denkt, der wird die Feindschaft nicht besiegen.
4. Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so nicht denkt, der wird Feindschaft besiegen.
5. Denn Feindschaft kommt durch Feindschaft zustande; durch Freundschaft kommt sie zur Ruhe; dies ist ein ewiges Gesetz."
Um Feindschaft aufzulösen, braucht es also eine Einsicht: Ich selbst bin beteiligt am Erzeugen von Feindschaft. Ich selbst trage mit meiner Einstellung dazu bei. Ich selbst projiziere meine eigenen ungelösten Konflikte nach außen auf den "Feind". Um das zu erkennnen, brauche ich ihn! So ist gerade er in Wahrheit mein bester Freund: Er hilft mir, mich selbst besser zu erkennen. Dann kann ich aufhören, ihn für mein Leid verantwortlich zu machen. Dann entdecke ich ihn neu als ein ebenso leidendes Wesen. Dann höre ich auf, Vergeltung zu begehren, und werde mit dem Anderen solidarisch.
Das täglich Einüben der Feindesliebe
Im Dhammapada Vers 223 heißt es als Summe aus dem Vorangegangenen:
"Besiege (erobere) Zorn durch Liebe.
Besiege Böses durch Gutes.
Besiege Anhaftendes (am Eigenen Festhaltendes) durch Geben.
Besiege den Lügner durch die Wahrheit."
Buddha wusste also: Feindschaft lässt sich nur durch das genaue Gegenteil, nämlich Liebe gerade zu dem Feind überwinden. Aber diese Liebe lässt sich nicht befehlen. Sie will gelernt sein. Es kommt darauf an, sie im Alltag wirklich zu üben. Darum lehrte der "Erwachte" Einsicht, Barmherzigkeit, Geduld, Achtsamkeit und Überwindung von negativen Emotionen, die Gewalt erzeugen. Das üben Buddhisten seit Jahrtausenden, sowohl in meditativer Versenkung als auch in gesellschaftlichem Engagement.
Feindesliebe ist also im Buddhismus ebenso zentral wie in Jesu Lehre. Daraus kann sich die Möglichkeit einer interreligiösen Begegnung ergeben, die Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen hilft, ihre eigene Tradition besser wahrzunehmen und zu praktizieren. Dies wird von führenden Buddhisten längst offen angeboten.
Feindesliebe im Religionsdialog
Eine buddhistische Exegese der Bergpredigt Jesu
Tenzin Gyatso, der heutige 14. Dalai Lama, sieht den Dialog der Religionen als Beitrag zum Weltfrieden. Er möchte ihre Vielfalt erhalten und sie nicht zwanghaft vereinen, sondern ihnen Mitgefühl und Toleranz von ihren eigenen Glaubensgrundsätzen her nahe bringen.
1994 legte er dazu Jesu Bergpredigt öffentlich aus und stellte sofort fest: Jesu Gebot der Feindesliebe wäre in einer buddhistischen Schrift nicht als Bibeltext erkennbar. Sein Plädoyer, die Feinde zu segnen, gleiche dem Ideal des „bodhisattva“: Es ermutige Jeden, der Leid erfährt, darauf gewaltlos und mitfühlend zu reagieren und so Geduld gegenüber dem Feind zu üben.
„Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, worin unterscheidet ihr euch dann von Zöllnern und Heiden?“ Auch Shantideva, ein großer Lehrer des tibetischen Buddhismus, fragte: Wenn ihr eurem Feind kein Mitgefühl zeigt, wem dann? Selbst Tiere lieben ihresgleichen. Wir sollten zu Besserem fähig sein. Dazu kommt es auf die richtige Einstellung zu Feinden an: Gerade sie können einen Lernprozess in Gang bringen und uns helfen, Toleranz, Mitgefühl und uneigennütziges Handeln zu entwickeln.
Die Aufforderung, sie zu lieben, bewirkt noch keinen Wandel: Wir sind von Natur aus voreingenommen, fühlen Zorn gegen die, die uns Leid zufügen, und hängen an denen, die uns lieb sind. Es kommt also darauf an, eine starke Motivation für Mitgefühl zu entwickeln, die aufVernunft und Erfahrung, nicht auf Instinkt beruht. Das Potential dazu ist in Jedem von uns. Aber um es zu lernen, bedarf es disziplinierter, kontinuierlicher, täglicher Geistesübung (Meditation).
„Gott lässt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte und lässt es regnen über Gute und Böse“: Dieses Argument Jesu leitet zum unparteiischen Gleichmut allen Lebewesen gegenüber an. Christen müssen dazu nur ihren eigenen Glauben bedenken und keine Buddhisten werden: Gott hat alle Lebewesen geschaffen, und alle Menschen sind sein Ebenbild. Demnach haben wir Anteil an derselben göttlichen Natur. Denn die Sonne unterscheidet nicht, wohin sie scheint. Wir sind frei, gemäß seinem Willen, also ethisch zu handeln. Mitgefühl gegenüber Anderen erfüllt diesen eher als Opfer und Gebete ohne dieses Mitgefühl.
Das ist - wie die Idee von der Buddha-Natur - ein starker Grund, Gleichmut zu entwickeln. Das ist keine Apathie, die Gefühle abtötet, sondern eine distanzierte Betrachtung der eigenen Gefühle, die das „freie Feld“ für ein neues Mit-Fühlen und Mit-Handeln schafft. Das setzt Nach-Denken voraus: Was ist der Vorteil von Toleranz und Mitgefühl gegenüber Wut, Zorn und Hass? Wozu führt das eine, wozu das andere?
Wer die Beziehung zwischen Geist und Körper untersucht, stellt fest: Geduldige Menschen sind ruhig, gelassen, glücklich, emotional stabil und körperlich gesünder. Wir sind von Natur aus zu Mitgefühl und Sympathie bereit. „Im Grunde seines Wesens ist der Mensch sanft, nicht aggressiv oder gewalttätig.“
Diese Exegese will Christen von Buddhas Lehre aus helfen,
1. Jesu Feindesliebe im Alltag zu befolgen. Da sie oft nicht wissen, wie, sehen sie ein unerfüllbares Ideal darin. So verstand Martin Luther die Bergpredigt als Spiegel unserer Sünde, der uns auf Gottes Vergebung hinweist. Dietrich Bonhoeffer hat das scharf kritisiert ("Nachfolge") .
2. die geistige Kraft dafür zu entwickeln. Nur eine sehr starke Überzeugung kann Wut und Zorn, unsere natürliche Reaktion auf Gewalt, in Liebe umwandeln. Der Glaube an den Schöpfer allen Lebens ist so eine Motivation.
3. ihr Selbstvertrauen zu stärken. Denn Buddha sieht Santmut als wahre, Feindschaft als falsche "Natur", traut dem menschlichen Geist also ihre Überwindung zu. Das widerspricht dem christlichen Konzept der Erbsünde, das eine totale Verdorbenheit der menschlichen Natur annimmt. Das ist aber auch unter Christen umstritten.
4. die Einsicht in das Wesen des Daseins fördern: Alle Dinge entstehen in wechselseitiger Abhängigkeit (paticca samuppada). Darum verletzen wir uns selbst mit dem, was wir anderen antun, und fördern unser Glück mit dem, was wir ihnen Gutes tun. Wer Glück sucht, übt konsequent Feindesliebe, die ständig das Verständnis für andere erweitert. Das beeinflusst das eigene "Karma" - ähnlich dem Tat-Folge-Gesetz der orientalischen Weisheit - zum Guten hin.
Verschiedene Gründe - gemeinsames Ziel
Für Buddha befähigt unsere eigene Einsicht uns, den Feind als Bruder anzusehen und zu behandeln. Sein Erwachen ist ganz auf den individuellen Geist bezogen. Das tägliche Einüben der Feindesliebe hat das Erlöschen allen Anhaftens (Nirvana) zum Ziel. Unterwegs dorthin kann der Meditierende seine wahre mitfühlende Natur entdecken und sich von seinen negativen Emotionen lösen. So ist prinzipiell jedem fühlenden Wesen der Ausstieg aus dem Rad der ewigen Reinkarnation möglich.
Für Jesus wird Feindesliebe als Gnadengeschenk Gottes möglich. Die Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen ist wichtig, doch nicht entscheidend dafür. Denn die Liebe des Schöpfers ist grenzenlos, aber nicht wahllos, weil er zugleich der kommende Richter ist. Jesus selbst bringt sein Reich zur Welt. Er preist die Armen glücklich, einfach weil sie Gottes Gerechtigkeit brauchen. Er sagt ihnen Gottes Gnade zu und verheißt ihnen sein kommendes Eingreifen. Mit dieser liebevollen Zusage befähigt er sie schon, ihre Unterdrücker zu entfeinden.
Jesus litt und starb am Hass seiner Feinde und deckt so unsere Feindschaft gegen den gnädigen Gott auf. Doch er nahm Gottes Recht in Anspruch, Sünder zu begnadigen. Er bat Gott um Vergebung für seine Mörder, übernahm ihr Gericht und rettete sie so daraus. So überwindet Jesu Kreuzestod die Sünde und schafft Versöhnung mit Gott. Das ist für Christen der entscheidende Grund für das Gebot der Feindesliebe: Es bildet Gottes Gnade ab.
Buddha sagt: „Du kannst deinen Feind lieben, weil du tief in dir ein mitfühlendes Wesen bist. Wo du deine negativen Emotionen loslässt, da kannst du dein wahres Wesen erfahren und Mitgefühl für andere entwickeln.“
Jesus sagt: „Du kannst deinen Feind lieben, weil du selber geliebt wirst und Gott dir schon längst alles verziehen hat.“
Die Begründungen sind keine ausschließenden Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen. Denn nicht auf den Grund, sondern auf das Ziel der Feindesliebe kommt es zuletzt an: Sie will die Feindschaft wirklich angreifen, Hass, Gewalt, Unrecht, Krieg und ihre Ursachen wirklich überwinden und die Versöhnung der Feinde wirklich schaffen. Dazu können und sollen sich Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen einander heute gegenseitig helfen.
Gegenposition
Bestimmte heutige Glaubenssysteme oder Ideologien definieren sich ausdrücklich gegen Juden- und Christentum, damit auch gegen deren ethische Konzepte inclusive der Feindesliebe: so z.B. der Satanismus nach Anton Szandor LaVey, der Feindesliebe als Negation des natürlichen Selbsterhaltungstriebes betrachtet. Damit wird in bewusster Abgrenzung zu jüdisch-christlichen Idealen Selbstbehauptung auch gegen Feinde sozialdarwinistisch als natürliche Selbsterhaltung propagiert.
Literatur
- die Bibel (Elberfelder-, revidierte Luther- o.a. Übersetzung)
- das Dhammapada (viele Übersetzungen, z.B. von Thanissaro Bhikkhu)
- der babylonische Talmud (z.B. englisch übersetzt von Michael Rodkinson)
- Dietrich Bonhoeffer, "Nachfolge" 1936
- Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft
- Heinz Kremers, Gerechtigkeit und Liebe in Judentum und Christentum, Edition Adam Weyer, 1988
- Dalai Lama, "Das Herz aller Religionen ist eins: Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht", Verlag Hoffmann und Campe, ISBN 3-455-11125-4, 4. Auflage 1998
- Pinchas Lapide, Der Jude Jesus
- Jürgen Moltmann, "Der Weg Jesu Christi"
- Rosemary Ruether, "Nächstenliebe und Brudermord"
Siehe auch
Portal Bibel Bibel Altes Testament Judentum Tora Talmud Rabbiner Hillel Jesus von Nazareth Jesus Christus im Neuen Testament Bergpredigt Buddha Mahatma Gandhi Martin Luther King Gewaltlosigkeit Friedensforschung Pazifismus Ahimsa Satyagraha Altruismus Liebe
- Alternativentwurf zum Thema Feindesliebe: Benutzer:GregorHelms/Feindesliebe (Diskussionsvorlage)
Weblinks
http://www.wispor.de/bib-berg.htm
http://www.sacred-texts.com/jud/talmud.htm
http://www.christen-und-juden.de/index.htm?html/middot.htm
http://www.uni-essen.de/unikate/pdf/21-schart.pdf.
http://www.juedisches-recht.de/DerAnfang-Hillel-Text.htm
http://www.buddhanetz.org/netzwerk/lehrer.htm
http://www.tibet.de/tib/tibu/2000/tibu53/53politik.html
http://www.johnworldpeace.com/budjesus.html
http://www.gewalt-ueberwinden.de/feindesliebe.htm
http://www.j-lorber.de/faq/6/feindesliebe.htm
http://www.emk-gfs.de/files/03Terrorisimus-Feindesliebe.doc
http://www.dmfk.de/index.php?id=49
http://www.sichselbstverteidigen.de/Nichtkampf-Prinzip-Buch.htm