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Dravidische Sprachen

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Verbreitungsgebiet der dravidischen Sprachen

Die dravidischen Sprachen (im Deutschen auch: drawidisch) bilden eine in Südasien verbreitete Sprachfamilie aus etwa 25 Sprachen. Mit insgesamt über 220 Millionen Sprechern ist die dravidische die viertgrößte Sprachfamilie der Welt.[1] Die vier wichtigsten dravidischen Sprachen sind Tamil, Telugu, Malayalam und Kannada. Mit dem in Nordindien gesprochenen indogermanischen Sprachen sind die dravidischen Sprachen nicht verwandt, die meisten der heutigen dravidischen Sprachen haben allerdings viele Einzelwörter aus dem Sanskrit und anderen indoarischen Sprachen übernommen.

Dravidisch als alte Sprachschicht des indischen Subkontinents

Die dravidischen Sprachen wurden von der Urbevölkerung im heutigen Verbreitungsgebiet und auch weiter nördlich davon bereits lange vor der Einwanderung der indogermanischen Arier (Indoarier) (1500-1000 v. Chr.) gesprochen und bilden damit - zusammen mit den austroasiatischen und sino-tibetischen Sprachen - eine der älteren in Indien heimischen Sprachfamilien.

Viele Forscher gehen bei dem Versuch, die Schrift der Induskultur zu entziffern, davon aus, dass auch die Träger dieser Kultur eine dravidische Sprache gesprochen haben, doch ließe sich dies erst nach der Entzifferung der Indus-Schrift endgültig entscheiden. (Die Frage, ob die Träger der Induskultur einer dravidischen Sprachgruppe angehörten, gewinnt im Rahmen eines tamilisch-nationalistischen Diskurses eine besondere politische Schärfe: hier scheint die Beanspruchung der Domänen des Dravidischen und der Induskultur häufig für eine Identitätsbestimmung moderner Tamilität notwendig zu werden; vgl. hierzu eine kritische Diskussion entsprechender Standpunkte durch Iravatham Mahadevan [2]).

Es gibt auch die Hypothese einer Verwandtschaft des Elamischen mit den dravidischen Sprachen (vgl. MacAlpin 1981). Allerdings ist diese Theorie umstritten, da das zum "Beweis" herangezogene Material relativ dürftig ist. Diese Hypothese wird im Artikel Elamische Sprache ausführlich diskutiert.

Geografische Verbreitung

Verbreitungsgebiet der wichtigsten dravidischen Sprachen

Die dravidischen Sprachen haben ihr Hauptverbreitungsgebiet im Süden Indiens, während im Norden des Subkontinents vornehmlich indoarische Sprachen gesprochen werden. Dravidische Sprachinseln kommen aber auch in Mittel- und Nordindien, Nepal und Pakistan vor. Die vier größten dravidischen Sprachen Telugu, Tamil, Malayalam und Kannada gehören zu den insgesamt 23 Verfassungssprachen Indiens und sind jeweils Amtssprache in einem der vier südlichsten Bundesstaaten Indiens.

Als wichtigste dravidische Sprache kann Tamil (Tamilisch) gelten, das seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. überliefert ist und eine reiche Literaturtradition besitzt. Tamil wird von insgesamt 66 Millionen Sprechern hauptsächlich im Bundesstaat Tamil Nadu im Südosten Indiens und in Teilen Sri Lankas (3 Millionen) gesprochen. Tamil ist weniger stark von den indoarischen Sprachen beeinflusst worden als die anderen dravidischen Sprachen. Das älteste Werk der Tamil-Literatur ist die Tolkappiyam-Grammatik (um 100 v. Chr.), aufgrund seiner langen Literaturtradition gilt Tamil neben Sanskrit als zweite klassische Sprache Indiens. Im heutigen Tamil herrscht eine ausgeprägte Diglossie zwischen Schrift- und Umgangssprache vor.

Die dravidische Sprache mit den meisten Sprechern ist indes Telugu, die Amtssprache von des Bundesstaats Andhra Pradesh an der Ostküste Indiens, mit 70 Millionen. Die Telugu-Literatur reicht bis ins 7. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert wurde die Schriftsprache reformiert, so dass der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache weitaus geringer ist als im Tamil. Malayalam, die Amtssprache von Kerala, wird von 36 Millionen Menschen an der Südwestküste Indiens und auf den Lakkadiven gesprochen. Es ist nah mit dem Tamil verwandt, aus dessen westlichen Dialekten es sich erst zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert entwickelte. Vor allem im Bundesstaat Karnataka ist Kannada (Kanaresisch) verbreitet. Die Sprecherzahl beträgt 35 Millionen, es gibt weitere 10 Mio Zweitsprecher.

Ebenfalls im südindischen Kernland des dravidischen Sprachraumes, an der Westküste in den Bundesstaaten Karnataka, Kerala und Maharashtra wird Tulu von etwa 2 Millionen Menschen gesprochen, das über eine gewisse Literaturtradition verfügt. Das im Binnenland von Karnataka verbreitete Kodava hat rund 120.000 Sprecher und ist erst seit kurzem in schriftlichem Gebrauch. In den Nilgiri-Bergen, einem Teil der Westghats zwischen Tamil Nadu und Kerala, sind eine Reihe kleinerer illiterater, von der Stammesbevölkerung (Adivasi) verwendeter Sprachen verbreitet: Badaga (250.000 Sprecher), Kota (2.000), Irula (200.000) und Toda (600).

In Mittel- und Nordindien sowie Nepal ist eine Reihe illiterater dravidischer Stammessprachen verbreitet. Dazu gehören Gondi mit 2,6 Millionen Sprechern auf einem weit verstreuten Gebiet in Andhra Pradesh, Madhya Pradesh, Maharashtra und Orissa, Konda (15.000) in Andhra Pradesh und Orissa, Kolami (115.000), Gadaba, Naiki und Parji. Die nah verwandten Idiome Kui, Kuwi, Pengo und Manda werden oft als Kondh-Sprachen zusammengefasst. Weiter nördlich wird Kurukh von 2 Millionen Sprecher in Bihar, Westbengalen, Orissa, Assam, Tripura, Bangladesh sowie im Terai in Nepal gesprochen. Malto (20.000 Sprecher) ist ebenfalls in Nordindien und Bangladesh verbreitet.

Heute gänzlich vom restlichen dravidischen Sprachraum isoliert ist das in Belutschistan im pakistanisch-afghanischen Grenzland gesprochene Brahui (2,2 Millionen Sprecher). Zur Erklärung der großen Entfernung dieser Exklave des Verbreitungsgebiets der dravidischen Sprachen wurden verschiedene Theorien aufgestellt, die unterschiedliche Siedlungsgebiete der Sprecher einer proto-dravidischen Grundsprache annehmen. Generell ist davon auszugehen, dass erst durch das Eindringen der Indoarier die meisten dravidischen Volksgruppen in den Süden Indiens abgedrängt wurden, die ursprünglichen Siedlungsgebiete also weiter nördlich lagen.

Als Folge von neueren Migrationsprozessen während der britischen Kolonialzeit werden dravidische Sprachen in größerer Zahl u. a. auch in Singapur, Malaysia, auf den Fidschi-Inseln und in Suriname gesprochen. In Singapur ist Tamil eine von vier Amtssprachen.

Klassifikation

Die dravidischen Sprachen werden in die Nordgruppe, Zentralgruppe und die - nach Sprechern bedeutendste - Südgruppe eingeteilt, letztere zerfällt in Süd-Zentral-Dravidisch (auch Süd II genannt) und das eigentliche Süd-Dravidisch (Süd I). Wenn diese Bezeichnungen auch geographisch sind, handelt es sich dennoch um eine linguistisch begründbare genetische Klassifikation. Eine wichtige Isoglosse, nach der sich die Untergruppen einteilen lassen, ist die Bildung des Perfekts: Während die zentrale Gruppe das ursprüngliche Hilfsverb man erhalten hat, ist dieses in der süd-zentralen Gruppe gekürzt worden oder gänzlich ausgefallen, in der südlichen Gruppe dagegen hat man es durch das Hilfsverb iru ersetzt. Zudem zeigen die Untergruppen phonologische Unterschiede: In den süd-dravidischen Sprachen ist etwa ursprüngliches *c- ausgefallen (z. B. *cāṟu „sechs“ > Tamil āṟu), in der süd-zentral-dravidischen Gruppe wird die Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen nur noch in der Stammsilbe aufrechterhalten, die zentral-dravidische Gruppe zeichnet sich durch eine anaptyktische Alternanz in den Stammsilben aus (z. B. Kolami teḍep „Tuch“, teḍp-ul „Tücher“), in der nord-dravidischen Gruppe hat sich ursprüngliches *k vor *i gehalten, während es in den anderen Gruppen palatalisiert wurde.

Klassifikation der dravidischen Sprachen: (Unterfamilien sind in Fettdruck, Sprachen im Normaldruck angegeben.)

Übersicht:

Dravidisch
├──Nord-Dravidisch
├──Zentral-Dravidisch
└──Süd-Dravidisch
   ├──Süd II (Süd-Zentral-Dravidisch)
   └──Süd I (Süd-Dravidisch i. e. S.)
Dravidisch
├──Nord-Dravidisch
│  ├──Brahui
│  │  └──Brahui (Bra'uidi) (2,2 Mio)
│  └──Kurukh-Malto
│     ├──Kurukh (Oraon, Kurka, Dhangar) (2,1 Mio)
│     └──Malto (Kumarbhag Paharia) (20 Tsd)
├──Zentral-Dravidisch
│  ├──Parji-Gadaba
│  │  ├──Parji (100 Tsd)
│  │  ├──Ollari (10 Tsd)
│  │  └──Gadaba (Konekor-Gadaba) (10 Tsd)
│  └──Kolami-Naikri
│     ├──Kolami (115 Tsd)
│     ├──Naikri (2 Tsd)
│     └──Naiki (Chanda) (50 Tsd)
└──Süd-Dravidisch
   ├──Süd II (Süd-Zentral-Dravidisch)
   │  ├──Gondi-Konda-Kui
   │  │  ├──Gondi
   │  │  │  └──Gondi (2,6 Mio)
   │  │  └──Konda-Kui
   │  │     ├──Manda-Kui
   │  │     │  ├──Manda-Pengo
   │  │     │  │  ├──Manda (4 Tsd)
   │  │     │  │  └──Pengo (350 Tsd)
   │  │     │  └──Kui-Kuwi
   │  │     │     ├──Kui (Kandh) (700 Tsd)
   │  │     │     └──Kuwi (Khond) (300 Tsd)
   │  │     └──Konda
   │  │        └──Konda (Konda-Dora) (15 Tsd)
   │  └──Telugu
   │     └──Telugu (70 Mio)
   └──Süd I (Süd-Dravidisch i. e. S.)
      ├──Tulu-Koraga
      │  ├──Tulu (Tallu) (2 Mio; S2 4 Mio)
      │  └──Koraga (D Korra, Mudu) (15 Tsd)
      └──Tamil-Kannada
         ├──Kannada-Badaga
         │  ├──Kannada (Kanaresisch) (35 Mio; S2 45 Mio)
         │  └──Badaga (250 Tsd)
         ├──Toda-Kota
         │  ├──Toda (0,6 Tsd)
         │  └──Kota (2 Tsd)
         └──Tamil-Kodagu
            ├──Kodagu-Korumba
            │  ├──Kodava (Kodagu, Coorgi) (120 Tsd)
            │  └──Kurumba (200 Tsd)
            ├──Irula
            │  └──Irula (200 Tsd)
            └──Tamil-Malayalam
               ├──Tamil (66 Mio, S2 75 Mio)
               └──Malayalam (36 Mio)

In ETHNOLOGUE (2005) werden über 70 dravidische Sprachen aufgeführt. Diese zusätzlichen „Sprachen“ werden weder in Steever (1998), noch in Krishnamurti (2003) erwähnt. Es handelt sich dabei entweder um Dialekte der hier klassifizierten Sprachen oder um Namen von Stämmen, die eine der hier aufgeführten dravidischen oder auch eine indoarische (!) Sprache sprechen.

Die Sprecherzahlen sind insgesamt relativ unsicher, da oft nicht zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Sprachkompetenz unterschieden wird. Bei den "großen" Sprachen ist mit einer 10% - 20% höheren Sprecherzahl zu rechnen, da die genannten Zahlen teilweise auf älteren Zählungen beruhen.

Etliche Forscher (u.a. Parpola 1994) halten die Sprache der Induskultur „Harappanisch“ für dravidisch. Wegen der bisher nicht erfolgreichen Entzifferung der Indusschrift kann das nur als eine - plausible - Hypothese gelten (vgl. Steever, Krishnamurti). MacAlpin (1974, 1981) u.a. sehen eine Verwandtschaft des Elamischen zum Dravidischen (siehe oben). Beide Hypothesen sind in dieser Klassifikation nicht berücksichtigt.

Sprachliche Charakteristika

Phonologie

Vokalphoneme des Proto-Dravidischen[3]
  vorne zentral hinten
kurz lang kurz lang kurz lang
geschlossen i ī     u ū
mittel e ē     o ō
offen     a ā    

Das Proto-Dravidische kannte fünf Vokale, die jeweils in kurzer und langer Form vorkommen. Dazu kam ein nicht phonemischer sog. enunziativer Vokal, der stets Plosiven am Wortende folgte. Im heutigen Tamil und manchen Kannada-Dialekten wird er als [ɯ] oder [ɪ], im Malayalam als [ə] realisiert, in anderen Sprachen ist er verloren gegangen oder mit /u/ oder /i/ zusammengefallen. Die Vokallänge war distinktiv (bedeutungsunterscheidend), vgl. *pal „Zahn“ und *pāl „Milch“. Den Diphtongen ai und au, wie sie in den Tochtersprachen vorkommen, wird für das Proto-Dravidische kein Phonemstatus eingeräumt, vielmehr fasst man sie als Folgen von Vokal und Halbvokal auf, also ay und av.

Die Vokalsysteme der meisten heutigen dravidischen Sprachen ähneln dem des Protodravidischen. Eine nennenswerte Ausnahme stellen Toda und Kota dar, in denen Vokale in unbetonten Silben ausfallen und so enorme Konsonantenhäufungen entstehen, z. B. Kota anǯrčgčgvdk „weil (jemand jemanden) dazu veranlassen wird, (jemanden) zu erschrecken“. Im Brahui sind die kurzen Phoneme /e/ und /o/ unbekannt, Gondi hat gar die Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen gänzlich verloren. Andere Sprachen haben dagegen zusätzliche Vokalphoneme geschaffen, Tulu etwa [ɛ] und [ɨ].

Konsonantenphoneme des Proto-Dravidischen[4]
  labial dental alveolar retroflex palatal velar
Plosive p t c k
Nasale m n   ñ  
Laterale   l      
Taps   r        
Approximanten          
Halbvokale v       y (h)

Das Protodravidische scheint 16 oder 17 Konsonantenphoneme besessen zu haben. Die Plosive (Verschlusslaute) zeigten ein bemerkenswert komplexes System der Unterscheidung nach sechs Artikulationsorten (labial, dental, alveolar, retroflex, palatal und velar). Dazu kamen vier Nasale m, n, ṇ und ñ, vier Liquiden l, ḷ, r und ẓ (auch transkribiert als ḻ) sowie zwei Halbvokale v und y. Das h ist der Vorläufer des alttamilischen Aytam-Lautes. Sein Phonemstatus ist unsicher, unter Umständen handelte es sich dabei um ein Allophon von y. Auf jeden Fall ist ein h in modernen dravidischen Sprachen stets sekundär. Auffällig ist, dass im Protodravidischen kein einziger Sibilant vorkam.

Dem protodravidischen alveolaren Plosiv entspricht etwa im Malayalam das ṟ, das in intervokalischer Position als apikaler Vibrant [r] gesprochen wird und mit dem Flap [ɾ] kontrastiert. Nach Nasal und in Verdopplung wird das ṟ als alveolares [nd] bzw. [tt] gesprochen und konstrastiert hier mit den entsprechenden dentalen und retroflexen Lauten. In den meisten anderen Sprachen kommen Alveolare nur noch bedingt vor (z. B. im Tamil) oder sind gänzlich verloren gegangen.

Die Stimmhaftigkeit war im Protodravidischen, so auch heute noch im Tamil, nicht bedeutungsunterscheidend. Das sogenannte Caldwellsche Gesetz beschreibt die Allophonie der Plosive: Sie waren am Wortanfang und in Verdopplung stimmlos, zwischen Vokalen und nach Nasalen stimmhaft. Viele moderne dravidische Sprachen haben aber unter dem Einfluss indoarischer Sprachen die Unterscheidung zwischen stimmhaften und stimmlosen und sogar aspirierten und unaspirierten Phonemen eingeführt. Dadurch verfielfacht sich die Zahl der Konsonantenphoneme in diesen Sprachen (etwa 34 in Kannada, 33 in Telugu).

Die Vetreilung der Konsonantenphoneme war im Protodravidischen unsymmetrisch: Alveolare, Retroflexe und Liquiden konnten nicht am Wortanfang vorkommen. Wo dies in den Tochtersprachen der Fall ist, geht dies auf Entlehnungen oder sekundären Lautwandel zurück. Plosive können nicht im Auslaut stehen, wo sie am Wortende vorkommen, werden sie von einem enunziatorischen Vokal gefolgt (s. o.), z. B. *nāṭu „Land“. Die protodravidische Silbenstruktur war recht simpel, Konsonantencluster kamen nur eingeschränkt vor. In modernen dravidischen Sprachen sind durch Lehnwörter aus dem Sanskrit oder dem Englischen auch Konsonantencluster am Wortanfang möglich (z. B. Kannada priti „Liebe“).

Die Betonung ist in dravidischen Sprachen nicht distinktiv. Meist fällt sie auf die erste Silbe.

Morphologie

Die dravidischen Sprachen gehören zu den agglutinierenden Sprachen, sie drücken also Beziehungen der Wörter untereinander durch monosemantische Affixe, im Fall des Dravidischen ausschließlich Suffixe (Nachsilben), aus. Das bedeutet, dass im Gegensatz zu flektierenden Sprachen wie etwa dem Deutschen oder Lateinischen ein Suffix nur eine Funktion erfüllt und eine Funktion nur von einem Suffix erfüllt wird. Zum Beispiel wird im Tamil der Dativ Plural kōvilkaḷukku „den Tempeln, zu den Tempeln“ durch Kombination des Pluralsuffixes -kaḷ und des Dativsuffixes -ukku gebildet, während in den lateinischen Formen templo und templis die Endungen -o und -is jeweils gleichzeitig Kasus und Numerus bezeichnen.

Nomina werden in zwei Klassen unterteilt: personale (Menschen und Götter) und nichtpersonale (alle übrigen Nomina), auch als Neutra bezeichnet. Die Sprachen der südlichen Gruppe teilen ferner die personalen Nomina im Singular in Maskulina und Feminina auf, in den zentral-dravidischen Sprachen fällt das Femininum hingegen im Singular mit dem Neutrum, im Plural mit dem Maskulinum zusammen.

Bei der Deklination unterscheidet man zwei Hauptkasus: Nominativ und Obliquus. Letzterer hat meist genitivische Bedeutung und ist bei vielen Wörtern mit dem Nominativ formengleich. Die übrigen Kasus werden gebildet, indem an die Obliquus-Form Suffixe angehängt werden. Für das Protodravidische wurden acht Kasus rekonstuiert: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Instrumental, Ablativ, Lokativ und Soziativ, in den Tochtersprachen schwankt die Anzahl der Kasus. Die Grenze von Kasussufix und gebundener Postposition ist allerdings verschwimmend, so dass manche Forscher davon ausgehen, dass im Dravidischen nur zwei Kasus, Nominativ und Obliquus, vorhanden sind.[5]

Nomina kommen in zwei Numeri vor. Der Singular ist unmarkiert, der Plural wird durch ein Suffix ausgedrückt. Die Pluralkategorie ist aber in den meisten Sprachen nicht obligatorisch, der Plural wird meist nur bei personalen Nomina oder in Fällen, in denen die Pluralität betont wird, verwendet. Kasussuffixe folgen stets dem Pluralsuffix.

Wortschatz

Wortwurzeln scheinen im Protodravidischen in der Regel einsilbig gewesen zu sein. Protodravidische Wörter konnten einfach, abgeleitet oder Komposita sein. Iterative Komposita konnten durch Verdopplung eines Wortes gebildet werden, vgl. Taml avar „er“ und avaravar „Jedermann“ oder vantu „kommend“ und vantu vantu „immer wieder kommend“. Eine Sonderform der reduplizierten Komposita sind die sogenannten Echowörter, bei denen die erste Silbe des zweiten Wortes durch ki ersetzt wird, vgl. Tamil pustakam „Buch“ und pustakam-kistakam „Bücher und Ähnliches“. Die Zahl der Verben ist im Dravidischen geschlossen. Neue Verben können nur durch Nomen-Verb-Komposita gebildet werden, z. B. Tamil vēlai ceyya „arbeiten“ aus vēlai „Arbeit“ und ceyya „machen“.

Die heutigen dravidischen Sprachen besitzen außer dem ererbten dravidischen Wortschatz eine große Zahl an Wörtern aus dem Sanskrit oder späteren indoarischen Sprachen. Im Tamil machen sie nicht zuletzt aufgrund gezielter sprachpuristischer Tendenzen im frühen 20. Jahrhundert einen verhältnismäßig kleinen Teil aus, während im Telugu und Malayalam die Zahl der indoarischen Lehnwörter groß ist. Im Brahui, das aufgrund seiner Entfernung von den übrigen dravidischen Sprachen stark von seinen Nachbarsprachen beeinflusst wurde, ist gar nur ein Zehntel des Wortschatzes dravidischen Ursprungs.[6] In jüngerer Zeit haben die dravidischen Sprachen, wie alle Sprachen Indiens, auch in großem Maßstab Wörter aus dem Englischen entlehnt, weniger zahlreich sind die Lehnwörter aus dem Portugiesischen.

Einige dravidische Wortgleichungen[7]
Sprache Fisch ich unten kommen ein(s)
Proto-Drawid. *mīn *yān *kīẓ ~ kiẓ *varu ~ vā *ōr ~ or ~ on
Tamil mīṉ yāṉ, nāṉ kīẓ varu, vā- oru, ōr, okka
Malayalam mīn ñān kīẓ, kiẓu varu, vā- oru, ōr, okka
Irula   nā(nu) kiye varu or-
Kota mīn ān kī, kīṛm vār-, va- ōr, o
Toda mīn ōn pōr-, pa- wïr, wïd, oš
Badaga mīnu nā(nu) kīe bā-, bar ondu
Kannada mīn nānu kīẓ, keḷa ba-, bāru- or, ōr, ondu
Kodagu mīnï nānï kï;, kïlï bār-, ba- orï, ōr, onï
Tulu mīnɯ yānu, yēnu kīḷɯ barpini or, oru
Telugu mīnu ēnu, nēnu kri, k(r)inda vaccu, rā- okka, ondu
Gondi mīn anā, nanna   vaya or-, undi
Konda mīn nān(u)   vā-, ra- or-, unṟ-
Kui mīnu ānu, nānu   vāva ro-
Kuwi mīnu nānu   vā- ro-
Manda   ān   vā- ru-
Pengo   ān, āneŋ   vā- ro-
Kolami   ān   var-, vā ok-
Parji mīni ān kiṛi ver- ok-
Gadaba mīn ān   var- uk-
Malto mīnu ēn   bare ort-, -ond
Kuruch   ēn kiyyā barnā- ort-, on
Brahui   ī ki-, kē- bar-, ba- asiṭ, on-

Schriften

Von den dravidischen Sprachen sind nur die vier großen Sprachen Tamil, Telugu, Malayalam und Kannada etablierte Schriftsprachen. Jede von diesen besitzt eine eigene Schrift: die tamilische Schrift, Telugu-Schrift, Malayalam-Schrift und Kannada-Schrift. Sie gehören, wie auch die Schriften Nordindiens, Tibets und Südostasiens, zur Familie der indischen Schriften. Diese stammen allesamt von der im 3. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Brahmi-Schrift ab, deren Ursprünge ungeklärt sind. Die indischen Schriften unterscheiden sich grafisch zum Teil stark voneinander, haben aber alle dasselbe Funktionsprinzip. Es handelt sich bei ihnen um eine Zwischenform aus Alphabet und Silbenschrift, sogenannte Abugidas, bei denen jedes Konsonantenzeichen einen inhärenten Vokal a besitzt, der durch diakritische Zeichen modifiziert werden kann. Die dravidischen Schriften unterscheiden sich von den nordindischen Schriften dahingehend, dass sie einige zusätzliche Zeichen für Laute haben, die in den indoarischen Sprachen vorkommen. Die Tamil-Schrift zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie aufgrund der Phonologie des Tamil keine Zeichen für stimmhafte und aspirierte Konsonanten besitzt und das Zeicheninventar somit wesentlich verknappt wird. Zudem verwendet sie anders als alle anderen indischen Schriften für Konsonantencluster keine Ligaturen, sondern ein spezielles diakritisches Zeichen.

Die ältesten dravidischen Schriftdenkmäler, Tamil-Inschriften aus der Regierungszeit Kaiser Ashokas, sind in ebenjener Brahmi-Schrift abgefasst. Mit der Zeit entwickelten sich zahlreiche Varianten aus der Brahmi-Schrift. In Südindien entwickelte sich in dem Bereich, in dem Heute Telugu und Kannada gesprochen wird, aus den Kadamba- und Calukya-Schriften des 5.–7. Jahrhunderts im 10. Jahrhundert die altkanaresische Schrift. Diese spaltete sich schließlich um das Jahr 1500 in zwei nah verwandte Varianten, die Vorläufer der heutigen Telugu- und Kannada-Schriften. Einen anderen Zweig stellten die Chera- und Pallava-Schriften des 5.–8. Jahrhunderts dar, aus denen sich die Grantha-Schrift bildete. Die Malayalam-Schrift entwickelte sich aus einer westlichen Grantha-Variante. Die tamilische Schrift entwickelte sich dagegen im 8. Jahrhundert aus einer südlichen Brahmi-Variante, die von der Grantha-Schrift beeinflusst wurde.

Für die übrigen dravidischen Sprachen verwendet man, so sie denn überhaupt geschrieben werden, meist die Schrift der jeweiligen regionalen Mehrheitssprache, also etwa Kannada für Kodava, die nordindische Devanagari-Schrift für Gondi oder die auch für die übrigen Sprachen Pakistans verwendete persisch-arabische Schrift für Brahui.

Forschungsgeschichte

In Indien existiert eine uralte einheimische Grammatiktradition. Sowohl die Wurzeln der Tamil- als der Sanskrit-Grammatik reichen über 2000 Jahre in die Vergangenheit. Was die Verwandschaft zwischen Tamil und Sanskrit angeht, gab es in Südindien zwei widersprüchliche Sichtweisen: Die eine betonte die Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit von Tamil, das ebenso wie Sanskrit als „göttliche Sprache“ angesehen wurde, die andere hielt Tamil für eine Verfälschung des „heiligen“ Sanskrit.[8]

Nachdem Vasco da Gama 1498 als erster europäischer Seefahrer in Calicut gelandet war, kamen im 16. Jahrhundert erstmals europäische Missionare in Kontakt mit den Tamil- und Malayalamsprachigen Teilen Südindiens. Der erste europäische Gelehrte, der sich eingehend mit dravidischen Sprachen befasste, war der portugiesische Jesuit Anrique Anriquez (ca. 1520-1600). Er schrieb 1552 eine Tamil-Grammatik, ließ 1554 das erste tamilische Buch drucken und schrieb weitere tamilischsprachige Literatur religiösen Inhalts.

William Jones, der 1786 die Verwandschaft zwischen Sanskrit, Griechisch und Latein erkannte und damit die Indogermanistik begründete, hielt alle zeitgenössischen indischen Sprachen für mit dem Sanskrit unverwandt. Später stellte man fest, das Hindi und die anderen modernen indoarischen Sprachen mit Sanskrit verwandt sind, schoss nun aber gewissermaßen über das Ziel hinaus und hielt auch die dravidischen Sprachen für Abkömmlinge des Sanskrit.[9]

Der Engländer Francis Whyte Ellis, der als Kolonialbeamter in Madras tätig war, beschäftigte sich mit Tamil und stellte in seinem Vorwort zur 1816 erschienenen erste Telugu-Grammatik erstmals eine Verwandschaft zwischen Tamil, Telugu, Kannada, Malayalam, Tulu, Kodagu und Malto fest, die er als „Dialekte Südindiens“ zusammenfasste. 1844 erkannte der norwegische Indologe Christian Lassen die Verwandschaft von Brahui mit den südindischen Sprachen. Die Erkenntnis der Eigenständigkeit der dravidischen Sprachen setzte sich endgültig mit der 1856 veröffentlichten vergleichenden Grammatik der dravidischen Sprachen des Engländers Robert Caldwell durch. Von Caldwell stammt auch die Bezeichnung „dravidisch“ (zuvor war von „Dekhan-Sprachen“ oder schlicht von „südindischen Dialekten“) die Rede gewesen. Als Vorlage für den Begriff diente ihm das Sanskrit-Wort drāviḍa, mit dem der indische Schriftsteller Kumarila Bhatta schon im 7. Jahrhundert die südindischen Sprachen bezeichnet hatte. Etymologisch ist drāviḍa wohl mit tamiḻ, der Eigenbezeichnung für Tamil, verwandt.[10]

Quellen und weiterführende Informationen

Einzelnachweise

  1. Sanford B. Steever: Introduction to the Dravidian Languages. In: Sanford B. Steever (Hrsg.): The Dravidian Languages, London 1998, hier S. 1
  2. Iravatham Mahadevan, Aryan or Dravidian or Neither? A Study of Recent Attempts to Decipher the Indus Script (1995-2000). in: Electronic Journal Of Vedic Studies 8/2002. (PDF)
  3. Nach Steever: Introduction to the Dravidian Languages, S. 13
  4. Nach Steever: Introduction to the Dravidian Languages, S. 14
  5. Kamil V. Zvelebil: Dravidian Linguistics. An Introduction, Pondicherry 1990, S. 21 f.
  6. Josef Elfenbein: Brahui. In: Sanford B. Steever (Hrsg.): The Dravidian Languages, London 1998, hier S. 408
  7. Die Beispiele stammen aus Steever: Introduction to the Dravidian Languages, S. 27.
  8. Kamil V. Zvelebil: Dravidian Linguistics. An Introduction, Pondicherry 1990, S. xx.
  9. Colin P. Masica: The Indo-Aryan Languages, Cambridge 1991, S. 3.
  10. Zvelebil: Dravidian Linguistics, S. xxi

Literatur

  • Bhadriraju Krishnamurti: The Dravidian Languages. Cambridge: University Press, 2003.
  • David MacAlpin: Proto-Elamo-Dravidian : the evidence and its implications (Dissertation). Philadelphia, 1981.
  • Sanford B. Steever (Hrsg.): The Dravidian Languages. London: Routledge, 1998.
  • Sanford B. Steever: Tamil and the Dravidian Languages. In: Bernard Comrie (Hrsg.): The Major Languages of South Asia, the Middle East and Africa. London: Routledge, 1990. S. 231-252.
  • Georgij A. Zograf: Die Sprachen Südasiens. (Übers. Erika Klemm). Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie, 1982.
  • Kamil V. Zvelebil: Dravidian Linguistics. An Introduction. Pondicherry: Pondicherry Institute of Linguistics and Culture, 1990.