Sowjetische Besetzung Ostpolens
Der sowjetische Überfall auf Polen begann am 17. September 1939 in Übereinstimmung mit dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Polen bereits seit sechzehn Tagen im Krieg gegen das Deutsche Reich. Josef Stalin begründet den Eimarsch mit der Notwendigkeit des Schutzes der Ukrainer und Weißrussen auf polnischem Gebiet.
Vorgeschichte

Schon vor dem Ende des 1. Weltkriegs und vor der eigentlichen Staatsgründung kam es zu militärischen Auseinandersetzungen um die Wiederherstellung Polens nach der Teilungen. Speziell ging es im Südosten, im Polnisch-Ukrainischen Krieg (1918-1920), um die polnische Gebiete, die nach 1772 von Österreich annektiert wurden (Galizien), bzw. im Osten, im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1920-1921), um die polnische Gebiete, die nach 1772 von Russland annektiert wurden. Endgültig wurde die östliche Grenze Polen im Frieden von Riga festgelegt. In den Jahren nach dem Krieg war es zwischen Polen und der UdSSR zu einer Politik des Ausgleiches gekommen, deren Höhepunkt die Unterzeichnung des Polnisch-Sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. Januar 1932 war. Dies hat sich mit der deutsch-russischen Annäherung und der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 grundlegend geändert.
In den Gebieten jenseits der Curzon-Linie, die nach dem Grenz- und Freundschaftsvertrag mit dem Deutschen Reich vom 28. September 1939 den Sowjets in die Hände fielen, lebten im Jahre 1939 13,299 Millionen Menschen. Davon waren 5,274 Millionen Polen (39,7%) und 1,109 Millionen Juden (8,3%). Bei den verbliebenen 6,916 Millionen Menschen (52%), handelte es sich mehrheitlch um Ukrainer und Weissrussen, aber auch Lemken, Bojken, Huzulen, Poleschuken, Russen, Litauer, Tschechen, Deutsche und einnige nationale Minderheiten mehr.[1] Mehrheitlich polnisch – mit einem hohen Anteil Juden – waren die meisten Städte (wie Białystok, Wilna, Lemberg u.a.).
Am 1. September 1939 erfolgte der deutsche Angriff auf Polen. Sofort begannen auch die sowjetischen Streitkräfte einen Einmarsch vorzubereiten. Obwohl die deutsche Führung auf einen raschen Beginn der sowjetischen Operationen drängte, um selbst bald Truppen an die entblößte Westfront schicken zu können, verzögerte sich der Angriff bis zum 17. September. Als Rechtfertigung sollte zunächst der Schutz der weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung vor den deutschen Eroberern dienen. Erst nach einem Protest des deutschen Botschafters wurde der offizielle Grund für den Einmarsch dahingehend geändert, dass in Folge des Krieges jede staatliche Existenz in Polen zu bestehen aufgehört hätte und somit der Einsatz der Roten Armee notwendig wäre, um die "ostslawischen Brüdervölker" zu schützen. Schließlich übergab der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow dem polnischen Botschafter in Moskau eine Note, in der die Aufkündigung aller Verträge im Zusammenhang mit dem Auseinanderbrechen des polnischen Staates bekannt gegeben wurde. Wenige Stunden später begann die sowjetische Offensive.
Kriegsverlauf
Die sowjetischen Vorbereitungen
Die Angriffsvorbereitungen begannen Ende August 1939, der Angriffsplan wurde vom Generalstabschef der Roten Armee, Boris Schaposchnikow, ausgearbeitet. Am 3. September befahl der Volkskommissar, Kliment Woroschilow, den Truppen in Weißrussland und der Ukraine sich in Kampfbereitschaft zu halten. Am 6. September wurde in der Sowjetunion die Generalmobilmachung ausgerufen. Von 8. bis 13. September wurden die sowjetische Truppen an die Grenze verlegt und in zwei Hauptangriffsgruppen (Fronten) gruppiert. Insgesamt die erste Angriffswelle zählte ca. 620 000 Soldaten mit ca. 4700 Panzern und ca. 3300 Kampfflugzeugen, d.h. die Sowjets griffen Polen mit mehr Panzern als die deutsche Wehrmacht und mehr Kampfflugzeugen als die deutsche Luftwaffe am 1. September 1939 an[2]. Die Hauptangriffsrichtungen der weißrussischen Front waren: Wilno, Baranowicze – Wołkowysk – Grodno – Suwałki, Brześć Litewski, wobei Wilno, Grodno und Brześć zwischen den 20. und 22. September und Suwałki am 24. September erreicht wurden.. Die Hauptangriffsrichtungen der ukrainischen Front waren: Dubno – Łuck – Włodzimierz Wołyński – Chełm – Zamość – Lublin, Tarnopol – Lwów, Czortków – Stanisławów – Stryj – Sambor und Kołomyja. Die Sowjets erreichten Lwów am 19. September, Lublin am 28. September. Insgesamt waren die Einheiten der ukrainischen Front bis anfangs Oktober in verschiedene Kampfhandlungen verwickelt.
Sowjetische Gruppierung gegen Polen am 17. September 1939
Armee/Front | Menschen | Kanonen und Mörser | Tanks |
---|---|---|---|
3.Armee | 121 968 | 752 | 743 |
11.Armee | 90 000* | 520* | 265 |
Mechanisierte Kavalleriegruppe | 65 595 | 1 234 | 834 |
10.Armee | 42 135 | 330 | 28 |
4.Armee | 40 365 | 184 | 508 |
Alleiniges 23. Schützen-Korps | 18 547 | 147 | 28 |
Weißrussische Front | 378 610 | 3 167 | 2 406 |
5.Armee | 80 844 | 635 | 522 |
6.Armee | 80 834 | 630 | 675 |
12.Armee | 77 300 | 527 | 1 133 |
Ukrainische Front | 238 978 | 1792 | 2330 |
Alle Zusammen | 617 588 | 4959 | 4736 |
*abgeschätzte Zahlen
- Quelle: Мельтюхов Советско-польские... Часть третья. Сентябрь 1939 года Таблица 28. Численность советских войск на 17 сентября 1939 г. c.299
Kriegsverbrechen
Währen der Eroberung des ostpolnischen Gebietes hat sich die Rote Armee zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Der Historiker Andrzej Friszke beziffert die Opfer auf 2500 ermordete Kriegsgefangene (Soldaten und Polizisten) und mehrere Hundert Zivilisten. Gleichzeitig rief die sowjetische Militärführung die ukrainische und weißrussische Zivilbevölkerung zu Mord und Gewalt an Polen auf[3]. Die am meisten bekannten Verbrechen fanden in Rohatyn, Grodno[4], Nowogródek, Sarny, Tarnopol, Wołkowysk, Oszmiana, Świsłocz, Mołodeczno und Kosów Poleski statt.[5]
Rezeption
Die Annexion der beim sowjetischen Angriff eroberten Gebiete wurde in der Sowjetunion und wird in Weißrussland bis heute als die „Wiedervereinigung des westlichen Weißrussland mit der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ gefeiert, der Einmarsch sowjetischer Truppen heißt offiziell „Befreiungsfeldzug der Roten Armee“.
Zusammenfassung
Die Rote Armee marschierte im Ostpolen ein, das außer dem Grenzschutz-Korps fast völlig von polnischen Truppen entblößt war, zu einem Zeitpunkt, als die organisierte polnische Verteidigung weitgehend durch die Wehrmacht zerschlagen war, der polnische Staat zusammenbrach und die polnische Regierung sich auf der Flucht nach Rumänien befand.
Am 22. September 1939 fand die gemeinsame deutsch-sowjetische Siegesparade in Anwesenheit der Generäle Heinz Guderian und Semjon Moissejewitsch Kriwoschein auf der sowjetischen Seite statt. Während der Parade an der Demarkationslinie in Brest, die zwischen den zwei verbündeten Aggressoren geteilt wurde, gratulierte Kriwoschein im Namen der sowjetischen Führung den Deutschen zu ihren Kriegserfolgen und erklärte sich bereit, die Deutschen nach ihrem bevorstehenden Sieg über Großbritannien in Moskau zu begrüßen[6].
Als Reaktion auf den Einmarsch deklarierte die Polnische Exilregierung am 18. Dezember 1939 den Kriegszustand mit der Sowjetunion. Eine Kriegserklärung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs an die Sowjetunion erfolgte jedoch nicht.
Nach dem Ende des Feldzuges folgte eine weitere Deutsch-Sowjetische Zusammenarbeit. In den offiziellen sowjetishen Äußerungen betonte Stalin, daß nicht Deutschland Frankreich und England angegriffen, sondern Frankreich und England Deutschland angegriffen hätten und damit die Verantwortung für den Krieg auf sich genommen hätten.[7] Molotow behauptete, dass die Deutschen Bemühungen für Frieden vorgenommen hätten, was aber von den „englisch-französischen Imperialisten“ zurückgewiesen wurden. [8]
Während der sowjetischen Besetzung ponischer Gebiete 1939-1941 gab es vier große Deportationswellen, denen nach Schätzung der polnischen Exilregierung über 600.000 Menschen zum Opfer fielen.
Siehe auch
Fußnoten
- ↑ Kurzes statistisches Jahrbuch Polens, polnisches Informationsministerium. London Juni 1941 Seiten 9 – 10
- ↑ Paweł Wieczorkiewicz "Kampania 1939 roku". KAW, Warschau 2001. ISBN 8388072536
- ↑ Mit Waffen, Sensen, Mistgabeln und Äxten schlägt eure Erzfeiende – polnische Herren – Org. Text eines der Mordaufrufe an die ukrainische Zivilbevölkerung Quelle: Andrzej Friszke "Polska. Losy państwa i narodu 1939-1989." ISBN 83-2071-711-6, Seite 25
- ↑ "[...] Dem Terror und Morden in eroberten Grodno fielen 130 Schüler und Kadetten. Verletzte Verteidiger wurden erschlagen, der 12 Jährigen Tadzik Jasiński wurden an ein Panzer festgebunden und über die Straßenpflaster gezogen. Es fanden auch zahlreiche Exekutionen statt [...]" Quelle: Julian Siedlecki "Losy Polaków w ZSRR w latach 1939-1986", London, 1988, S. 32-34
- ↑
Wojciech Roszkowski "Najnowsza historia Polski 1914-1945", Warschau 2003, ISBN 83-7311-991-4, S. 410.
Władysław Pobóg-Malinowski "Najnowsza historia polityczna Polski. 1939-1945" Krakau 2004, ISBN 83-8971-110-9, Band 3, S. 107.
Witold Pronobis "Świat i Polska w XX wieku", Warschau 1996, ISBN 83-86802-11-1, Seite 196. - ↑ http://www.srodki-dydaktyczne.men.gov.pl/filmy/files/the_17th_of_september.pdf
- ↑ Zu einer Lügenmeldung der Nachrichtenagentur Havas. Prawda, 30. November 1939. Für deutsche Übersetzung siehe: Der Eisbecher. Klett-Cotta, Stuttgart 1989. Russischer Text
- ↑ „Es ist allgemein bewusst, hingegen, dass die britische und französische Regierung die deutschen Freiedensbemühungen abgelehnt haben, veröffentlicht von [Deutschland] bereits am Ende des letzten Jahres, welche seinerseits auf den Vorbereitungen den Krieg zu eskalieren basierte.“ Molotovs Bericht, 29. März 1940 http://www.histdoc.net/history/molotov.html
Literatur
- Jürgen Pagel: Polen und die Sowjetunion 1938-1939, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 34), ISBN 0170-3595.
- Janusz Piekalkiewicz: Polenfeldzug - Hitler und Stalin zerschlagen die Polnische Republik, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1997, ISBN 3-86047-907-5.
- Horst Rohde: Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 2: Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart: DVA 1979, ISBN 3421019355, S. 79–156.
- Wanda Krystyna Roman: Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941, in: Bernhard Chiari (Hrsg.): Die polnische Heimatarmee, R. Oldenbourg Verlag, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 57 Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes) ISBN 3-486-56715-2, S.87-110.
- Jan Tomasz Gross, Revolution from Abroad: The Soviet Conquest of Poland's Western Ukraine and Western Belorussia, Princeton University Press, 2002, ISBN 978-0-691-09603-2
- Michail Mel'tjuchow Советско-польские войны. Военно-политическое противостояние 1918—1939 гг. М., 2001.
- George Ginsburgs A Case Study in the Soviet Use of International Law: Eastern Poland in 1939 - The American Journal of International Law, Vol. 52, No. 1 (Jan., 1958), pp. 69-84