Handlungsorientierter Unterricht
Begriffsbestimmung
Handlungsorientierter Unterricht ist ein auf die Arbeitspädagogik der Reformpädagogik zurückgehender Begriff. Er hat allerdings schon Vorläuferkonzepte in Pestalozzis Formel von der Einheit von Kopf, Herz und Hand Selbsttätigkeitskonzepten des 19. Jahrhunderts wie bei Diesterweg oder Fröbel. In der Arbeitspädagogikdebatte zu Beginn der Weimarer Republik – insbesondere auf den Reichsschulkonferenzen – wurden sehr heterogene Konzepte vertreten wie die freie geistige Schularbeit bei Gaudig (1869-1923), der Ansatz schulisches Lernen in den gesellschaftlichen Produktionsprozess zu integrieren (Paul Östreich (1878-1959) oder die mehr auf handwerkliches Schaffen ausgerichtete Pädagogik Kerschensteiners (1854-1932). Zeitgleich entwickelten John Dewey (1859-1952) und William Heard Kilpatrick (1871-1965) den Ansatz des „learning by doing“, bei dem das handelnde Erkunden der die Schule umgebenden Wirklichkeit bedeutsam war. Aber auch andere Vertreter der Reformpädagogikepoche setzten sich von der Verbalschule ab und betonten die pädagogische Wirksamkeit von handelndem Lernen wie Freinet (1896-1966) oder Montessori (1870-1952). Auch heute gilt dieser Ansatz als produktives didaktisches Konzept. Handlungsorientierung basiert heute lerntheoretisch auf zwei grundlegenden Theorien, nämlich der auf die sowjetische Psychologie um Wygotski und Leontjew zurück gehende Tätigkeitstheorie oder den auf die kognitive Handlungstheorie von Piaget und Aebli zurück gehenden Ansätzen entwicklungspsychologischer Fundierung des Lernens. Vielfach verschwimmt der Begriff der Handlungsorientierung mit dem ganzheitlichen, entdeckenden oder offenen kindgemäßen Unterrichts. Deshalb sind Qualitätskriterien erforderlich, die Handlungsorientierung klarer definieren. Handlungsorientierung verzichtet auf das Prinzip der inhaltlichen Vollständigkeit eines Themenkanons. Er wählt aus nach dem Prinzip des exemplarischen Lernens. Dabei sucht er nach einer prozesshaften Gestaltung eines Problems; nicht die Einverleibung von Begriffen, sondern ihr Nach-Schaffen und das Neukombinieren von Gegebenheiten sind wesentlich: genetisches und entdeckendes Lernen werden angestrebt. Hilbert Meyer vertritt eine prozessuale Definition von Handlungsorientierung: "Handlungsorientierter Unterricht ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern vereinbarten Handlungsprodukte die Organisation des Unterrichtsprozesses leiten, so dass Kopf- und Handarbeit der Schüler in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden" (Meyer, 1988, S.214).
Prinzipien der Handlungsorientierung im Unterricht
Das Konzept der Handlungsorientierung ist eng mit den Konzepten Öffnung des Unterrichts, Ganzheitlichkeit, Lernerorientierung, Inhaltsorientierung, Lernerautonomie sowie Lern- bzw. Prozessorientierung verknüpft.
Öffnung des Unterrichts
Öffnung des Unterrichts kann auf zwei Ebenen stattfinden:
(a) Inhaltliche und institutionelle Öffnung
- Der Unterricht ermöglicht es den Schülern zumindest ansatzweise, auch ihre Schul- und Klassensituation als offene, nicht in allem institutionell festgelegte Lebenswelt zu sehen und neu zu erfahren.
(b) Curriculare und methodische Öffnung: Der Unterricht fördert Schülerinitiativen und Eigenverantwortlichkeit für die Wahl zielorientierter Aktivitäten und die Arbeits- und Zeiteinteilung (bis hin zur Aufstellung von Wochenplänen) sowie Zugriffsmöglichkeit auf authentische Materialien und andere, auch technologische, Ressourcen.
Ganzheitlichkeit
Bei einem ganzheitlichen Unterricht wirken kognitive und affektive Aspekte zusammen: Intellekt, Gefühl und Sinne ansprechende Erfahrungen, ein Wechsel von Anstrengung und Entspannung.
Lernerorientierung
Unter dem Prinzip der Lernerorientierung wird zum einen verstärkt gefragt, was Schülerinnen und Schüler zu welchen Zwecken lernen wollen bzw. sollen, zum anderen, welche Voraussetzungen sie entsprechend ihren Anlagen, ihrem Alter sowie ihren spezifischen Lebens- und Lernerfahrungen für bestimmte Lernprozesse mitbringen und welches ihre bevorzugten Lernweisen sind.
Inhaltsorientierung
Unter dem Prinzip der Inhaltsorientierung berücksichtigen Themenbereiche verstärkt die persönlichen Erfahrungen und Interessen der Jugendlichen und fordern sie zur emotionalen und kognitiven Auseinandersetzung heraus. Darüber hinaus orientieren sie sich in den höheren Klassen in immer stärkerem Maße an außer- und nachschulischen Bedarfsfeldern im privaten und beruflichen Bereich.
Angesichts der Gegebenheiten der Institution Schule wird Lehren zwar immer noch als notwendig angesehen. Man akzeptiert jedoch, dass es nicht mehr oder weniger automatisch zu entsprechendem Lernen führt, selbst wenn die Schüler gut mitarbeiten. So sieht die Didaktik heute in den Schülern keine teachees mehr, keine Objekte des Lehrens, denen Lerninhalte „vermittelt“ werden. Sie werden vielmehr als eigenaktive learners anerkannt, die das dargebotene Material sowie die Informationen des Lehrers für sich verarbeiten. Sie verstehen Inhalte auf der Grundlage ihrer individuellen Lerndispositionen (intellektuelle und affektive Faktoren) und Lernmodi sowie ihrer sozio-kulturell geprägten Wissensstrukturen: ihres Vorwissens und ihrer vorangegangenen Lebens- und Lernerfahrungen („Weltwissen“); in diesen Bestand integrieren sie neue Informationen sowie entsprechende Inhalte und „konstruieren“ so ihr Wissen (vgl. Konstruktivistische Didaktik). Dieses „Konstruieren“ hat also nichts mit der alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffs im Sinne einer bewusst zielgerichteten Aktivität zu tun. Diese Hinwendung von einem naiven „Instruktionismus“ zu einer „konstruktivistischen“ Position verändert auch die Funktion der Unterrichtenden: sie werden verstärkt als classroom managers und learning facilitators gesehen, die den Schülern Hilfen für ihre Wissenskonstruktion anbieten. Unterricht ist also keinesfalls überflüssig geworden. Allerdings wird seine Funktion jetzt anders gesehen. Auch wenn die Initiative zur Auseinandersetzung der Schüler mit Inhalten nach wie vor größtenteils von den Lehrern ausgeht und diese mannigfache Hilfestellungen anbieten: entscheidend für den Lernprozess sind die rezeptiven und produktiven bzw. interaktiven Tätigkeiten der Schüler selbst. Dabei sind gerade die rezeptiven Aktivitäten in den letzten Jahren erheblich aufgewertet worden.
Die wesentlichen Grundlagen dieses lern- und prozessorientierten Ansatzes lassen sich in sieben methodischen Prinzipien zusammenfassen:
- Förderung eines weitgehend selbstbestimmten Lernens (Lernerautonomie)
- Förderung der Entwicklung individueller Lernstrategien.
Handlungsorientierung in folgenden Methoden
Projektunterricht
- Hauptartikel Projektunterricht
Freiarbeit
Stationenlernen
Lernen durch Lehren
- Hauptartikel: Lernen durch Lehren
Seit dem Anfang der 80er Jahre hat sich die handlungsorientierte Methode Lernen durch Lehren (LdL) in allen Fächern und Schultypen (auch an der Hochschule) etabliert. Das Konzept wurde zunächst im Französischunterricht des Gymnasiums durch Jean-Pol Martin erprobt und verbreitet. In dem Handbuch zur Französischdidaktik von Nieweler (2006) wird LdL im Glossar als "radikale Form der Schüler- und Handlungsorientierung" definiert [1].
Literatur
Dörig, Roman: Handlungsorientierter Unterricht - Ansätze, Kritik und Neuorientierung aus bildungstheoretischer, curricularer und instruktionspsychologischer Perspektive. Stuttgart: WiKu-Verlag (2003). ISBN 3-936749-73-6.
Giest, Hartmut: Handlungsorientiertes Lernen. In: Pech, Detlef/ Kaiser, Astrid (Hg.): Neuere Konzeptionen und Zielsetzungen im Sachunterricht. Basiswissen Sachunterricht Band 2. Baltmannsweiler: Schneider 2004, S. 90-98
Gudjons, H.: Handlungsorientiert lehren und lernen. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn/Obb. 2001
Kaiser, Astrid: Praxisbuch handelnder Sachunterricht. Band 2. Baltmannsweiler 2004
Martin, Jean-Pol: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Gunter Narr. 1994 (ISBN 3-8233-4373-4)
Wöll, Gerhard: Handeln: Lernen durch Erfahrung. Grundlagen der Schulpädagogik. Band 23. Baltmannsweiler: Schneider Verlag 1998
Quellen
- ↑ Andreas Nieweler (Hrsg.)(2006): Fachdidaktik Französisch - Tradition|Innovation|Praxis. Stuttgart: Klett, 2006. S.318.
Siehe auch
- Fremdsprachenunterricht
- Lernen durch Lehren
- Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht
- Lernorientierter Fremdsprachenunterricht
- Konstruktivistische Didaktik