Sikhismus
Die Sikh-Religion (Panjabi, ਸਿੱਖੀ, Sikhī) ist eine im Panjab (Nord-Indien) entstandene Religion, die auf den Einsichten von Guru Nanak beruht. Die im 15. Jahrhundert begründete Lebensweise - im deutschen Sprachraum auch als Sikhismus bezeichnet - betont die Einheit der Schöpfung und distanziert sich dezidiert von sozialer Hierarchisierung entlang Religion, Herkunft und Geschlecht. Guru Nanak sowie seine neun nachfolgenden Gurus (religiöse Vorbilder) sahen sich zu keiner der damals dominierenden religiösen Gemeinschaften (Hindus, Muslime, Jainas, Yogis, Sants, Sadhus, etc.). zugehörig. In ihren Einsichten, die schriftlich in dem Werk Guru Granth Sahib festgehalten sind, betonen die Begründer das religionsübergreifende Verständnis von Sikhi. Die von den Gurus begründete Lebensweise orientiert sich dabei nicht an dogmatischen Regeln, sondern basiert auf die Nutzbarmachung von religiöser Weisheit im Alltag (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 1136, S. 1349).
Verbreitung

Sikhi hat derzeit über 20 Millionen Anhänger weltweit. Die Mehrheit der Sikhs (wörtlich "Schüler") lebt in der Ursprungsregion im indischen Bundesstaat Panjab sowie in Neu Delhi. In Großbritannien und Nordamerika leben insgesamt über eine Million Sikhs. In Deutschland haben sich etwa 10.000 Sikhs vor allem in Ballungszentren wie Frankfurt am Main, Köln, Hamburg und Stuttgart niedergelassen. Im Gegensatz zu Großbritannien und Nordamerika, wo der Sikhismus eine bekannte Religion ist, deren Vertreter zum Teil wichtige (staatliche) Ämter bekleiden, ist Sikhi in Mitteleuropa relativ wenig bekannt.
Männliche Sikhs sind traditionell an einem kunstvoll gebundenen Turban und ungeschnittenem Barthaar zu erkennen. Jedoch sind viele Sikhs dieser Tradition nicht verbunden. Die traditionelle Kopfbedeckung samt ungeschnittenem Haar drückt dem Selbstverständnis nach einen edlen Charakter sowie den Respekt vor der Schöpfung aus. Neben dem einheitlichen Erscheinungsbild durch den Turban tragen Sikhs auch gleichlautende Nachnamen. Als Ausdruck von Geschwisterlichkeit tragen Sikh-Männer den gemeinsamen Nachnamen Singh (Löwe), Frauen heißen mit Nachnamen Kaur (Prinzessin).
Der Guru Granth Sahib - Das spirituelle Vermächtnis der Begründer
Die Lebensweise der Sikhs ist tief verwurzelt in den schriftlichen Niederlegungen der Begründer. Die gesammelten Schriften der Gurus sowie Heiliger aus Nord-Indien wird "Guru Granth Sahib" genannt. Das Werk wird von Sikhs als "Guru" angesehen, da es das spirituelle Vermächtnis der Gurus darstellt. Das Werk, geschrieben in der von den Gurus entwickelten Schrift Gurmukhi, setzt sich aus ausführlichen Niederlegungen der ersten fünf Gurus, des neunten Gurus sowie Heiliger (bekannt als "Bhagats") verschiedenster sozialer Herkunft zusammen. Die Schriften wurden von Guru Arjan, dem fünften Guru, im Jahre 1604 in dem Werk Aad Granth zusammengetragen. Später ergänzte der zehnte Guru, Guru Gobind Singh, das Werk mit den Schriften des 9. Gurus. Das Werk ist seither als Guru Granth Sahib bekannt und ihm wird innerhalb der Sikh-Gemeinschaft die Autorität und Würde des Gurus zugesprochen. Außergewöhnlich an dieser Komposition, die auf musikalischen Melodiefolgen ("Rag") beruht, ist die Einbeziehung verschiedener Sprachen - unter anderem Panjabi, Hindi und Braj - sowie Verse diverser Bhagats; unter anderem von Kabir und Ravidas. Die Verwendung verschiedener Sprachen, Rags sowie Verse Heiliger unterschiedlichster Herkunft sollen den religionsübergreifenden Charakter der Sikhi betonen. Die bis heute erhaltene Originalschrift, die in der heutigen Standardausgabe 1430 Seiten umfasst, basiert auf einer sorgfältig ausgearbeiteten Systematik: einem ausgefeilten, speziell für die Schrift entwickelten grammatikalischen System. Die Inhalte sind geordnet nach Autoren, Themen und Melodiefolgen (vgl. u.a. Singh 1996).
Grundeinsichten der Sikhi
Die Einsichten der Gurus sind im Guru Granth Sahib als allgemeine spirituelle Weisheiten angelegt, die auf jede Lebenssituation übertragen werden können. Sie sind bewusst nicht als ein Regelwerk niedergelegt, sondern beruhen vornehmlich auf metaphorischer Poesie. Die Verinnerlichung göttlicher Tugenden (Nam) im Alltag steht dabei im Mittelpunkt der Texte (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 4). Mythologische Erzählungen, philosophische Erörterungen sowie Aussagen über das Jenseits sind Inhalte, die sich in den originären Einsichten der Gurus nicht wieder finden lassen. Aufgrund der poetischen Sprache sowie der Bezugnahme zu damals populären Glaubensvorstellungen sind die tieferen Bedeutungen vieler Verse des Guru Granth Sahib nicht einfach zu verstehen. Die Verweise zu hinduistischen Göttern, Vorstellung von Paradies und Hölle sowie Reinkarnation kommen in den Schriften durchgängig vor, werden aber in den zentralen Aussagen der Gurus relativiert (Rahau - Pausentechnik) bzw. erfahren eine Bedeutungsneuschreibung (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 96).
Ein Hauptthema der Gurus ist der Egoismus der Menschen. Laut den Gurus ist das Haupthindernis für inneren Frieden das Hängen am Selbst und an weltlichen Dingen (Maya). Innerer Frieden, auch Mukti (Erlösung) genannt, kann durch ein erwachtes Bewusstsein erreicht werden, welches das Gefühl des Getrenntseins von allem Existierendem als Illusion durchschaut. Erlösung bezieht sich bei den Gurus daher auf das Erleben der schöpferischen Einheit zu Lebzeiten eines Menschen. Um ein erwachtes Bewusstsein zu entwickeln, ist die Nutzung von Urweisheiten (Satgur), die dem Menschen potentiell innewohnen, essentiell (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 39, S. 94, S. 466). Ein Leben, das sich an diesen Weisheiten ausrichtet, zeichnet sich laut den Gurus durch eine ganzheitliche Lebensführung aus, die geprägt ist von fortwährender Verbundenheit mit der Schöpfung, innerer Zufriedenheit, Optimismus und Bemühen um menschlichen Fortschritt (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 6, S. 51, S. 106). Im Guru Granth Sahib wird diese Haltung auch mit dem Wort "Meditation" ausgedrückt (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 16).
Der Schöpfer, der laut den Gurus liebend, unendlich, unfassbar, feindlos, namenlos, geschlechtslos (daher auch die Verwendung "Mutter" für die "Schöpferin"; vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 103; Kaur 1993) und formlos ist, vereint drei wesentliche Naturen: Transzendenz, Immanenz und Omipräsenz. Da der Schöpfung das Göttliche innewohnt, gilt sie als durchgängig beseelt (Menschen, Tiere, Natur etc.). Das gesamte Universum wird daher als gleichermaßen heilig angesehen (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 1427). Der Wille der Schöpfung manifestiert gemäß dieser Einsichten in den Grundgesetzen der Natur (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 1). Die wiederholte Verwendung von scheinbar unvereinbaren Aussagen sollen die schwer zu durchschauende Natur der Schöpfung verdeutlichen (bsp.: „Hast tausend Augen und hat doch kein Einziges, hast tausend Gestalten und doch keine Einzige“, Guru Granth Sahib S. 13).
Rituale, Pilgerfahrten, die Wiederholung von Mantren oder des vermeintlichen Namen Gottes sowie die Ausübung von spezifischen Yoga- und Meditationstechniken werden für eine tiefgehende religiöse Haltung als unwichtig erachtet (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 9, S. 12, S. 491). Vielmehr wird ein soziales Leben in der Balance von ehrenhafter Arbeit, spiritueller Entwicklung und Wohltätigkeit als vorbildlich angesehen. Okkultismus, Asketentum, religiöses Spezialistentum (Priester etc.), das Mönchs- und Nonnentum sowie Mittler zwischen dem Menschen und dem Schöpfer werden abgelehnt, da jedem Menschen das Potential zugesprochen wird, das Göttliche direkt in sich selbst und im Alltag mit anderen zu erfahren.
Die folgenden Grundhaltungen machen laut den Einsichten der Gurus eine ganzheitliche Lebensführung aus:
- Vertrauen in die Einheit der Schöpfung
- Lebenslange geistige (Wissen) und spirituelle (Weisheit) Entwicklung
- Gotterfüllte Gedanken, Taten und Worte
- Gotteshingabe durch Dienst an Mitmenschen
- Aktives Bemühen zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten
- Offene Geisteshaltung
- Ablehnung sozial konstruierter Hierarchisierung (wie Rassismus, Ethnozentrismus oder Kastentum)
- Gleichberechtigung von Frau und Mann (gleiche Rechte und Pflichten)
- Sozial orientiertes Familienleben
- Ehrlicher Verdienst des Lebensunterhaltes (Ablehnung von Asketentum und Betteltum)
Gurdwara - Schulen der Weisheit
Sikhs erhalten religiösen Unterricht in einem Gurdwara (Schule der Weisheit). Der religiösen Unterrichtung in Gemeinschaft (Sangat) wird ein hoher Wert beigemessen. Jeder Mensch, ungeachtet seiner Herkunft und Religion ist eingeladen, der Gemeinschaft beizuwohnen. In einem Gurdwara wird ein Exemplar des Guru Granth Sahib aufbewahrt. Es finden Rezitationen - Kirtan - und Gebetserläuterungen statt. Kirtan in Begleitung von Instrumenten dient dabei dem intuitiven Zugang zu Spiritualität. Das Verständnis und die Verinnerlichung der Schrift stehen jedoch im Mittelpunkt (vgl. Guru Granth Sahib S. 465). Sikhi kennt der Idee nach keine Priester. Sikh-Frauen und Sikh-Männer dürfen gleichermaßen aus dem Guru Granth Sahib öffentlich rezitieren und Erklärungen anbringen. Jeder Gurdwara bietet nach dem Abschlussgebet (Ardas) freie Speisen (Langar) für alle Besucher an. Die ursprüngliche Idee dahinter ist, den Gemeinschaftsgedanken herauszustellen. Alle Besucher, ungeachtet ihrer religiösen oder sozialen Herkunft, teilen dieselben Speisen.
Geschichte
Quellen
Die Geschichte der Sikhs lässt sich im Detail zum Teil nur schwer rekonstruieren. Bedeutende historische Quellen gingen bei verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen verloren. Originalbilder der Gurus sind nicht erhalten. Die frühe Geschichte der Gurus basiert vornehmlich auf den Janam-Sakhian, Legendenerzählungen über das Leben der Gurus. Diese schriftlich enthaltenen Hagiographien wurden ausnahmslos viele Jahrzehnte (z.T. Jahrhunderte) nach dem Hinscheiden der Gurus geschrieben. Sie entsprechen der oralen indischen Erzähltradition, die auf Ausschmückungen und Wundererzählungen basiert. Die Erzählungen bergen zahlreiche interne Widersprüche und Inhalte, die konträr zu den Aussagen der Gurus selbst stehen. Wie zahlreiche Wissenschaftler betonen, ist für ein angemessenes historisches Verständnis eine wörtliche Interpretation dieser historischen Quellen irreführend (vgl. Singh 2006). Ein weiteres Problem besteht darin, dass Manuskripte im Nachhinein verändert worden sind (vgl. Singh 2003). Weitere historische Quellen entstammen muslimischen Hofschreibern und sind dementsprechend subjektiv gefärbt. Gleiches gilt für die Schriften britischer und deutscher Orientalisten und Missionare, die im Zuge der Kolonisation Indiens erste fremdsprachliche Werke mit ethnozentristischem Zugang über die Sikhs anfertigten (vgl. u.a. Shackle & Mandair 2005). Die Grundzüge der historischen Entwicklung der Sikhs lassen sich dennoch durch Quellenvergleiche zwischen verschiedenen historischen Dokumenten und den Originalschriften der Gurus sowie prominenter Zeitgenossen wie Bhai Gurdas (15. Jahrhundert) wie folgt rekonstruieren (vgl. u.a. Grewal 1999).
Die Zeit der Gurus
Der Begründer Guru Nanak Dev wird 1469 in Talwandi, im heutigen Nankana Sahib in Pakistan, geboren. Der junge Nanak befasst sich schon früh mit Grundfragen des Lebens. Bereits während seiner Schulzeit, wo er mit ausgezeichneten Leistungen auffällt, distanziert er sich öffentlich von bestehenden religiösen Traditionen (bsp. das brahmanische Ritual der "Heiligen Schnur"). Er hinterfragt vor allem die Sinnhaftigkeit von Ritualen, religiösen Dogmen und Praktiken, die soziale Hierarchisierung der Gesellschaft sowie die Autorität der dominierenden religiösen Autoritäten und Schriften (u.a. Veden, Purana, Koran). Guru Nanak, Familienvater und Geschäftsmann, begibt sich mit knapp Ende dreißig Jahren auf ausgedehnte Reisen, die ihn weit über die Grenzen des heutigen Indiens bringen. Er teilt seine Einsichten mit Menschen verschiedenster religiöser Herkunft und kann zahlreiche Menschen für seine Lebenshaltung gewinnen. Gegen Ende seiner Lebzeit gründet Guru Nanak die Stadt Kartarpur (im heutigen pakistanischen Teil des Panjabs) und bittet einen treuen Gefährten seine Vision fortzuführen. Guru Nanak folgen neun Gurus, die jeweils ihren spezifischen Beitrag zur Entwicklung des Sikhismus leisten.
Der Wirkungszeitraum der zehn Gurus im Überblick:
- Guru Nanak Dev, 1469 - 1539
- Guru Angad Dev, 1504 - 1552
- Guru Amar Das, 1479 - 1574
- Guru Ram Das, 1534 - 1581
- Guru Arjan Dev, 1563 - 1606
- Guru Har Gobind, 1595 - 1644
- Guru Har Rai, 1630 - 1661
- Guru Har Krishan, 1656 - 1664
- Guru Teg Bahadar, 1621 - 1675
- Guru Gobind Singh, 1666 – 1708
Die Sikhs entwickeln sich unter der Führung der Gurus zunehmend zu einer religiösen und später dann auch zu einer politischen Macht. Die Bewegung der Sikhs fällt unter anderem daher auf, weil sie bestehende religiöse Traditionen und Riten kritisch hinterfragt, das Kastenwesen ablehnt, Frauen eine gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft zuspricht und religionsübergreifende Unterweisung und Freiküchen anbietet. Ihre bis dahin weitestgehend ungestörte Entwicklung findet mit dem Tode des liberalen Moghulkaisers Akbar 1605 ein Ende. Sein muslimischer Nachfolger Jahangir (1569-1627) leitet eine Ära der Gewalt gegenüber Andersgläubigen ein. 1606 wird der fünfte Guru, Guru Arjan, auf Befehl von Jahangir zu Tode gefoltert, unter anderem deswegen, weil die Schriften der Sikhs vermeintlich blasphemische Inhalte beinhalten. Der nachfolgende Guru Har Gobind betont dementsprechend die Notwendigkeit, sich gegen religiöse und politische Intoleranz zur Wehr zu setzen. 1675 wird der neunte Guru von den Machthabern in Delhi hingerichtet. Guru Gobind Rai, der sich nach der von ihm initiierten Taufe Gobind Singh nennt, wird der zehnte und letzte Guru der Sikhs. Er ist, wie bereits der sechste Guru, in zahlreiche Verteidigungsschlachten gegen die Machthaber und lokale Bergfürsten involviert. Während seiner Guruschaft gehen zahlreiche wichtige Originalschriften verloren.
Guru Gobind Singh gründet laut verschiedenen historischen Quellen 1699 während der Einführung einer Taufzeremonie (Khande di pahul) die Bruderschaft Khalsa, die sich seinem Ideal nach für das Wohl der Menschheit einsetzen sowie aktiv gegen Tyrannei und religiöse Intoleranz vorgehen soll (vgl. u.a. Uberoi 1996). Die Mitglieder dieser Bruderschaft verpflichten sich ein einheitliches Erscheinungsbild durch das Tragen von fünf Kakars zu wahren. Historisch unklar bleibt, was sich genau bei der Taufzeremonie abspielte, da die vorliegenden Quellen sich deutlich widersprechen. Die fünf Kakars (auch fünf K’s genannt) des Khalsa sind aus den damaligen historischen Verhältnissen, die von regelmäßigen gewalttätige Übergriffen gegen die Sikhs und anderen religiösen Minderheiten geprägt war, heraus zu verstehen. Sie umfassen: Kesh (ungeschnittenes wohlgepflegtes Haar: Abgrenzung von asketischen Traditionen, Respektsbekundung für die Schöpfung), Kirpan (Schwert: ursprünglich zur Selbstverteidigung, Sinn für Selbstachtung, Gnade und Gerechtigkeit), Kangha (Holzkamm: zur Pflege der Haare), Kara (eiserner Armreif: ursprünglich zum Schutz gegen Schwerthiebe) und Kaccha (eine Art Boxershort).
Die Zeit nach den Gurus
Nach dem Hinscheiden des zehnten Gurus, der 1708 an den Folgen eines Attentates stirbt, verstärkten sich die Unruhen in Nord-Indien weiter. Die Gemeinschaft der Sikhs verliert zusehends ihre Dynamik und Geschlossenheit. Ahmad Shah Abdali fällt mehrere Male in Nord-Indien ein. Laut den verfügbaren historischen Quellen sterben viele zehntausend Sikhs in dieser Zeit, da sie systematisch verfolgt werden. Sie sind zum Teil gezwungen im Untergrund zu leben. Im Laufe der Jahre gewinnen die Sikhs allerdings wieder an Kraft. Ranjit Singh, einer Sikh-Familie entstammend, nutzte die Uneinigkeit der Herrscher von Lahore und stürmte die Stadt. Er wird 1799 Herrscher des Panjabs. Nach seinem Tod 1839 zerfällt das Reich rasch. 1849 wird der Panjab von den britischen Kolonisatoren annektiert. Im Jahre 1873 formen die Sikhs die Bewegung Singh Sabha. Diese hat zum Ziel, die Sikh-Gemeinschaft wieder mit den Lehren der Gurus vertraut zu machen und sich gegen die zunehmende Christianisierung und bereits fortgeschrittene Brahmanisierung der Sikhs zu formieren. Darüber hinaus strebt die Singh Sabha Bewegung an, wieder die Hoheit über die Gurdwaras zu erlangen, die sich seit den machtpolitischen Wirren mehrheitlich unter der Kontrolle von brahmanischen Priestern befinden. Die zivilgesellschaftliche Bewegung bemüht sich zudem, den Einfluss der britischen Kolonisatoren einzudämmen. Es werden zahlreiche Publikationen über die Lehren der Gurus sowie die Geschichte der Sikhs veröffentlicht und es bildeten sich erste religiöse sowie politische Gruppierungen (vgl. u.a. Historian 1935, Nabha 1930).
Die Sikhs nach der Unabhängigkeit Indiens
Am 15. August 1947 wird Indien unter der Führung der Briten unabhängig. Indien wird geteilt; der Staat Pakistan wird gegründet. Es entstehen ein pakistanischer und ein indischer Panjab. Millionen von Menschen, darunter viele Sikhs, müssen vom dem entstandenen pakistanischen Teil in den indischen Teil umsiedeln. Während der Unabhängigkeitsbestrebungen kommt es zu kommunalen Unruhen und Gräueltaten, bei dem viele tausende Menschen sterben. Nach der Unabhängigkeit entstehen zusehends politische Spannungen zwischen der hinduistisch geprägten Zentralregierung und Minderheiten. Unter der Premierministerin Indira Gandhi wird den Sikhs 1966 nach zahlreichen politischen Protesten die Panjabi-Suba, eine eigene Sprachprovinz, zugestanden. Die von Hindus dominierten Gebiete werden getrennt und in dem neu gegründeten Bundesstaat Haryana zusammengeschlossen. 1973 verabschieden Sikh-Führer die Anandpur Sahib Resolution. In dieser fordern sie die Einsetzung Chandigarhs zur alleinigen Hauptstadt des Panjabs, stärkere politische Autonomie, sowie eine Überarbeitung des Artikels 25 der indischen Verfassung, der die Sikhs entgegen ihres Selbstverständnisses unter die Zuschreibungskategorie Hindu subsummiert.
In den Jahren nach 1984 kommt es zu politischen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der indischen Regierung und Sikhs, die mehr Autonomie einfordern. Im Zuge dessen wird das heutige religiöse Zentrum der Sikhs, der Darbar Sahib (seit der Kolonisierung des Panjabs durch die Briten bekannt als "Goldener Tempel") in Amritsar von indischen Truppen gestürmt. Mehrere zehntausend Sikhs und über 700 Soldaten sterben. Am 31. Oktober 1984 wird die Premierministerin Indira Gandhi erschossen, wofür zwei Sikh-Leibgardisten verantwortlich gemacht werden. In Delhi und im Panjab finden daraufhin Pogrome statt, denen tausende Sikhs zum Opfer fallen (vgl. u.a. Mukhoti & Kothari 1984). Die Unabhängigkeitsbewegung der Sikhs wird in den Folgejahren mit militärischer Gewalt zerschlagen. Viele Sikhs verlassen ihre Heimat und siedeln sich im Westen an. Erst Anfang der Neunziger Jahre beruhigt sich die Lage im Panjab wieder. Menschenrechtsorganisationen beklagen allerdings bis heute Menschenrechtsverletzungen und Polizeiwillkür in Nord-Indien.
Wissensproduktion
Der Sikhismus wird oft verfälscht dargestellt, da viele Autoren (Sikhs sowie Nicht-Sikhs) sich hauptsächlich auf Sekundärliteratur oder unkritisch auf historisch zweifelhaften Quellen berufen. Aktuelle wissenschaftliche Arbeiten weisen darauf hin, dass die Reproduktion von bereits verfestigten Fehldarstellungen und Übersetzungen zu einer Wissensproduktion (auch in Online-Medien) geführt hat, die aus Sicht der originären Einsichten und Haltungen der Gurus kritisch zu bewerten ist (vgl. u.a. Singh 2006; Shackle & Mandair 2005; Nabha 1930). Nur wenige Bücher und Webseiten beruhen auf einem quellenkritischen Ansatz und den originären Inhalten der schriftlichen Niederlegungen der Gurus. Dies liegt nicht zuletzt an der Sprachbarriere. Die interne grammatikalische Struktur und die verwendeten Metaphern des Guru Granth Sahib sind ohne das entsprechende Hintergrundwissen nicht angemessen zu verstehen (vgl. u.a. Singh 1961). Eine Analyse von (online) Lexikabeiträgen, Publikationen und Übersetzungen zeigt, dass bereits verfälschte Auslegungen und ethnozentristische Erläuterungen sowie englische Übersetzungen des Guru Granth Sahib als Grundlage für Reproduktionsprozesse verwendet werden. Die Interpretationshoheit westlicher Wissenschaftler, Orientalisten sowie brahmanischer Gelehrter seit dem 19. Jahrhundert wird bei einer Studie der existierenden Werke evident (vgl. u.a. Singh 2006; Shackle & Mandair 2005; Macauliffe 1909).
Fehlinterpretationen
Im Folgenden ist eine Auswahl von verbreiteten Fehlinterpretationen zusammen gestellt:
Sikhi hätte ihre Wurzeln in der Bhakti-Bewegung, des Sufismus, des Sant Mat oder des Vishnuismus bzw. Guru Nanak und seine Nachfolger begründeten einen Synkretismus aus hinduistischen und islamischen Traditionen.
- Die Gurus sowie ihre Anhänger selber sahen sich zu keiner der damaligen religiösen Bewegungen zugehörig. Die Gurus sowie renommierte Zeitgenossen wie Bhai Gurdas betonen dies explizit in ihren Schriften (siehe auch das Kapitel "Auszüge aus dem Guru Granth Sahib"; vgl. Gurdas 15. Jahrhundert).
Sikhs seien Anhänger einer Kriegerkaste.
- Sikhi ist ein spiritueller Lebensweg und distanziert sich explizit von Gewaltanwendung aus aggressiven Motiven heraus, vom Kastentum sowie von brahmanischen Traditionen. Fakt ist, dass Sikhs im Verlaufe der Geschichte an zahlreichen Verteidigungsschlachten teilgenommen haben und das Recht auf Selbstverteidigung sowie ein Leben in Freiheit als menschliches Grundrecht ansehen (vgl. u.a Uberoi 1996).
Sikhi würde lehren, dass es 84 Millionen Lebensformen gibt, die im Laufe des Reinkarnationskreislaufs durchlaufen werden müssen.
- Der Guru Granth Sahib betont, dass die Schöpfung unermesslich und unergründbar ist. Aufgrund ihrer Unendlichkeit kann sie nicht in Zahlen quantifiziert werden. Die Gurus machen daher keine Aussage darüber, warum der Mensch geboren wurde, was genau der Ursprung des Daseins ist und was zukünftig werden wird. Die verwendete Zahl "84 Millionen" wird in Anlehnung an populäre mythologische Glaubensvorstellungen als Metapher für Unermesslichkeit verwendet. Auf den Reinkarnationskreislauf nach brahmanischem Verständnis wird auf vielfältige Weise Bezug genommen. In zentralen Aussagen der Gurus wird der Begriff Reinkarnation aber relativiert und erfährt zum Teil eine Bedeutungsneuschreibung (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 526).
Sikhi würde lehren, dass man für bestimmte Taten ("Sünden") von Gott bestraft wird.
- Laut den Gurus weilt der Schöpfer nicht außerhalb der Schöpfung, sondern ist Teil der Schöpfung selbst und liebt diese bedingungslos (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 784). Der Schöpfer kann seinem Wesen nach gar nicht strafen. Die Gurus betonen lediglich, dass jede Tat und jeder Gedanke (Karm) gemäß dem Naturgesetz von Ursache und Wirkung eine Konsequenz haben (vgl. u.a. Guru Granth Sahib S. 4).
Gebetsstätten der Sikhs würden Tempel heißen.
- Religiöse Stätten der Sikhs heißen heutzutage Gurdwara, ursprünglich hießen sie Dharamshala (vgl. u.a. Singh 2006).
Auszüge aus dem Guru Granth Sahib
- Ich faste nicht, noch begehe ich den Monat Ramadan. Ich diene nur dem Einen, der mich am Ende schützen wird. […] Er/Sie (der Schöpfer) erteilt Gerechtigkeit - an Hindus und an Muslimen (gemeint sind hier alle Menschen, es wird aber exemplarisch auf die größten religiösen Gemeinschaften des damaligen Nord-Indiens Bezug genommen). Pause. Ich mache keine Wallfahrt nach Mekka, noch bete ich in den heiligen Schreinen der Hindus. […] Ich vollziehe keine Anbetungsrituale der Hindus, noch rezitiere ich die Gebete der Muslime. Ich habe den einen formlosen Schöpfer in meinem Herzen aufgenommen, dort verehre ich ihn voller Demut. Weder bin ich ein Hindu noch ein Muslim. Mein Körper und mein Lebensatem gehören Allah, Ram, dem Schöpfer aller. (Guru Granth Sahib, S. 1136, Arjan)
- Von der Frau wird man geboren, in der Frau wächst man heran, mit einer Frau verlobt und vermählt man sich. Von der Frau erfahren wir Freundschaft; durch die Frau setzt sich der Gang der Welt fort. [...] Wie kann man sie da als minderwertig bezeichnen, wo sie doch Königen das Leben schenkt? Aus einer Frau entsteht eine Frau, niemand wäre ohne die Frau. Nanak sagt, ganz ohne Frau existiert nur der eine Schöpfer. (Guru Granth Sahib, S. 473, Nanak)
Literatur
- Grewal, J. S. 1994, The Sikhs of the Punjab. New Delhi: Cambridge University Press.
- Gurdas, Bhai 1998 (15. Jahrhundert), Varaan Bhai Gurdas Ji. Amritsar: Shiromani Gurdwara Parbhandak Committee.
- Historian, Karam Singh 1935 (ed.), A probe into Sikh History. Amritsar: Singh Brothers.
- Kaur, Nikky-Guninder 1993, The Feminine Principle in the Sikh Vision of the Transcendent. Cambridge: Cambridge University Press.
- Macauliffe, Max Arthur 1909, The Sikh Religion: Its Gurus, Sacred Writings and Authors (6. Vol.). Oxford: University Press.
- Mukhoti, Gobinda & Rabji Kothari 1984, Wer sind die Schuldigen? Bericht einer gemeinsamen Untersuchung der Ursachen und Wirkungen der Unruhen in Delhi vom 31. Oktober bis 10. November 1984. Delhi: P.U.D.R. & P.U.C.L.
- Nabha, Kahn Singh 1930, Mahan Kosh. Encyclopaedia of Sikh Literature. Patiala: Bhasha Vibhag.
- Shackle, Christopher & Arvind-pal Singh Mandair 2005 (eds.), Teachings of the Sikh Gurus. Selections from the Sikh Scriptures. Routledge: New York.
- Singh, Giani Gurdit 2003, Mudavni. Chandigarh: Sahit Parkashan.
- Singh, Inder 2006, Misrepresentations of Religion. Patiala: Fateh Publications.
- Uberoi, J.P.S. 1996, Religion, Civil Society and the State. A Study of Sikhism. Delhi: Oxford University Press.
- Singh, Sahib 1996, About Compilation of Sri Guru Granth Sahib. Amritsar: Lok Sahit Parkashan.
- Singh, Sahib 1961, Sri Guru Granth Sahib Darpan 1-10. Jalandar: Raj Publisher.
Webseiten
- www.sikh-religion.de Sikh-Forum | Informationsforum über den Guru Granth Sahib und Sikhismus