Nyingma
Die Nyingma-Tradition ist die älteste der vier großen Schulen des tibetischen Buddhismus. Die Anhänger dieser Schule werden als Nyingmapa und auch als "Rotmützen" bezeichnet. Die drei anderen großen Schulen sind die Kagyü-Tradition, die Sakya-Tradition und die Gelug-Tradition.
Geschichte
Im 8. Jahrhundert wurde der Buddhismus von Indien nach Tibet übertragen. Der tibetische König Trisong Detsen lud im Jahr 817 die indischen Meister Padmasambhava (tibetisch Guru Rinpoche) und Shantarakshita (tibetisch Shiwatso) nach Tibet ein, um dort den Buddhismus zu lehren. Guru Rinpoche betonte vor allem die tantrischen (esoterischen) Aspekte des Buddhismus, weshalb sich der Vajrayana-Buddhismus maßgeblich in Tibet durchsetzte.
Die Nyingma-Tradition wird auch als die Schule der "Alten Übersetzungen" bezeichnet und geht auf die erste Überlieferungswelle zurück, die mit Guru Rinpoches und Shantarakshitas Lehrtätigkeit begann. Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert war die Nyingma-Tradition die einzige buddhistische Schule in Tibet. Ab dem 11. Jahrhundert entwickelten sich dann die Schulen der "Neuen Übersetzungen" (tibetisch Sarma). Guru Rinpoche und Shantarakshita gründeten das erste buddhistische Kloster Samye, welches sich zum wichtigsten Lehrzentrum der damaligen Zeit entwickelte. König Trisong Detsen gab Guru Rinpoche und seinen Schülern, von denen die 25 Hauptschüler wegen ihrer hohen Verwirklichung berühmt wurden, den Auftrag, die buddhistischen Lehren aus dem Sanskrit ins Tibetische zu übersetzen. Dies bildete die Grundlage für die umfangreiche buddhistische Literatur Tibets.
Zu den 25 Hauptschülern Guru Rinpoches zählen: König Trisong Detsen, Namkhai Nyingpo, Sangye Yeshe, Gyalwa Chöyang, die Prinzessin von Karchen Khandro Yeshe Tsogyal, Palgyi Yeshe, Palgyi Senge, der grosse Übersetzer Vairocana, Nyak Jnanakumara, Gyalmo Yudra Nyingpo, Nanam Dorje Dudjom, Yeshe Yang, Sokpo Lhapal, Nanam Zhang Yeshe De, Palgyi Wangchuk, Denma Tsémang, Kawa Paltsek, Shüpu Paglyi Senge, Dré Gyalwe Lodrö, Drokben Khyenchung Lotsawa, Otren Palgyi Wangchuk, Ma Rinchen Chok, Lhalung Palgyi Dorje, Langdro Könchog Jungné und Lasum Gyalwa Changchup.
Die Hauptklöster der Nyingma-Schule in Tibet sind Samye ling, Mindroling, Dorje Drag, Palyul, Dzogchen, Shechen und Dodrubchen. Von diesen "grossen Sitzen" der Nyingma leiten eine grosse Zahl von Nyingma-Klöstern ihre Entstehung ab.
Termas und Tertöns
Eine Besonderheit der Nyingma-Tradition sind die "verborgenen Schätze". Guru Rinpoche und seine engsten Schüler und Schülerinnen versteckten hunderte von Texten, Ritualgegenständen und Reliquien an geheimen Orten, um die Lehren des Buddhismus vor der Zerstörung durch den, dem Buddhismus feindlich gesinnten, tibetischen König Langdarma zu bewahren. So entstanden in der Nyingma-Tradition zwei Arten der Übertragung: die so genannte "lange" Übertragungslinie vom Meister auf den Schüler in einer ununterbrochenen Linie, und die "kurze" Übertragungslinie der "verborgenen Schätze" (tibetisch Termas). Die aufgedeckten Termas wurden später von Meistern mit besonderen Fähigkeiten, so genannten "Schatzfindern" (tibetisch Tertöns), wiederentdeckt und an ihre Schüler überliefert. Diese Meister waren häufig Inkarnationen der 25 Hauptschüler von Guru Rinpoche. Somit entstand durch die Jahrhunderte ein vielschichtiges System von Übertragungslinien, die die Lehren der Nyingma-Schulen ständig mit "frischen" Lehren ergänzte, die jeweils ihrer Zeit angemessen waren und viele Schüler zur Verwirklichung/Erleuchtung führten. Bedeutende Tertöns waren unter anderem Nyangräl Nyima Öser (1124-1192), Guru Chöwang (1212-1270), Rigzin Gödem (1307-1408), Dorje Lingpa (1346-1405), Pema Lingpa (1450-1521]) und Jamyang Khyentse Wangpo (1820-1892).
Vereinzelt traten aber auch in den drei neuen Schulen Tertöns auf. Unter diesen Sarma-Tertöns waren der 3.Karmapa Rangjung Dorje (1284-1339), der 5.Dalai Lama Ngawang Lobzang Gyatso (1617-1682) und eben, der schon genannte bedeutende, ursprünglich aus der Sakya stammende Meister Jamyang Khyentse Wangpo (1820-1892). Im buddhistischen Kontext sind verborgene Schätze aber nicht etwas völlig Neuartiges. So wurden zum Beispiel die Prajnaparamita-Lehren von Nagajuna als Terma im Reich der Nagas entdeckt.
Gelehrte
In der Nyingma-Tradition gab es auch viele große Gelehrte. Der wohl Wichtigste unter ihnen ist Longchen Rabjam (1308-1363). Er verfasste viele Schriften und organisierte alle bis zu seiner Zeit aufgedeckten Termas in der Sammlung der "Hunderttausend Nyingmapa-Tantras". Seine bedeutendsten Werke sind die "Sieben Schätze" (Dzö dün), die drei "Zyklen der Entspannung" (Ngalso Korsum), die drei "Zyklen der natürlichen Befreiung" (Rangdröl Korsum) und die drei "Inneren Essenzen" (Yangtig Namsum). Longchen Rabjam systematisierte auch die Übertragung der Dzogchen-Lehren der Nyingma-Linie, die seitdem als "Longchen Nyingthik" (Herzessenz der Weiten Dimension) gelehrt werden.
Die Rime-Bewegung
Im 19. Jahrhundert entstand unter Tertön Jamyang Khyentse Wangpo und anderen die so genannte "Rime-Bewegung", die gruppenübergreifende Lehren aus allen Gegenden Tibets und von Meistern aller Traditionen sammelte. Diese Lehren wurden in größeren Sammlungen zusammengefasst. Die wichtigsten Sammlungen der Rime-Bewegung sind "Fünf Große Schätze" (Jamgön Kongtrul Lodrö Thayes) und "Schatz der wiederentdeckten Lehren" (Rinchen Terdzös).
Siehe auch: Hinayana, Theravada, Mahayana, Lamaismus, Buddhismus - Schulen und Systeme
Literatur
- Chagdud Tulku, Tore in die Freiheit, Theseus Verlag, Berlin 2000 ISBN 3-89620-154-9
- Guru Padmasambhava, Die Geheimlehre Tibets, Kösel Verlag, München 1998 ISBN 3-466-20439-9
- James Low, Aus dem Handgepäck eines tibetischen Yogi, Theseus Verl. Berlin 1996 ISBN 3-89620-089-5
- Padmasambhava, Die Legende vom großen Stupa, Dharma Publ., Münster 1993 ISBN 3-928758-04-7
- Sogyal Rinpoche, Dzogchen und Padmasambhava, Ratnakosha Verlag, Berlin 1990
- Tulku Thondup, Die verborgenen Schätze Tibets, Theseus Verl., München 1994, ISBN 3-85936-067-1